Irini Siouti: Transnationale Biographien. Eine biographieanalytische Studie über Transmigrationsprozesse bei der Nachfolgegeneration griechischer Arbeitsmigranten. Bielefeld 2013. 254 S.

Vor über 10 Jahren wurde in der Migrationsforschung heftig um die theoretische Vorherrschaft gerungen. Die Transnationalismusthese trat gegen etablierte Integrations- und Assimilationstheorien an, und die Systemtheorie empfahl sich als dritte Option (vgl. dazu in dieser Zeitschrift beispielhaft abgebildet: Bommes 2003; Esser 2003; Pries 2003). Speziell Esser als Vertreter der Integrations- und Assimilationstheorien geizte nicht mit harten Worten. Wenn man nicht „an der Marginalisierung der Migranten und am Entstehen dauerhafter ethnischer Schichtungen“ interessiert sei (Esser 2001, 97), dann gebe es „zur individuellen strukturellen Assimilation als Modell der intergenerationalen Integration keine (vernünftige) theoretische, empirische und auch wohl normative Alternative“ (Esser 2003, 20). Mit dieser Ablehnung versuchte er die von ihm maßgeblich entwickelte Integrations- und Assimilationstheorie in ihrer Integrität zu bewahren und sie dabei insbesondere gegen die Angriffe der Transnationalismusforschung zu verteidigen. Zwischenzeitlich ist man in einen Zustand theoretischer Ökumene übergegangen und hat sich stillschweigend darauf geeinigt, die Entscheidung über die Adäquatheit der konkurrierenden Theorien auf die Empirie, d. h. auf weitere Forschungen, zu verschieben.

 

Dadurch hat sich der Ton der Debatte zwar insgesamt entspannt und etwaige Konflikte entzünden sich heute vornehmlich an methodologischen Fragen (vgl. zuletzt und mit viel Polemik: Kalter 2011; Pries 2011), doch einer Entscheidung in der Sache ist man damit nicht näher gerückt. Selbst mit umfangreichsten Datensammlungen, das zumindest lehren Wissenschaftsforschung und Erkenntnistheorie, wird das nicht gelingen. Die Umwelt enthält keine Informationen, sondern ist, wie sie ist (von Foerster 2003, 189). Dem Menschen, so schon Max Weber (1992 [1919], 81), müsse in der Wissenschaft etwas einfallen, damit irgendetwas Wertvolles entstehe. Es fällt mithin allein der Theorie zu, mit der Wahl von Begriffen die Umwelt intelligent und plausibel aufzuschlüsseln, um sodann den Streit einer Entscheidung zuzuführen. Vor diesem Hintergrund bringt auch die interessante Dissertation von Irini Siouti – Soziologin an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main – keine theoretische Klärung, obgleich die Arbeit im Titel, in der Perspektive und im Gestus eindeutig für die transnationale Seite optiert. Das klare Verdienst dieser Arbeit liegt in der äußerst tiefgründigen Darstellung und Reflexion von drei transnationalen Biographien, die sich im Kontext der ehemaligen Anwerbemigration von Griechenland nach Deutschland entwickelt haben. Die durchweg hohe Qualität der Falldarstellungen wird durch eine zielorientierte Vor-und Aufbereitung theoretischer Positionen, namentlich Transnationalismus und Biographieforschung, erreicht. Das manifeste Ergebnis der Arbeit ist ihre Kompaktheit. Allerdings, und dies ist die latente Seite der Arbeit, ist auch zu erkennen, wie theoretische Debatten heute vielfach verwaltet werden und so jeglichen intellektuellen Biss verlieren. Im Ergebnis ist die vorliegende Arbeit, wie auch die Migrationsforschung in toto, nicht nur von einer Klärung des Streits zwischen Integrations- und Assimilationstheorien einerseits und Transnationalität andererseits, sondern auch von einer angemessenen Theorie der Migration weit entfernt. Dieses Urteil mag angesichts der sich durch das gesamte Buch ziehenden postulierten Eindeutigkeit zunächst verwundern, aber es braucht nicht viel Phantasie, um einen signifikanten Teil der Ergebnisse als Bestätigung der Esserschen These zu interpretieren.

