Roland Lippuner, Johannes Wirths und Pascal Goeke: Das Anthropozän - eine epistemische Herausforderung für die spätmoderne Sozialgeographie
1 Konstruktion und Kontrolle von Grenzen
Für unterscheidungsabhängige Beobachter sind Grenzziehungen essenziell. Sie sind zum Beispiel Bedingungen für die Möglichkeit des Denkens und Imaginierens und damit zugleich Bedingungen dafür, die beim Denken und Imaginieren entstehenden Objekte und die korrespondierenden Subjekte zueinander in Beziehung zu setzen oder solche Beziehungen wieder aufzulösen. So betrachtet wirken Grenzen nicht nur begrenzend, sondern auch als Grundlage für kognitive und emotionale Freiheiten. Grenzziehungen eröffnen Spielräume in denen Möglichkeiten erprobt und ergriffen werden können. All dies bedeutet, dass es bei Grenzziehungen um Konstruktionen geht, die kollektiv wie individuell Arbeit erfordern. Bedenkt man zudem, dass jede Grenzveränderung eine Umweltveränderung für andere bedeutet und diese vielen anderen ihrerseits auf Variationsmöglichkeiten und Freiheitsgrade achten, dann ist Grenzarbeit ein unendlicher und offener Prozess, bei dem es immer auch um Versuche der selektiven Passung zu anderen und um Kontrolle geht.
Angesichts dieser Zentralität von Grenzen verwundert es nicht, dass das Grenzthema seit jeher zum festen Kanon der Sozial- und Kulturwissenschaften gehört (vgl. für viele Barth 1969, Abbott 1995). Die dabei eingespielte Fokussierung auf die menschliche Sprache und das menschliche Denken wurde in den letzten Jahren allerdings verschiedentlich hinterfragt. Besonders die vielfältigen biologischen und technischen Verstrickungen des Menschen haben die Wissenschaften dazu veranlasst, Ausschau zu halten, welche „Agenten“ und „Beobachter“ bei den Grenzziehungen der Menschen noch mit von der Partie sind (vgl. z. B. Baecker 2013; Barad 2012; Latour 2007).
Jede Grenzziehung führt die Möglichkeit der Überschreitung mit und lädt (direkt oder indirekt) dazu ein, bisher wirksame Differenzen auszuloten oder zu verschieben. Das führt bei den Urhebern oder Verfechtern einer Unterscheidung nicht selten zu Irritationen. Wer den Grenzen eines etablierten diskursiven Systems mit differenten Grenzziehungen begegnet, wird deshalb häufig bestraft, manchmal ignoriert und nur gelegentlich belohnt. Damit ist zu rechnen und damit haben wir auch gerechnet, als wir in dem von uns herausgegebenen Sammelband „Konstruktion und Kontrolle: Zur Raumordnung sozialer Systeme“ (Goeke et al. 2015) drei diskursive Grenzen der sozialwissenschaftlichen Reflexionsgewohnheit verschiedentlich und bewusst überschritten respektive variierten.
Wir ließen uns erstens nicht von dem auch in der Humangeographie seit einiger Zeit vertrauten konstruktivistischen Theoriegehäuse einengen, in dem (Erd-)Räume oder Ausschnitte der materiellen (Um-)Welt nur als kognitive (geographische) Imaginationen oder sprachlich-diskursive Konstruktionen, das heißt als Raumsemantiken oder Raumabstraktionen, thematisierbar sind. Zwar gehen auch wir davon aus, dass einem wahrnehmenden und denkenden Selbst ‚Realität‘ nur als sprachlich-diskursive und/oder kognitive Konstruktion verfügbar ist. Doch in den aktuellen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Debatten finden wir gute Gründe dafür, im Denken und Forschen nicht bei dieser Festlegung stehen zu bleiben (vgl. z. B. Stengers 2008, Bryant et al. 2011). Insbesondere begegnen wir der Arbeitsbasis eines Konstruktivismus mit Skepsis, der die moderne Natur-Kultur-Unterscheidung als jederzeit gegebene Unterteilung der Welt voraussetzt. Diese Skepsis ist nicht sonderlich neu, sondern gehört in den Sozial- und Kulturwissenschaften schon seit einiger Zeit zum guten Ton des neueren Diskurses (siehe z. B. Latour 1995 oder Descola 2011). Entgegen der strikten Teilung der Welt in eine natürliche und eine kulturelle Sphäre ziehen wir es vor, offen mit dieser Unterscheidung zu arbeiten und dabei immer beide Seiten fragend im Blick zu behalten, um kulturalistische wie naturalistische Engführungen zu vermeiden. Das betrifft vor allem die (selbstgewählte) Beschränkung auf bestimmte Beobachter, insbesondere auf soziale Systeme und/oder das wahrnehmende und denkende Selbst, denen die Welt tatsächlich nur als soziale Konstruktion oder als geographische Imagination erscheinen kann. Mit dem kognitiven oder sozialen Konstruktivismus wurde zwar in die Geographie und andere Sozialwissenschaften die Erkenntnis der Beobachterabhängigkeit aller Unterscheidungen eingearbeitet. Durch die damit verbundene Zentrierung auf ein humanes Selbst oder auf soziale Systeme gerieten jedoch andere Beobachter – wie zum Beispiel Organismen, Maschinen oder Programme – sowie deren Beobachtungsmöglichkeiten und deren Beitrag zur Konstruktion der (humanen) Weltverhältnisse aus dem Blick.
Indem wir mit einem vielfach besiedelten Außen von Systemen rechnen, überschreiten wir zweitens auch eine arbeitspraktische und theoretische Grenze der soziologischen Systemtheorie nach Luhmann. Denn diese hat in ihrem sachlichen wie fachlichen Horizont nicht nur der biophysischen Umwelt der Gesellschaft, sondern jedem Außen vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt und stattdessen – klassisch spätmodern – die innere Dynamik von (sozialen) Systemen fokussiert. Soziale Systeme, so heißt es an einer vielzitierten Stelle bei Luhmann (1997, 76), seien „nicht im Raum begrenzt“, sondern hätten „eine völlig andere, nämlich rein interne Form von Grenze“, die „in jeder einzelnen Kommunikation produziert und reproduziert wird, indem die Kommunikation sich als Kommunikation im Netzwerk systemeigener Operationen bestimmt und dabei keinerlei physische, chemische, neurophysiologische Komponenten aufnimmt.“ Nach unserer Auffassung muss das weitere Nachdenken über die Raumordnung sozialer (und psychischer) Systeme nicht bei dieser Einsicht stehen bleiben und auch nicht bei dem empirisch sowie begrifflich nur wenig verdichteten Konzept der strukturellen Kopplung, das in der Theorie Luhmanns die Leerstelle der Umweltbeziehungen von Systemen besetzt (vgl. dazu ausführlicher Lippuner 2010). Vielmehr kann und sollte das weitere Nachdenken darauf abzielen, auch die Bedeutung des vielfältigen Außen für die Genese der Systeme angemessen zu beachten. Dazu muss über die selbstzentrierte, zeitlich variable Handhabung der Unterscheidung von Fremd- und Selbstreferenz hinausgegangen werden, weil sich diese Sicht auf ein räsonierendes internes Geschehen beschränkt und systemisch wirksamen Resonanzen wenig Beachtung schenkt. Die (Re-)Produktion eines Systems sollte stattdessen als ein Prozessieren ‚auf der Grenze‘ betrachtet werden, das heißt als ein an der Umwelt ausgerichtetes Geschehen, bei dem sich das System performativ auf ein unbekannt bleibendes Außen hin entwirft und somit sich selbst und seine (Um-)Welt gleichzeitig generiert. Eine solche (Neu-)Ausrichtung der Betrachtung würde den Fokus systemtheoretischen Arbeitens nicht nur erweitern, sondern auch verschieben. Sie könnte beim offenen Sachverhalt systemischer Irritation ansetzen und Resonanz als basalen operativen Selbstbezug verbuchen. Mit der Performanz (von Selbst und Welt) ließe sich schließlich auf das relationale, generierende Prozessieren dessen verweisen, was einem Beobachter als System erscheint.