Aber der Reihe nach. Richtet man zunächst den Blick auf das manifeste Erkenntnisinteresse der Arbeit, so ist Sioutis Ausgangsbeobachtung, dass das empirische Wissen über transnationale Lebensläufe von in Deutschland und noch anderswo lebenden Migrantinnen und Migranten relativ gering ist, korrekt. Dies gilt insbesondere für Lebensläufe, die im Zusammenhang mit der Anwerbemigration nach Deutschland stehen. Entsprechend und im Sinne einer pragmatischen Entscheidung will Siouti am speziellen Fall der griechischdeutschen Migration in Erfahrung bringen, wie transnationale Migrationsmuster in ihrer Entstehung begünstigt oder verhindert werden und wie (Trans-)Migration biographisch verarbeitet wird. Indem Siouti die Diskussion um Transnationalität elegant mit der Theorie und Methode der Biographieforschung vermählt, gelingt es ihr, die nur schwer zu greifende Metapher des transnationalen sozialen Raums zu konturieren. Gesondert herauszustellen ist, dass die Autorin bei der Lektüre nicht an den Grenzen ihres Fachs Halt macht und die bei den Nachbarwissenschaften gefundenen Beiträge, etwa von Andreas Pott (2002), nicht nur pflichtschuldig zitiert, sondern auf ihr Erkenntnisinteresse bezieht.

Ehe Siouti an ihre Empirie herantritt, finden sich noch drei lesenswerte Kapitel zur Geschichte der griechischen Migration, zu den Lebenswelten speziell der zweiten Generation und zum methodischen Vorgehen. Bei der Vergegenwärtigung des Vergangenen fällt die Vielfalt der die Migration strukturierenden Faktoren auf. Es ist ein sehr positiver Effekt der transnationalen Perspektive, dass der Blick für die Vielfalt der Migration stets mitläuft, dass Migrantinnen und Migranten nicht a priori auf eine Entscheidungsdimension reduziert werden oder allein gefragt wird, ob sie denn nun integriert sind oder nicht. So wird bei Siouti deutlich, dass die wirtschaftlichen Differenzen, die politischen Verträge wie auch die politischen Verhältnisse in Griechenland, der Organisationsgrad der griechischen Migrantinnen und Migranten, ihre Rückkehr- und Bleibeabsichten sowie ihre Bildungsaspirationen das Migrationsgeschehen beeinflusst haben. Gerade die Bildungshoffnungen und enttäuschungen sind, so zeigt sie bei den Ausführungen zur zweiten Generation, wichtig, um speziell die transnationalen Biographien dieser Generation zu verstehen.

Verstehen ist das große Anliegen im sechsten Kapitel (eine Darstellung ihrer Methoden findet sich in Kapitel 5). Aus den 15 ihr vorliegenden Fällen hat Siouti 3 ausgewählt, die auf 90 Seiten detailliert und dennoch kurzweilig dargelegt werden. Insofern Siouti diese Fälle nach dem Prinzip des maximalen Kontrasts ausgewählt hat und sie zudem weitgehend darauf verzichtet nach Gemeinsamkeiten zu suchen, etwaige Parallelen herauszustellen oder Verbindungen zu anderen Fällen von Transnationalität aufzuzeigen, fällt eine Zusammenfassung schwer. Eine Sache indes wird deutlich: Die Transnationalisierung von Lebensläufen hängt maßgeblich von den Organisationen der Gesellschaft und ihren Inklusionsmodi ab (Bommes 1999, 17; Stichweh 2005 [1988]). In den von Siouti geschilderten Fällen sind das insbesondere die Bildungsorganisationen Schule und Universität, die Entfaltungschancen eröffnen oder verwehren. Ein weiterer Schlüssel zum Verständnis transnationaler Biographien sind die familiären Geschichten und Bedingungen.

Die von Siouti skizzierte Vielfalt ist allerdings nicht allein ein Effekt ihrer Selektion nach dem Kriterium des maximalen Kontrasts. Die Vielfalt muss wohl auch als Charakteristikum von Migrationen in der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit gewertet werden. Leider scheint sich Siouti, wie das Gros der Migrationsforschung, mit diesem Befund zufrieden zu geben. Die erkannte Vielfalt, so die implizite Annahme, verbiete Abstraktionen oder Generalisierungen. Es komme daher, so der ebenfalls implizite Schluss, nicht auf eine Reduktion der Komplexität, sondern auf ihre Wiedergabe oder Spiegelung an.