Drittens überschreiten wir in der Konsequenz dieser ersten beiden Bewegungen eingespielte Disziplingrenzen, denn die infrage gestellte Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Umwelt trennt nach konventionellem (modernem) Verständnis nicht allein zwei Sinn- und Seinsregionen, sondern dient auch dazu, die Zuständigkeitsbereiche von Sozial- und Kulturwissenschaften auf der einen Seite und Naturwissenschaften auf der anderen zu bestimmen (vgl. Snow 1965). Zentrale Diskussionen oder Veränderungen der Gegenwart stellen diese bislang wirksame Grenzziehung zur Disposition: Globaler Wandel, Umbau der gesellschaftlichen Wissensordnung, Strukturwandel der Wissenschaft etc. Angesichts der damit verbundenen Herausforderungen werden die modernen Wissensformen und -ordnungen vielfach als nicht mehr angemessen eingestuft (vgl. Nowotny et al. 2001). Die bestehenden disziplinären und begrifflichen sowie epistemischen Arrangements der zeitgenössischen Wissenschaft geraten dadurch in Bewegung, sodass auch die ansonsten eher unauffällige, da ritualisierte und institutionell eingebettete, Grenzarbeit sichtbar wird (vgl. Gieryn 1999). Bei der Reorganisation der Wissenschaft der Moderne zeigt sich schon jetzt, dass sich die etablierten Grenzen immer mehr auflösen (vgl. Stichweh 2008). Das betrifft sowohl Grenzen innerhalb der Wissenschaft, also primär disziplinäre Sortierungen, wie sie unter dem Stichwort Interdisziplinarität verhandelt wurden, als auch solche gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt, was seit etwa zwei Jahrzehnten unter dem Stichwort Transdisziplinarität diskutiert und erprobt wird. Auch der reflexive Wechsel von disziplinierten Theorie- und Paradigmenprozessen zu offenen Wende- und Studien- bzw. Studies-Projekten zeugt von einer Auflösung herkömmlicher Disziplingrenzen und disziplinärer Zuständigkeiten (vgl. als Überblick Bachmann-Medick 2006; Moebius 2012). Angesichts dieser Entwicklungen erscheint es wenig sinnvoll, aus Prinzip an den fraglich gewordenen (und ohnehin nie eindeutigen oder fixen) organisatorischen Einteilungen des Wissens festzuhalten. Vielversprechender dürfte es wohl sein, die disziplinären Unterscheidungen empirisch wie theoretisch zu befragen und sie sowohl in inter- wie transdisziplinärer Hinsicht experimentell zu variieren (zu einem solchen Experimentalismus vgl. Bogusz 2013).
2 Die Grenzen der spätmodernen Sozialgeographie
Mit den skizzierten Grenzüberschreitungen betreten wir weder thematisch noch konzeptionell völliges Neuland. Dass sie trotzdem nicht zum vertrauten Untergrund geographischen Denkens gehören, zeigt sich in Helmut Klüters (2014) Rezension zu unserem Sammelband (Goeke et al. 2015), in der unsere Grenzarbeit in Bausch und Bogen verworfen wird. Wie schon in früheren Stellungnahmen zu anderen intellektuellen Bewegungen in der Geographie (siehe z. B. Klüter 2005; 2011) vertritt Klüter dabei die Position einer spätmodernen Sozialgeographie, die in den 1980er- und 1990er-Jahren entwickelt wurde und bis heute das sozialwissenschaftliche Normalverständnis humangeographischer Theorie- und Forschungsarbeit prägt. Auf der Basis einer intensiven Auseinandersetzung mit verschiedenen sozial- und gesellschaftstheoretischen Ansätzen begegnete diese spätmoderne Sozialgeographie dem latenten Naturalismus der modernen Geographie, wie er auch in den pragmatischen Versuchen ihrer quantitativen Phase noch zu beobachten war. Für die deutschsprachige Geographie ist hier die Konzeption einer handlungstheoretisch fundierten Sozialgeographie durch Werlen wegweisend (1988; 1995; 1997). Aber auch die Arbeiten von Klüter haben zur sozialwissenschaftlichen Ausrichtung der Humangeographie beigetragen. Prominent zu nennen ist Klüters Dissertation (1986), in der er Luhmanns Theorie sozialer Systeme im geographischen Problemhorizont rezipiert.1
Mit den damals erarbeiteten sozial- und gesellschaftstheoretischen Grundlagen schloss die Sozialgeographie Mitte der 1980er-Jahre an den Stand der von der Soziologie geprägten sozialwissenschaftlichen Theoriediskussion an (Eisel 1980). Dabei gelang es der Sozialgeographie unter anderem, das disziplinäre Beobachterproblem zu bearbeiten, also die Frage nach den diversen gesellschaftlichen Raumproduzenten und -produktionen einer variablen Bearbeitung zuzuführen und dabei zugleich die eigenen wissenschaftlichen Raumproduktionen einzubeziehen. Der politisch sensible, diskursorientierte geographische Mainstream der Gegenwart verdankt sich wesentlich diesen Vorarbeiten. Ein Beharren auf der Position und den Arbeitsfeldern dieser spätmodernen Sozialgeographie lässt in der Gegenwart aber offenbar wenig Spielraum für eine neuerliche Auseinandersetzung mit den dabei erarbeiteten Grundlagen. Konzeptuelle Bewegungen, wie sie nicht nur in unserem Band, sondern seit einigen Jahren vielerorts in den Sozial- und Kulturwissenschaften unter den Stichworten Postkonstruktivismus (vgl. Kneer 2010) oder Posthumanismus (vgl. Braidotti 2014) unternommen werden, erscheinen stattdessen als ungebührliche Grenzüberschreitungen beziehungsweise als Rückfall in (ein für allemal) überwundene Positionen.
Wenn in den Beiträgen unseres Bandes (Goeke et al. 2015) der konstruktivistische Gemeinplatz hinterfragt wird, demzufolge Raum nur als innergesellschaftliche Konstruktion von Raumvorstellungen, Raumsemantiken oder Raumabstraktionen, das heißt – in der Terminologie von Klüter (1986) – als „Element sozialer Kommunikation“ relevant werden könne, wittert Klüter (2014, 88, 90) „altgeographisches Räumeln“ oder sieht einen „ontologischen Raumbegriff“ am Werk. Wenn das Verständnis von Systemtheorie erweitert wird, Luhmanns Prämissen unorthodox ausgelegt oder Bezüge zu anderen Theorien hergestellt werden, erklärt Klüter umgehend, dass dies mit den Vorgaben von Luhmann nicht vereinbar sei und/oder mit Systemtheorie nichts zu tun habe (2014, 95, 100 und öfter). Er scheint dabei allerdings zu vergessen, dass jede Theorierezeption oder -adaption notwendig selektiv verfährt und dass dies für die sachliche Einpassung sowie die konzeptuelle Fortentwicklung einer Theorie unvermeidlich ist. Wenn die Beiträge theoretische und thematische Bezüge herstellen, die den Zuständigkeitsbereich der Sozialwissenschaften überschreiten, moniert Klüter (zumindest implizit) Disziplinlosigkeit und/oder eklektizistisches Zusammenführen von Ansätzen und Theorien, die seiner Ansicht nach nur rein genossen werden dürfen. Auch hier scheint er nicht wissen zu wollen, dass Theorien notorisch Reisende sind (Said 1997), ein gewisser Eklektizismus dabei die Regel ist und keineswegs unproduktiv oder unangemessen sein muss (Adloff/Büttner 2013).
Klüter trägt diese und andere Einwände nicht allein forsch vor. Er arbeitet überdies mit Unterstellungen und zeigt ausgeprägte Ressentiments gegen eine neuerliche Diskussion über sozialtheoretische Grundlagen. Interessant und bemerkenswert ist, dass er seine Ablehnung mit den theoretischen Positionen einer Sozialgeographie absichert, die sich einst als kritisch-reflexive Position in der Spätphase der modernen Geographie gebildet und sich die Überwindung des latenten Naturalismus der modernen Geographie zur Hauptaufgabe gemacht hatte. In der breit geführten Diskussion über Globalisierung fand die spätmoderne Sozialgeographie für diese Theorieaufgabe eine empirische Bestätigung. Das Standardargument der Globalisierungsdebatte, die auch unter dem Stichwort Glokalismus geführt wurde (vgl. etwa Berking 2006), besagt, verkürzt dargestellt, dass (natur-)räumliche Bedingungen, Orte und räumliche Grenzen empirisch in den Hintergrund treten, der Raum als Distanzüberwindungshindernis seine Erklärungskraft (im Hinblick auf soziale Beziehungen) mithin verliere. Hierfür verantwortlich seien die zunehmende Verfügbarkeit von (elektronischen) Verbreitungsmedien der Kommunikation und immer schnellere Transportmöglichkeiten. Kommunikative Verortungen und symbolische Ortsbezüge würden durch immer größere „Raum-Zeit-Spannen“ (Giddens 1995) jedoch nicht obsolet. Im Gegenteil, sie träten in Kommunikations- und Handlungszusammenhängen als soziale Raumkonstruktionen (Raumsemantiken oder Raumabstraktionen) erst recht in den Vordergrund und bescherten einer sozialwissenschaftlichen Geographie damit ein breites Arbeitsfeld mit politisch relevanten Aufgaben (Werlen 2000, 9ff.). Diese Argumentation beherrschte den Raum-Diskurs in den verschiedensten Feldern und findet sich mit unterschiedlichen Nuancen bei Giddens (1995), Bauman (2001, 110) und in vielen weiteren Schriften dieser Zeit.
Die Devise der globalisierungstheoretisch informierten Sozialgeographie lautet entsprechend, dass man es in einer sozialwissenschaftlichen Geographie nicht mit einer vorgegebenen (natürlichen) Raumordnung zu tun habe, sondern mit etwas gesellschaftlich Gemachtem und damit Veränderbarem, das einen politisch sorgsamen Umgang erfordert. Der dabei gleichwohl vorausgesetzt äußere (Erd-)Raum – die materielle Umwelt der Gesellschaft – gerät mit diesem Verfahren jedoch ebenso aus dem Blick wie die Körper der Akteure. Beide fallen tendenziell der konstruktivistischen Selbstbeschränkung einer Perspektive zum Opfer, die sich aus guten Gründen darauf kapriziert, innergesellschaftliche Prozesse zu analysieren – schließlich bekommt sie dabei auch (mehr als) genug zu sehen: Insbesondere die durch die Globalisierung provozierte „Explosion der Anschlußmöglichkeiten“ (Luhmann 1997, 266) eröffnet die Möglichkeit, Raumbezüge des Handelns und der Kommunikation jederzeit aufzulösen und neu zu kombinieren. Diese Voraussetzung bietet reichlich Stoff für eine kritische (re- oder dekonstruktive) Begleitung alltagsweltlicher Raumbildungsprozesse durch eine sozialwissenschaftliche Humangeographie. Im fachlichen Diskurs der letzten Jahrzehnte zeugt eine Vielzahl von Arbeiten von der Produktivität dieser Konstellation. Insgesamt verweilte die spätmoderne Sozialgeographie damit aber im Zeichenhaften oder Diskursiven und ließ die nicht operational an Kommunikation anschließenden Prozesse als nicht-sinnhafte (Rand)Bedingungen im Geviert des Seins ruhen (Fuchs 2000, 39). Es galt, dass man zu schweigen habe, wovon man nicht sprechen könne – es sei denn man wolle zum Schamanen werden, „der einen Ausflug ins Jenseits der Gesellschaft (und des Bewußtseins) unternimmt und der uns nach seiner Rückkehr erzählt, er sei dort dem Raum begegnet“ (Hard 2002 [1999], 286). Mit dieser Position ist für Klüter (2014) offensichtlich ein erkenntnistheoretischer, konzeptioneller (sachtheoretischer) und disziplinärer Endpunkt erreicht, der keine Weiterentwicklung zulässt und keine Abweichungen duldet.
3 Abschied von der Spätmoderne und die Ontologie des Anthropozäns
Ganz offensichtlich, das zeigen die bisherigen Ausführungen, ist die sozial- und raumtheoretische Position der spätmodernen Sozialgeographie, von der aus die Grenzüberschreitungen in unserem Buch (Goeke et al. 2015) sanktioniert werden, auf die „Ontologie der Spätmoderne“ abgestimmt (vgl. Werlen 1995). Dabei meint Ontologie weniger die Seinsweise der Dinge und das Sein als solches, sondern bezeichnet die „sozialen Existenzbedingungen der Menschen im Rahmen unterschiedlicher Gesellschaftsformen“ (Werlen 1995, 23). Ontologie steht hier folglich für die leitenden Weltverhältnisse und schließt deren Bestimmung durch perspektivische Beschreibung unter bestimmten Problemgesichtspunkten, das heißt mithilfe spezifischer Weltbeobachtungsformeln ein. Für die Erfassung und performative Verstärkung der spätmodernen Weltverhältnisse kann die Weltbeobachtungsformel der Globalisierung in diesem Sinn als zentral betrachtet werden. Aber sofort drängt sich die Frage auf, ob diese Formel noch passend ist und damit stellt sich auch die Frage, ob unser Buch im Rahmen diese Weltbeobachtungsformel überhaupt sinnvoll bewertet werden kann.
3.1 Die Weltbeobachtungsformel Anthropozän
Wenn wir unter dem Stichwort des Anthropozäns die Spur einer veränderten Ontologie verfolgen, dann geht es zentral um die Frage, ob die spätmoderne Weltbeobachtungsformel Globalisierung noch zeitgemäß ist oder ob nicht andere Weltkonstruktionen und Problemwahrnehmungen an Bedeutung gewonnen haben. Genau an dieser Stelle drängt sich insbesondere die Rede von einem neuen Erdzeitalter als eine starke Alternative auf. Man kann in ihr eine „sinngeschichtliche Umwendungsbewegung“ (Hörl 2013, 124) erkennen, die sich vor allem in der Referenz auf den Planeten manifestiert (vgl. Steffen et al. 2015; Brenner/Schmid 2011; Merrifield 2013; Bergermann et al. 2010; Rockström et al. 2009; Tietenberg/Weddigen 2009).
Die Qualifizierung als Umwendungsbewegung ist erstens zu rechtfertigen, weil in der Idee des Planetarischen eine Vorstellung von begrenzten Ressourcen enthalten, die die Irreversibilität von Veränderungen und die bedingte Regenerationsfähigkeit des „Systems Erde“ in Erinnerung ruft. Dabei geht es nicht bloß um eine ressourcenökonomische Problematik, wie sie in der Diskussion über Nachhaltigkeit und die Grenzen des Wachstums schon seit über hundert Jahren präsent ist, sondern um die grundlegende Feststellung von Endlichkeit als einem Merkmal für den Einzelnen und das Kollektiv – „Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang“ (Crutzen et al. 2011). Endlichkeit meint dabei weniger ein zeitliches Ende im Sinne etwa des „Posthistoire“ (Niethammer 1989), sondern ist vor allem als eine räumliche Begrenzung zu verstehen – als eine konstitutive Einschränkung der menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten. Der Verweis auf die planetarische Dimension des Daseins stellt diese Begrenzung in einen scharfen Gegensatz zur Unendlichkeit des Universums und verhindert mit ihrer betonten Aktualität eine entwicklungsgeschichtliche Deutung mit der Aussicht auf eine zukünftige Lösung gesellschaftlicher Probleme (Teleologie). Die diachrone Perspektive der Globalisierung wird durch einen synchronen Blick verdrängt, der die dort formulierte räumliche und zeitliche Erweiterung der gesellschaftlichen Beziehungen als Zustand anerkennt, Entwicklung als eine Frage der Koevolution von Systemen betrachtet und sie daher in erster Linie als „Raumproblem“ begreift.2 Raum rekurriert dabei nicht nur auf Ausdehnung, sondern vor allem auf Nachbarschaft: auf ein für die Systeme konstitutives Außen und damit letztlich auf deren Grenzarbeit, die resonant auf Einschränkungen beruht und performativ auf Freiheitsgrade abhebt.
Von einer Umwendungsbewegung ist zweitens zu reden, weil mit der Einführung der planetarischen Perspektive des Anthropozäns die Einsicht in konstitutive Verflechtungen zwischen Gesellschaft und Umwelt einhergeht. Der ursprünglich von Paul J. Crutzen und Eugene F. Stoermer (2000) ins Spiel gebrachte Begriff betont die Bedeutung menschlichen Handelns für die Entwicklung der globalen Umwelt und hebt die geologische Dimension des Einflusses der menschlichen Gesellschaft hervor. Damit ist auch die Vorstellung verbunden, dass die Beeinflussung der Umwelt durch gesellschaftliche Prozesse planetarisches Ausmaß angenommen hat und es keine Ökosysteme mehr gibt, die nicht diesem Einfluss unterliegen. Menschheits- und Erdgeschichte verschmelzen im Anthropozän miteinander und der Mensch rückt, als Konsequenz davon, in den Blickpunkt der Geowissenschaften. Das Anthropozän markiert deshalb einen „erkenntnistheoretischen Bruch“ (Bachelard 1978) in den Geowissenschaften (siehe z. B. Hulme/Mahony 2010 oder Lövbrand et al. 2015 und vgl. Egner/von Elverfeldt 2009).
Aber auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften stehen vermeintlich gewisse Einsichten zur Disposition. Denn während ‚der Mensch‘ im Anthropozän ins geowissenschaftliche Aufmerksamkeitsspektrum rückt, kommt es aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Sicht zu einer weiteren Dezentrierung des Menschen. Als prägender Faktor der erdgeschichtlichen Entwicklung wird die Gesellschaft implizit mit anderen, nicht-menschlichen Geofaktoren auf eine Stufe gestellt und mit diesen in eine Beziehung gesetzt. Folglich gibt es im Anthropozän auch keine gesellschaftliche Wirklichkeit, die nicht auf direkte oder indirekte Weise mit der physischen Umwelt verflochten und durch entsprechende Abhängigkeiten gekennzeichnet wäre. Die weit reichende Abhängigkeit der gesellschaftlichen (Re-)Produktion von fossilen Energieträgern Kohle und Erdöl ist nur ein Ausdruck dieser planetarischen Verflechtungen, die bei der sozialwissenschaftlichen Reflexion der Weltverhältnisse (und entsprechenden Selbstbeschreibungen) in den Blickpunkt rücken. Die menschliche Gesellschaft kann unter den Voraussetzungen des Anthropozäns mithin keine prinzipiell eigenständige Sphäre mehr beanspruchen, in der sie von der Umwelt unbeeindruckt ihre Selbstreproduktion vollzieht. Wo und wie die Grenzen des Menschlichen und damit der Kultur und der Gesellschaft gezogen werden, ist über sprachliche und nicht-sprachliche Verfahren neu auszuhandeln – genau darum dreht sich der posthumanistische Diskurs (Herbrechter 2009).
Der dritte Grund, der die Rede von einer Umwendungsbewegung rechtfertigt, liegt in den sich vollziehenden Neustrukturierungen des Wissens im Anthropozän. Insbesondere die Vor- und Feststellung, dass Umwelt und Gesellschaft stets miteinander verflochten sind, hat gravierende Auswirkungen sowohl auf das Verständnis von Natur als auch von Gesellschaft. Die naturwissenschaftliche Ökologie muss sich darauf einstellen, ohne Natur „mit großem N“ auszukommen (Morton 2007), das heißt ohne die unhinterfragte Voraussetzung einer eigenständigen und unberührten Region des Seins, deren Merkmal die Indifferenz gegenüber Differenz ist. Gleichzeitig müssen sich die Sozial- und Kulturwissenschaften darauf einstellen, dass Entitäten, die sie traditionell der Zuständigkeit der Natur- und Technikwissenschaften zurechnen, ihren Gegenstandbereich bevölkern und mit ihren Eigendynamiken auch in den Bereichen des Psychischen und des Sozialen wirken oder irritieren. Damit wird weder festgelegt, in welcher Form nicht-menschliche Aktanten zur Reproduktion des Sozialen beitragen, noch wird behauptet, dass sie in gleicher Weise als Akteure tätig werden wie menschliche Subjekte, deren Status spätmodern ja auch nicht unhinterfragt geblieben ist. Es wird jedoch die Frage aufgeworfen, inwieweit sie eigene Beobachtungen beisteuern und damit andere Beobachtungsmöglichkeiten eröffnen, an die menschliche Kommunikation (mithilfe geeigneter Technologien) unter Umständen anschließen kann. Wie es zu einem solchen Anschluss an Beiträge von nicht-menschlichen Organismen kommen kann, deutet sich in der Entstehung eines „Internets der Tiere“ an (vgl. Pschera 2014). Ganz ähnliche Fragen stellen sich, wenn man bedenkt, inwieweit vernetzte Computer an der Kommunikation teilzunehmen beginnen (vgl. Baecker 2007a). Deutlich wird dabei allerdings auch, dass der posthumanistische Diskurs keine Verabschiedung des Menschen bezweckt, sondern eine neuerliche Befragung des Menschen als vermeintlich kompaktes Wesen und als Alleinvertreter von Kultur.
Auch wenn man die Ablösung der spätmodernen Weltverhältnisse durch eine Ontologie des Anthropozäns nicht vollumfänglich konzedieren möchte, wirkt es doch einigermaßen weltfremd, disziplinäre Zuständigkeiten unter gegenwärtigen Bedingungen weiterhin entlang der modern gezogenen Gegenstandsgrenzen festzulegen – wie Klüter (2014) das tut. Dinge, Organismen und technische Artefakte treten in sozial- und kulturwissenschaftlichen Betrachtungen ebenso in Erscheinung, wie Produkte und Bedingungen menschlicher Tätigkeiten für naturwissenschaftliche Forschungen relevant werden. Dies ist keine Absage an die Bedeutung von disziplinären Problemstellungen (vgl. Goeke/Moser 2011), wohl aber ein Hinweis darauf, dass deren Gegenstände nicht mehr ohne Weiteres durch die Zurechnung zu etablierten disziplinären Zuständigkeitsbereichen definiert werden können. Dies gilt auch für die Themen und Problemstellungen der soziologischen Systemtheorie. Ein beharrliches Insistieren auf bestehenden Perspektivierungen scheint sachlich unangemessen und beschneidet das Potenzial dieser auf Universalität angelegten Theorie unnötig (vgl. Luhmann 1978; Jahraus 2012).
3.2 Technisierung der Weltverhältnisse
Zur Veränderung der Weltverhältnisse im Anthropozän gehören an vorderster Stelle die Folgen einer fortschreitenden Technisierung. Die zentrale Stellung dieser Prozesse beruht nicht allein darauf, dass wir gegenwärtig einen vor allem durch digitale Technologien ausgelösten Technisierungsschub erfahren und betreiben. Entscheidend ist auch der transformatorische Charakter, der sich aus der Eigenschaft von Technik als „Grenzstruktur“ an der Schnittstelle zwischen der Gesellschaft und dem „organisch-physischen Milieu“ ergibt (Parsons 1975, 30). Technik nimmt hier eine Doppelfunktion ein. Zum einen erlaubt Technik eine „Kopplung völlig heterogener Elemente“ (Luhmann 1997, 526) und verbindet dadurch „die physikalischen Gegebenheiten mit der Gesellschaft“ (ebd., 533) – das zeigt sich insbesondere an der Maschinentechnologie des 19. und 20. Jahrhunderts. Zum anderen wird dadurch auch die Eigendynamik der Gesellschaft von Technik abhängig, ohne dass die Folgen dieser Abhängigkeit abzusehen wären oder umfassende Techniken zur Bearbeitung von Technikfolgen gegenwärtig zu Verfügung stünden.
Serge Moscovici (1982, 86ff.) macht den transformatorischen Charakter der Technisierung im historischen Rückblick deutlich: Die Technik der Gegenwart, so argumentiert der Medienwissenschaftler Erich Hörl (2011, 22ff.) unter Verweis auf Moscovici, habe den Abschied von einem Technikverständnis gebracht, das das Werkzeug zentral stellte und auf den instrumentellen Charakter von Technik achtete. Im Unterschied zu den vergangenen organischen und mechanischen „Techniknaturen“ gehe es in der gegenwärtigen Phase der Technik – in der „kybernetischen Natur“ – um transinstrumentelle Steuerungsleistungen auf der Basis von Informations- und Kommunikationstechnologien. Die Formung von Objekten als Kernaktivität menschlicher und nicht-menschlicher Akteure, so heißt es bei Hörl weiter, trete dabei zurück. Objekte seien nun als systemische, aktive, intelligente und kommunizierende Objekte zu begreifen. Ein einschlägiges empirisches Beispiel für diese Veränderungen (in planetarischem Maßstab) ist das sogenannte Geoengineering. Dieser Begriff taucht vermutlich 1977 zum ersten Mal auf (Marchetti 1977) und beschreibt technische Vorhaben, die geophysische Veränderungen im Sinne einer gesellschaftlichen Vorstellung herbeiführen sollen (siehe z. B. Yusoff 2013). Reproduktions- und Transplantationstechnologien wiederum sind einschlägige Beispiele für eine Veränderung der Objektverhältnisse durch die technische Verflechtung von Gesellschaft und Umwelt auf der Ebene einzelner Organismen.
Der Verweis auf die kybernetische Technisierung relativiert Argumente, die die objekttechnische Besonderheit des Globalen Wandels in der sozio-materiellen Hybridität der Phänomene sieht – das heißt einer Perspektive, wie sie zum Beispiel Latour (1995) anhand des Ozonlochs expliziert. Unter dem Gesichtspunkt einer kybernetischen Technisierung geht es vielmehr um Hyperobjekte im Sinne Mortons (2013), das heißt um Objekte, die sachlich, sozial, zeitlich und räumlich „radikal [...] distribuiert“ (Hörl 2013, 122) sind, folglich keinen diskreten Ort einnehmen und als Ereignis nicht mit der Aktualität eines Jetzt zusammenfallen, sondern vielfältige Vor- und Rückbezüge aufweisen. Es handelt sich um Gegenstandskomplexe aus heterogenen Elementen und Ereignissen, die nur in der artifiziellen Aggregierung einer durch Technik (Satelliten, Messgeräte, Mobilfunk, Statistik etc.) vermittelten „Gesamtschau“ als Einheiten erkennbar werden. Zerstreuung und Dezentrierung erfassen im Anthropozän also nicht allein die Subjekte und die Kollektive, sondern auch die Objekte (ebd., 124).
Anders als man in Anbetracht der (spätmodernen) Vorstellung von ubiquitären Informationssystemen, die zum Beispiel Nachrichten ‚in Echtzeit‘ global verfügbar machen, meinen könnte, impliziert Technisierung im Anthropozän keineswegs Unmittelbarkeit. Im Gegenteil, mit Blick auf Objektkonstellationen, Sozialbeziehungen und das Selbstverständnis von Subjekten hat man es mit einer „absoluten Priorisierung von Vermittlung“ (ebd.) zu tun. Diese Vermittlung wird unter dem Stichwort der Mediatisierung oft nur unzureichend erfasst, geht es doch nicht allein darum, dass sich in den verschiedenen Feldern der Gesellschaft (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Religion usw.) die „Prägekräfte von Medien entfalten“ und eine allumfassende „Medienkultur“ oder „mediatisierte Welten“ entstehen (Hepp 2013, 63; vgl. Lundby 2009). Technische Vermittlung bedeutet vielmehr (auch), dass mit einer Vielzahl von Beobachtern zu rechnen ist, die mit ihren Programmen, das heißt auf ihre je eigene und unter Umständen nicht nachvollziehbare Weise, Beiträge beisteuern und Kommunikation damit „undurchschaubar und unumgehbar zugleich“ machen (Baecker 2007b, 169). Die zuletzt eingeführten (Kommunikations-)Technologien stoßen einen Strukturwandel an, der eine Abkehr vom Verstehen als Versuch der Sinndeutung durch Interpretation der Motive beinhaltet und als Zuwendung hin zu Kontrolle als Versuch der Koordination der Anschlüsse durch (Selbst)Beobachtung, Vergleich und Justierung des (eigenen) Verhaltens zu beschreiben ist (vgl. Baecker 2007b). Das allgemeine Strukturmuster der Beobachterverhältnisse im Anthropozän ist dann auch nicht (mehr) das moderne Schema der funktionalen Differenzierung, sondern eine Ordnung der Nachbarschaft, „der keine prästabilierte Harmonie, kein Supersystem, keine übergreifende Hierarchisierung ihre Regeln und ihr Maß gibt, sondern nur die Frage, in welchen Nischen wer und was ein Überleben hat“ (Baecker 2007b, 171) – eine Ordnung die man in einem verallgemeinerten Sinn als ökologisch bezeichnen kann.
4 Der Theorieauftrag: Eine Allgemeine Ökologie
Eine ökologische Ordnung der Nachbarschaft impliziert nicht zwangsläufig ein friedliches, kultiviertes und kooperatives Miteinander. All dies wird zwar nicht ausgeschlossen, aber es kann genauso gut auch zu einem komplementären, parasitären oder gar feindseligen Nebeneinander kommen. In jedem Fall stellen sich Fragen der Raumordnung, das heißt Fragen nach der Konzeption und Organisation des Nebeneinanders verschiedener Beobachter, die aufeinander verweisen und unter Umständen voneinander abhängig sind. In der Auseinandersetzung mit diesen Fragen besteht der mit der Ontologie des Anthropozäns verbundene Theorieauftrag. Dieser beinhaltet zum Beispiel eine Beschäftigung mit der Bedeutung von Räumen und Grenzen für die Reflexion der planetarischen Weltverhältnisse. Eine solche Auseinandersetzung zielt einerseits auf die mit der allgemeinen Ökologisierung verbundenen Probleme der (Re)Konstruktion von Raum in der Theorie (vgl. dazu die Beiträge in Teil I von Goeke et al. 2015). Sie rückt andererseits, unter dem Gesichtspunkt der Organisation des Nebeneinanders, aber auch Strategien und Taktiken der Kontrolle des Raums in den Blickpunkt, das heißt (raumordnungspolitische) Prozesse der Territorialisierung sowie der Deterritorialisierung und der Netzwerkbildung (siehe dazu die Beiträge in Teil II von Goeke et al. 2015).
Die allgemeine Ökologisierung der Weltverhältnisse, das deutete sich bereits an, beinhaltet nicht nur einen Strukturwandel der Gesellschaft sowie deren Neubeschreibung, sie betrifft ebenso das Selbst und die materielle Umwelt. Félix Guattari (2012) spricht deshalb von drei Ökologien oder drei ökologischen Bereichen, die es in einer „verallgemeinerte[n] Ökologie“ (ebd., 46) zusammenzubringen gelte: die Ökologien der sozialen Beziehungen, der menschlichen Subjektivität und der Umwelt (ebd., 12). Die mit dem Anthropozän verbundene Ökologisierung der Weltverhältnisse betrifft, mit anderen Worten, die Transformation der Sozialverhältnisse, der Selbstverhältnisse und der Dingverhältnisse sowie deren Zusammenhang. Den Schwerpunkt seiner eigenen Betrachtungen legt Guattari (2012) allerdings auf die „mentale Ökologie“ (ebd., 46, 49), die zeigt, dass sich das Subjekt nicht ohne weiteres im rekursiven Selbstbezug des Denkens findet, sondern ein Kreuzungspunkt verschiedener „Subjektivierungs-Komponenten“ (ebd., 23) bildet, die „relativ autonom und gegebenenfalls geradezu disharmonisch sind“ (ebd.).
Diese Argumente werden von Hörl (2011 und 2013) unter dem Stichwort einer Allgemeinen Ökologie aufgegriffen. Er bezeichnet damit eine „Aufgabe des Denkens“ (Hörl 2013, 121), die darin besteht, das „Ineinandergreifen von individuell-mentalen, kollektiv-sozialen und umweltlichen Prozessen“, die allesamt durch die gegenwärtige technologische Bedingung geprägt seien (2011, 34), zu erfassen. Allgemeine Ökologie des Anthropozäns verweist, mit anderen Worten, auf jene Herausforderung, auf die der Theoriediskurs der Sozial- und Kulturwissenschaften mit einer noch immer offenen Suchbewegung reagiert: Von unterschiedlichen Ausganglagen aus werden durch experimentelles Herantasten an theoretische Standpunkte Perspektiven für die Auseinandersetzung mit veränderten Sozial-, Selbst- und Dingverhältnissen gesucht, von denen noch keineswegs klar ist, wie sie sich bewähren und welche sich durchsetzen werden.
Hier ist nicht der Ort, um eine konsistente Theorie der Allgemeinen Ökologie des Anthropozäns zu entwerfen, doch es kann schon jetzt aufgezeigt werden, worin die Herausforderungen (insbesondere für eine systemtheoretisch informierte Betrachtung) bestehen. Dabei wird deutlich, wie breit die sinngeschichtliche Umwendungsbewegung angelegt ist und welches Potenzial dabei auch in der soziologischen Systemtheorie steckt, wenn diese nicht wie von Klüter (2014) auf ein spätmodernes Denken verpflichtet wird.
4.1 Sozialverhältnisse
Fokussiert man im ersten Schritt die Sozialverhältnisse im Anthropozän, so ist zweifellos an die Science and Technology Studies und hier speziell an die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) zu denken. Latours oder auch Callons Devise, dass das Tun von materiellen Objekten ein Beitrag zur Konstituierung sozialer Beziehungen sei – so wie die Handlungen von Menschen es sind (siehe z. B. Latour 2007, 121ff.; Callon 2006), wurde bisher häufig so ausgelegt, als würde damit den Dingen dieselbe Handlungsmacht zugeschrieben wie Menschen (siehe z. B. Collins/Yearley 1992 und vgl. Lindemann 2008). Tatsächlich aber geht es darum, den Begriff des Handelns zu vereinfachen und die Idee des Sozialen zu verflachen, das heißt vor allem die traditionelle Verknüpfung des Handlungsbegriffs mit Intentionalität und subjektiv gemeintem Sinn aufzulösen, um so auch die Vielzahl derjenigen Agenten einzubeziehen, denen Intentionalität und Subjektivität nicht in gleicher Form zugeschrieben werden (können) wie den Menschen, obwohl auch sie an der Formierung von sozialen Beziehungen beteiligt sind und (heterogene) Kollektive bilden.
Obwohl die Heterogenität dieser Kollektive die meiste Beachtung gefunden hat, liegt der weiterreichende Beitrag der ANT im Versuch, die Vorstellung von sozialen Entitäten herunterzumodulieren: Denn die heterogenen Kollektive aus menschlichen Akteuren und Dingen bilden keine Kollektive im konventionellen Sinn, das heißt keine Gruppen oder Klassen, deren Zusammenhalt, wie Bourdieu (1985) erklärt, als eine Art corpus mysticum durch die Selbstidentifikation der Mitglieder mit dem Kollektiv oder durch die Repräsentation durch einen (selbsternannten) Sprecher geschaffen wird. Es handelt sich vielmehr um die pragmatische oder operative Versammlung (Assoziation) aller Elemente, die in symbolischer oder materieller Weise mit einem bestimmten Ereignis verbunden sind oder damit in Verbindung gebracht werden können. Eine solche Reduktion des Handlungsbegriffs und ein im Vergleich zu den Theorien der Spätmoderne bedeutend ‚flacheres‘ Verständnis des Sozialen sind für die Auseinandersetzung mit den sozio-materiellen Verflechtungen des Anthropozäns zweifellos geboten. Der geographische Theoriediskurs hat darauf mit einer affirmativen Rezeption der ANT (vgl. z. B. Murdoch 1997; 1998; und für die deutsche Diskussion Zierhofer 1999; 2003) und dem Entwurf einer Non-Representational Theory (siehe Thrift 1996, 1999 und 2007) reagiert.
Die luhmannsche Systemtheorie scheint mit ihrer Betonung des Sozialen und der Vorstellung, dass dieses aus Kommunikationen besteht, eine markante Gegenposition zur ANT zu besetzen. Sie gehört auf den ersten Blick zu jenem orthodoxen Konsens, von dem Latour sich vehement distanziert (für eine Einschätzung der Systemtheorie aus Sicht der ANT siehe z. B. Latour 2007, 270). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Systemtheorie ganz ähnlich wie die ANT das Soziale nicht sonderlich hoch hängt und im Unterschied zu konventionellen Sozialtheorien auf voraussetzungsvolle Handlungsbegriffe als vermeintliche Basis des Sozialen verzichtet. Das gilt insbesondere für Weiterentwicklungen der Theorie wie etwa die (ökologische) Entfaltung des Kommunikationsbegriffs durch Baecker (2005). Wie der Handlungsbegriff in der ANT so ist auch der systemtheoretische Kommunikationsbegriff – verstanden als Synthese der drei kontingenten Selektionen Mitteilung, Information und Verstehen – niederschwellig gebaut. Es geht bei Kommunikation nicht um einen kognitiven Prozess (die Operationsform psychischer Systeme), sondern allein um die Unterscheidung von Information und Mitteilung: Es wird verstanden, dass eine Information mitgeteilt wird. Über das Verstehen kommen die drei Selektionen zur Einheit und dies unabhängig von der Frage, ob die Mitteilung der Information beabsichtigt war oder nicht. Vorausgesetzt wird dabei lediglich ein operatives (soziales) Verstehen (Nassehi 1997, 143): Wenn die Kommunikation weiter geht, hat sie (sozial) verstanden. Daraus folgt direkt, „daß Kommunikation nur als selbstreferentieller Prozeß möglich ist“ (Luhmann 1984, 198).
Vor dem Hintergrund der Festlegung, dass das basale operative Anschlussgeschehen des Sozialen die Kommunikation ist, besteht die besondere Herausforderung für eine systemtheoretische Herangehensweise in der Frage, wie die Beiträge von psychischen Systemen (Wahrnehmungen), von materiellen Objekten oder von Maschinen zu fassen sind – ein Thema, dass in der Systemtheorie besonders im Kontext der digitalen Kommunikation behandelt wird (vgl. zur Frage, wie Bewusstsein an Kommunikation beteiligt ist z. B. Luhmann 1988; zur Beteiligung von Maschinen an sozialer Kommunikation siehe z. B. Esposito 1993; 2001; zur Materialität der Kommunikation aus systemtheoretischer Sicht siehe Fuchs 2015 und die Beiträge von Henkel und Dirksmeier/Lippuner in Teil III von Goeke et al. 2015).
In der Diskussion über heterogene Verflechtungen weisen diese und andere Beiträge der Systemtheorie unter anderem auf jene Differenzierungen hin, vor deren Hintergrund sich Fragen der Verflechtung überhaupt erst stellen. Während die ANT und andere Ansätze der Hybridität dazu tendieren, das „Grundgesetz der Ökologie“ (Commoner 1971) dergestalt zu strapazieren, dass immer alles irgendwie mit allem verflochten erscheint, stellt die Systemtheorie (systematische) operative Rekursivitäten in den Vordergrund. Operative Rekursivität ist nach systemtheoretischem Verständnis für die formale Konstitution von sozialen Systemen verantwortlich, kennzeichnet aber auch die Prozessualität von psychischen Systemen (Bewusstsein) und andere Eigendynamiken (neurologische Systeme, Organismen und dissipative Strukturen der anorganischen Physis). Wolfgang Welsch (2012, 147) bezeichnet operative Selbstbezüglichkeit daher als „das generellste ontologische Muster überhaupt.“ Es durchlaufe „die Formen des Seins von den rudimentärsten physikalischen Formen bis hin zu den höchsten geistigen Formen“ (ebd.). Rekursivität kann deshalb (nicht nur) aus systemtheoretischer Sicht als Grundlage jeder Realitätskonstruktion durch einen Beobachter begriffen werden (Baecker 2013, 187) – ganz gleich ob dies nun mit kognitiven Fähigkeiten ausgestattete Individuen (Akteure), soziale Systeme, Organismen oder technische (mechanische, thermodynamische oder elektronische) Systeme sind.
Die Systemtheorie macht Heterogenität auf diese Weise als Ergebnis operativer Differenzierung sichtbar, führt sie also nicht auf einen vormodernen Zustand der Welt zurück, den die ‚Reinigungsarbeit‘ der modernen Wissenschaften permanent bekämpfen bzw. daran hindern muss, an der Oberfläche der Phänomene in Erscheinung zu treten. Systeme verdanken ihre operative Autonomie vielmehr dem systematischen Anschluss an bestimmte Operationen (Selektivität) und dem damit einhergehenden Ausschluss anderer Ereignisse, das heißt einer anhaltenden Differenzierungsarbeit, mit der die operative Abgrenzung gegenüber einer komplexen Umwelt aufrecht erhalten wird. Indem die Systemtheorie auf dieses Grenzregime als Konstitutionsmoment von Systemen fokussiert, erweist sie sich als eine ökologische Theorie, die ihre Entitäten stets in Beziehung zur Umwelt als relationale Phänomene betrachtet, das heißt im Nebeneinander und im Austausch mit verschiedenen anderen systematischen Rekursivitäten und nicht-systemischen Prozesse.
4.2 Selbstverhältnisse
Im Hinblick auf ein Verständnis von veränderten Selbstverhältnissen ist es unter Umständen aufschlussreich, dass heterogene Verflechtungen und Versammlungen in jüngerer Zeit häufiger unter dem Stichwort der Assemblages diskutiert und damit in einen Theoriezusammenhang gestellt wurden, der sich auf die Werke von Gilles Deleuze und Félix Guattari oder deren Rezeption (vor allem durch Manuel DeLanda 2002 und 2006) stützt. Mit dem hier sichtbaren Umschwenken des Diskurses von Akteur-Netzwerken zu Assemblages sowie der Verlagerung der bevorzugten Theorie-Referenzen von Latour zu Deleuze/Guattari geht dem Anspruch nach eine Radikalisierung der relationalen Perspektive einher. In Deleuze/Parnet (1980, 64) betont Deleuze, dass ihre gemeinsamen Bestrebungen stets dahin gegangen seien, Beziehungen selbst in den Blick zu nehmen (und nicht die Elemente, die durch Relationen miteinander verknüpft werden): „Man muss weitergehen, so weit, bis der Zusammenstoß eindringt und alles korrumpiert, bis das ‚sein‘ unterminiert und zu Fall gebracht ist; so weit gehen und ‚sein‘ (est) durch ‚und‘ (et) ersetzen. […] Das UND als extra-sein, intra-sein. […] Mit ET denken statt EST, für EST denken“ (Deleuze/Parnet 1980, 64; Herv. i. Orig.).
Im Mittelpunkt einer Allgemeinen Ökologie steht somit eine konstitutive Relationalität, die unter den technologischen Bedingungen des Anthropozäns als etwas verstanden werden muss, „das der Formierung der Terme der Beziehung (Subjekt, Objekt, Individuen, Gruppen, überhaupt aller Formen von Kollektiven humaner und nicht-humaner Akteure) vorhergeht, prinzipiell alle Bereiche und Ebenen des Seins, von der Mikro- zur Makroebene, durchquert“ (Hörl 2013, 122). Diese Ausrichtung auf Relationen ist bei Deleuze und Guattari (1992) auf die Konstitution des Selbst, das heißt auf die Prozessualität der Psyche gemünzt, genauer gesagt, auf die Frage nach der Integrität eines Subjekts, das sich im Kontext einer kapitalistischen Gesellschaft und in der Umgebung von Dingen formieren und behaupten muss. Das Subjekt, so lässt Guattari (2012, 23) verlauten, lasse sich unter diesen Bedingungen nur ökologisch beschreiben, das heißt als Zusammenspiel verschiedener „Vektoren der Subjektivierung“, die nicht unbedingt durch das Individuum hindurch verlaufen: Das Individuum, so Guattari weiter, „befindet sich bezüglich der Prozesse, welche mit der Einwirkung von menschlichen Gruppen, sozio-ökonomischen Gebilden, informatischen Maschinen und so weiter auftreten, eher in der Lage eines ‚Terminals‘“ (ebd.). Hanjo Berressem (2008, 14) weist darauf hin, dass die Prozesse der Subjektivierung – die „Genese menschlicher Kultur“ – von Deleuze und Guattari (1992) als eine „habit-formation“ beschrieben werden, das heißt als „periodische Wiederholung“ von Abläufen, die aus dem organischen und anorganischen Milieu zunächst ein Territorium der Eigenorganisation extrahieren. Diese Routinen (im technisch-maschinellen Sinn) können laut Berressem (2008, 14) als „rekursive Operationen“ begriffen werden, wie sie in der Systemtheorie Luhmanns oder bei Maturana/Varela (1987) im Zusammenhang mit der Autopoiesis erwähnt werden, das heißt als „Operationen, die immer wieder in sich selbst eingespeist werden“ (Berressem 2008, 14). Die Position von Deleuze und Guattari decke sich auch insofern mit Annahmen der Systemtheorie, als sie davon ausgehe, dass „die menschliche Kultur der Natur energetisch immanent aber gleichzeitig operational/informationell von ihr getrennt“ sei (ebd., 17).
Wenn man die Überlegungen von Deleuze und Guattari als richtungsweisend für die Auseinandersetzung mit den Selbstverhältnissen im Anthropozän nimmt, dann kann man einen Theorieauftrag darin sehen, das Individuum als einen ökologischen Komplex in den Blick zu nehmen und das Selbst unter veränderten technologischen Bedingungen als ein kybernetisches System zu betrachten. Eine solche Betrachtung schlug bereits Gregory Bateson mit seiner „Ökologie des Geistes“ vor. Darin stellte er fest: „Die geistige Welt – der Geist – die Welt der Informationsverarbeitung – ist nicht durch die Haut begrenzt“ (Bateson 1981, 583). Im Rahmen einer Allgemeinen Ökologie besteht der Erkenntniswert dieser kybernetischen Erwägungen unter anderem darin, dass sie die operative Ausdifferenzierung informatorisch geschlossener Systeme in einem energetischen Kontinuum erklären. Das eröffnet den Blick für zwei unterschiedliche Problembereiche der anthropozänen Ordnung des Nebeneinanders: Für existenzielle Abhängigkeiten und Anpassungsnotwendigkeiten auf der einen Seite sowie operative Autonomie, Irritabilität und Übersetzungsnotwendigkeiten auf der anderen Seite (siehe dazu von systemtheoretischer Seite vor allem die Studien von Fuchs 2007, 2010, 2015 aber auch die Beiträge in Teil III und IV von Goeke et al. 2015).
4.3 Dingverhältnisse
Zu den theoretischen Herausforderungen der Ontologie des Anthropozäns, gehört nicht nur die Vermischung von vormals getrennt gedachten Sphären, sondern auch die Vorstellung von neuen Objekt- oder Dingverhältnissen, die die fortschreitende Technisierung hervorbringt. Hörl (2013, 124) spricht in diesem Zusammenhang von einer „objektgeschichtlichen Entwicklung“, die mit der Kybernetisierung im 20. Jahrhundert in Gang gesetzt wurde und inzwischen sogar begonnen habe, „alle Objektheit als solche zu überschreiten“. Der Begriff der Technisierung verweist in diesem Sinn auf das Erscheinen von „offenen, an die Existenz von Netzen gebundenen […] Objekten“ (Hörl 2011, 27), das heißt von technischen Ensembles und technisch generierten Aggregaten, wie sie zum Beispiel der Globale Wandel oder das Phänomen von Mikroplastik in marinen Ökosystemen darstellen. Der aktuelle „Objektzentrismus der Theoriebildung“ (ebd.) beinhaltet aber auch die Feststellung, dass selbst „herkömmliche“ Objekte „unter der Bedingung radikaler technischer Distribuiertheit“ (Hörl 2013, 124) auf eine neue Art in Erscheinung treten.
Derartige Vorstellungen haben in der Erkenntnistheorie zur Etablierung eines „spekulativen Realismus“ geführt, dessen Vertreter eine Art anti-kantianischen Materialismus propagieren (Harman 2002, Meillasoux 2008, Bryant et al. 2011). Sie versuchen eine erkenntnistheoretische Perspektive zu begründen, die es erlaubt, Objekte nicht nur im Spiegel der subjektiven Erkenntnis oder der kulturellen Repräsentation zu denken, sondern sie als selbst-ständig (for-itself) zu begreifen (Bryant 2011, 19). In dieser Diskussion taucht die Systemtheorie (nach Luhmann) überraschenderweise als eine Denkweise auf, die es erlauben soll, die Eigenständigkeit von Objekten zu fassen. Levi Bryant (2011, 27) beispielsweise zählt Luhmann zu den Begründern einer objektzentrierten Perspektive und führt ihn (zusammen mit Latour, DeLanda, Whitehead, Haraway, Deleuze/Guattari und anderen) in einer Liste von „object-oriented heroes“ auf. Diese Zusammenstellung mag nach konventionellem Empfinden verwunderlich erscheinen, sie zeigt jedoch, dass konventionelle Kategorisierungen wie Konstruktivismus und Realismus keine hilfreichen Leitunterscheidungen bieten, wenn es um theoretische Konzeptionen und Perspektiven für die Beschreibung aktueller Weltverhältnisse geht. Überraschende Theoriekoalitionen sind daher als Theorieaufgaben zu begreifen und es ist beispielsweise zu fragen, was die luhmannsche Systemtheorie zum Objektverständnis einer objektzentrierten Betrachtung beitragen kann. Bryant (2011, 31) selbst beruft sich dabei insbesondere auf das Konzept der Autopoiesis und argumentiert, dass man jedes Objekt als eine operational geschlossene Einheit begreifen könne, die die Beziehungen zur Umwelt nach eigener Maßgabe strukturiere.
Solche Übertragungen wirken möglicherweise etwas hastig, eröffnen aber Gedankenräume in und mit der Systemtheorie. Wie diese produktiv genutzt werden können, hat Dirk Baecker verschiedentlich vorgeführt. Mit Blick auf die kybernetischen Grundlagen der Systemtheorie weist er (2015, 1) darauf hin, dass die Systemtheorie hinsichtlich der Objektverhältnisse zeigt, wie Beobachter mit der Intransparenz der Gegenstände umgehen, die sie umgeben. Als eine Theorieversion der second order cybernetics geht die Systemtheorie von Beobachtern aus, die in ihren Interaktionen mit Blackboxes konfrontiert sind und zum Beispiel nicht definitiv wissen können, welche Entitäten (Objekte) in der Lage sind, als (geschlossenes) Selbst zu operieren, sich aber gewahr sind, dass diese nicht auf das menschliche Bewusstsein beschränkt sind. Das beinhaltet auch die Unsicherheit, ob an Menschen beobachtete Verhaltensweisen Operationen sind, die vom Bewusstsein ausgehen. Vor diesem Hintergrund, der die Systemtheorie letztlich überzeugender mit den Fragen einer objektzentrierten Perspektive verknüpft, als Bryant (2011) dies tut, können Objekte als allgemeine Formen von Eigenorganisation, das heißt als Eigenwert (im mathematischen Sinn) begriffen werden, der von rekursiven Operationen ausgeht.
In einer daraus abgeleiteten Empirie führt dieser Ansatz unter Umständen zur Frage, wie operativ geschlossene Systeme durch Dinge der Umgebung affiziert, das heißt irritiert, angeregt oder blockiert werden. Baecker hat in diesem Sinn darauf hingewiesen, dass der Beitrag von Alltagsgegenständen (wie Türklinken, Tastaturen oder Teekannen usw.) zur Stabilisierung des Sozialen nicht bloß darin besteht, dass sie, wie Latour (2007, 122) bemerkt, „etwas tun“, sondern vielmehr darin, dass sie „Distanz und Engagement, Irritation und Faszination für die Wahrnehmung gleichzeitig und für die Kommunikation im Wechsel der Sequenzen zum Ausdruck bringen“ (Baecker 2005, 270). Dieses Wechselspiel vollzieht sich fortwährend im normalen Alltag, wo wir in der Regel gar nicht merken, „wie wir haarscharf zwischen einer zu großen Irritation und einer zu großen Faszination hindurchsteuern, um uns gelassen für das zu interessieren, was uns jeweils geboten wird, und souverän zu bewältigen, was damit einher geht“ (ebd., 271). In Bezug auf die Dingverhältnisse des Anthropozäns eröffnet eine systemtheoretisch informierte Objekt-Perspektive jedenfalls vielversprechende Betrachtungsmöglichkeiten, die Fragen nach den Beziehungen zu einer als Natur gedachten Umwelt einschließen, sich aber nicht darauf beschränken, sondern auch auf die Rolle des Designs von Artefakten zielen (vgl. dazu in ersten Ansätzen die Beiträge in Teil III und IV von Goeke et al. 2015).
5 Fazit
Das Anthropozän wurde hier als Reflexionsbegriff der wissenschaftlichen, medialen und politischen Auseinandersetzung mit den Weltverhältnissen der Gegenwart, das heißt als eine Weltbeobachtungsformel eingeführt. Als solche verweist der Begriff Anthropozän unter anderem auf die weitreichenden sozialen und kulturellen Folgen des Einsatzes von Technik in allen Lebensbereichen. Auch wenn diese Folgen hier nur andeutungsweise skizziert wurden, zeigt sich doch, dass die Auswirkungen einer fortschreitenden Technisierung nicht auf die Beeinflussung (oder Beeinträchtigung) der materiellen Umwelt beschränkt sind, sondern auch das Verhältnis von Personen zu anderen und zu sich selbst umfassen. Sie betreffen, mit anderen Worten, die Form und den Verlauf von Kommunikation sowie das Selbstverständnis der Subjekte. Sowohl in Bezug auf Dingverhältnisse als auch in Bezug auf Sozial- und Subjektverhältnisse rückt die Weltbeobachtungsformel Anthropozän andere Problemkonstellationen ins Blickfeld als sie in der Globalisierungsperspektive der Spätmoderne im Fokus stehen. Die Rede vom Anthropozän verweist auf eine ‚neue Ontologie‘ im Sinne einer veränderten Konstruktion von Weltverhältnissen sowie einer veränderten Problemdefinition. Geprägt wird diese andere Form der Weltbeschreibung insbesondere durch die planetarische Perspektive des Anthropozäns. Diese macht nicht nur die Verwobenheit von Sozialem und Materiellem (durch Technik) sichtbar, sondern zeigt auch, dass man in der von Technologie durchdrungenen Gegenwart mit einer Vielzahl von Beobachtern rechnen muss, zu denen neben Menschen und sozialen Systemen auch andere Organismen oder technische Artefakte und Programme gehören. Das Anthropozän markiert deshalb auch eine veränderte Irritabilität und ein verstärktes Bewusstsein der Abhängigkeit der Sozialsysteme von Leistungen ihrer Umwelten.
Der Umgang mit dieser Konstellation sich verändernder oder bereits veränderter (und miteinander verflochtener) Sozial-, Selbst- und Dingverhältnisse erfordert vonseiten der Wissenschaft eine multiperspektivische Betrachtung, die sich den Blick nicht durch disziplinär disziplinierte Definitionen von Gegenständen und Zuständigkeiten verstellen sollte. Theoriearbeit ist weniger als eine monolithische Theoriebildung zu betreiben, sondern vielmehr als eine Praxis zu begreifen, die durch begriffliches Experimentieren die Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten auslotet und durch das Ausprobieren von Konzepten in unterschiedlichen Zusammenhängen, das heißt im Austausch mit anderen Theorien und mit der Resonanz der Empirie, neue Bestimmungen und Einteilungen vorzunehmen versucht.
Als eine mögliche Antwort auf die Herausforderungen des Anthropozäns wurde hier in ganz groben Zügen die Idee einer Allgemeinen Ökologie skizziert, wobei vor allem angedeutet wurde, welche Stoßrichtung Beiträge aus dem Wissenschaftsprogramm der Systemtheorie dabei haben (könnten). Die Ausarbeitung und Anwendung einer Allgemeinen Ökologie ist allerdings keine Aufgabe, die in der geschlossenen Begriffssystematik einer Theorie bewältigt werden könnte, für die es jenseits der eigenen Prämissen keine relevanten Problemstellungen mehr gibt. Für die Systemtheorie beinhaltet das Anthropozän deshalb die Aufgabe, Offenheit gegenüber anderen Theorien zu wahren oder herzustellen, ohne dabei in unverbindliche Beliebigkeit zu verfallen. Angesichts der multiplen Herausforderungen des Anthropozäns ist es aber nicht hilfreich, gegen die Gefahr der Beliebigkeit einfach die konventionellen Grenzen herkömmlicher Theorietraditionen oder Disziplinen in Stellung zu bringen. Erfolgversprechender und intellektuell ergiebiger erscheint es uns, theoretischen und disziplinären Einteilungen grundsätzlich zu misstrauen und in ihnen die Chance für eine produktive Grenzarbeit zu sehen. Diese beinhaltet notwendigerweise Bestrebungen zur Auflösung oder Verschiebung von Grenzen, erschöpft sich aber keineswegs im Versuch der Entgrenzung, sondern beinhaltet, wie die Skizze einer Allgemeinen Ökologie hoffentlich gezeigt hat, auch den Versuch, neue Differenzierungen einzuführen.
Die Idee einer Allgemeinen Ökologie wäre grundlegend missverstanden, wenn man darin das Bestreben sähe, auf einer anderen Ebene (im Kontext sozial-materieller Verflechtungen) jene trivial-ökologische Vorstellung zu wiederholen, die auch in vielen Theorien der Globalisierung steckt: die Vorstellung, dass alles irgendwie mit allem zusammenhängt (vgl. dazu in kritischer Absicht Nassehi 1999, 23). Der Auftrag besteht vielmehr darin, verschiedene Ausprägungen einer ökologischen Ordnung der Nachbarschaft (von heterogenen Beobachtern) zu erfassen, in der gerade die Koexistenz Differenz erzeugt, das, was nebeneinander existiert also nicht dasselbe ist, sondern sich in Abgrenzung und im Austausch mit der Umwelt konstituiert und behauptet. Die Systemtheorie, die Offenheit und Geschlossenheit gleichzeitig zu denken vermag, kann hier wesentliche Beiträge leisten. Dazu darf sie aber nicht klassisch (spät)modern auf die Geschlossenheit fokussieren und sich auf die innere Dynamik rekursiver Prozessualität beschränken. Vielmehr muss sie mit einem vielfältig besiedelten Außen rechnen und dieses bei der Auseinandersetzung mit der (Re)Produktion von Systemen beachten. Vielleicht gelingt es ihr im Fokus auf die Praxis des Unterscheidens (Grenzarbeit) selbst sogar, die Unterscheidung von Innen und Außen ganz hinter sich zu lassen. In diesem Sinne kann als generelle Devise einer Allgemeine Ökologie weiterhin die ursprünglich mit postmodernem Gestus formulierte und schon einmal zitierte Intention von Deleuze gelten: „Man muss weitergehen, so weit, bis der Zusammenstoß eindringt und alles korrumpiert, bis das ‚sein‘ unterminiert und zu Fall gebracht ist; so weit gehen und ‚sein‘ (est) durch ‚und‘ (et) ersetzen. […] Das UND als extra-sein, intra-sein. […] Mit ET denken statt EST, für EST denken“ (Deleuze/Parnet 1980, 64; Herv. i. Orig.).
Anmerkungen
1 Indem er die Bedeutung von Organisationen für die gesellschaftliche Raumproduktionen herausstellte, führte Klüter zudem einen organisationstheoretischen Ansatz in die Sozialgeographie ein (vgl. z. B. Klüter 1999). Diese spezielle Konzeption wurde in der Sozialgeographie allerdings nur selten aufgegriffen (vgl. zu Organisation und Sozialgeographie auch Blotevogel 1999, 22; Meusburger 1999), obwohl (formale) Organisationen nicht nur ein zentrales Merkmal der modernen Gesellschaft, sondern auch wichtige Instanzen der gesellschaftlichen Kommunikation sind. In Klüters Arbeiten ist die Zentralstellung der Organisation Ausdruck einer Geographie, die schon auf konzeptioneller Ebene explizit auf sachliche und disziplinäre Steuerungschancen achtete. Diese Dopplung, das heißt disziplininterne Reflexion von adäquaten Theorien und Ausarbeitung von Steuerungsmechanismen, ist Ausdruck der spätmodern gesteigerten Reflexivität der Sozialgeographie.
2 Siehe dazu z. B. Bernard Stiegler: „Was wir heute im für unsere Zeit charakteristischen Sinne Globalisierung nennen, ist kein Prozess mehr, der noch im Gang wäre […], sondern eine vollendete Tatsache“ (2011, 111).
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Zitierweise:
Roland Lippuner, Johannes Wirths und Pascal Goeke 2015: Das Anthropozän — eine epistemische Herausforderung für die spätmoderne Sozialgeographie In: http://www.raumnachrichten.de/diskussionen/1988-roland-lippuner-johannes-wirths-und-pascal-goeke-das-anthropozaen
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