Damit schließt sich der Kreis zum eingangs erwähnten Disput zwischen Assimilationisten und Transnationalisten. Was für Siouti als Beleg für eine Transnationalisierung gewertet wird, dürfte für Esser ein erneuter Hinweis sein, dass Migrantinnen und Migranten schlecht beraten sind, sich an den Gelegenheitsstrukturen von zwei oder gar mehr Nationalstaaten zu orientieren und sich nicht um die Integration und Assimilation an einem Ort zu bemühen. Mit Blick auf die von Siouti dargelegten Fälle würde Esser vielleicht betonen, dass die Mühsal der Pendelei von Athina gewaltig sei und dass sich ihre Un-/Zufriedenheit letztlich in Relation zu nationalen Biographien bemisst. Ebenso ist zu erwarten, dass er die massiven emotionalen Belastungen von getrennt lebenden Familien herausstellen würde (etwa die Trennungserfahrungen von Athina in ihrer Kindheit oder von Jannis und seiner Schwester). Und für zu unsinnig würde er vermutlich die Bildungsinvestitionen in Abschlüsse bewerten, die letztlich nicht oder nur mit Abschlägen anerkannt werden (auch wenn die drei Fälle Athina, Jannis und Maria mit ihren Bildungszertifikaten keineswegs marginalisiert sind). Leider unternimmt Siouti nur wenig, um hier ein Argument für die transnationale These stark zu machen, das über eine intuitive Wertung hinausgeht. Es ist dies eine direkte Folge ihres Umgangs mit Theorie. So will in den ersten beiden Kapiteln zur Theorie, insbesondere zur Migrationstheorie, nicht recht deutlich werden, nach welchen theoretischen Kriterien die Autorin die Theorieoptionen ordnet. Indem sie ihre Darstellung stark am zeitlichen Ablauf der Debatte orientiert, nährt sie implizit das Bild, dass alte und unpassende Integrations- und Assimilationstheorien durch die neuere und bessere transnationale Perspektive abgelöst worden seien. Zur Gewinnerin wird die Theorie mit der aktuell größten Aufmerksamkeit gekürt. Die einzelnen Argumente und Theoriearchitekturen lässt sie hingegen kaum miteinander kommunizieren. So entgeht ihr, dass die Integrations- und Assimilationstheorie Essers in ihrer Integrität zwar vielfach unstimmig und oft normativ überfrachtet und konservativ ist, einzelne Elemente aber weiterhin beachtenswert und vermutlich auch alternativlos sind. Zu denken ist hier etwa an das Konzept der Assimilation, das allein im Sinne einer wechselseitigen Anpassung oder komplementären Kommunikation verstanden werden kann (Brubaker 2001, 534, 544). Es ist schade, dass die Autorin die Theorien wie Zootiere in ihren Gehegen lässt und zu oft nur betrachtet, anstatt sie ins Gespräch miteinander zu bringen (vgl. zur Zoometapher: Nassehi 2006, 65). Dies deshalb, weil sie in ihrer Empirie mehr als einen Ansatzpunkt hätte, um auch die Theorie weiter zu entwickeln. Es wäre vielfach möglich explizit zu zeigen, dass transnationale Biographien im engen Zusammenhang mit der Strukturentwicklung einer modernen, funktional differenzierten Weltgesellschaft stehen, dass sie zum Teil als neu zu bewerten sind und deshalb die transnationale Perspektive stark zu machen ist.

Fazit: Eine sorgfältige, fokussierte Arbeit mit selektiver und wunderbar klar dargelegter Empirie, die mehr als einen Anlass zur weiteren theoretischen Diskussion bietet.

Literatur
Bommes, Michael 1999: Migration und nationaler Wohlfahrtstaat. Ein differenzierungstheoretischer Entwurf.Wiebaden.

Bommes, Michael 2003: Migration in der modernen Gesellschaft. In: Geographische Revue 5. S. 41-58.

Brubaker, William Rogers 2001: The return of assimilation? Changing perspectives on immigration and its sequels in France, Germany, and the United States. In: Ethnic and Racial Studies 24. S. 531-548.

Esser, Hartmut 2001: Kulturelle Pluralisierung und strukturelle Assimilation: das Problem der ethnischen Schichtung. In: Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft 7. S. 97-108.

Esser, Hartmut 2003: Ist das Konzept der Assimilation überholt? In: Geographische Revue 5. S. 5-21.

von Foerster, Heinz 2003: Understanding Understanding. Essays on Cybernetics and Cognition. New York et al.

Kalter, Frank 2011: Transnationalismusforschung: Höchste Zeit für mehr als Worte und Koeffizienten. In: Soziale Welt 62. S. 199-202.

Nassehi, Armin 2006: Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt a.M.

Pott, Andreas 2002: Ethnizität und Raum im Aufstiegsprozeß. Eine Untersuchung zum Bildungsaufstieg in der zweiten türkischen Migrantengeneration. Opladen.

Pries, Ludger 2003: Transnationalismus, Migration und Inkorporation. Herausforderungen an Raum- und Sozialwissenschaften. In: Geographische Revue 5. S. 23-39.

Pries, Ludger 2011: Transnationalisierungsforschung – Ein Programm für das 21. Jahrhundert. In: Soziale Welt 62. S. 415-418.

Stichweh, Rudolf 2005 [1988]: Inklusion in Funktionssysteme der modernen Gesellschaft. In: Rudolf Stichweh (Hg.): Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie. Bielefeld. S. 13-44.

Weber, Max 1992 [1919]: Wissenschaft als Beruf. In: Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schluchter und Birgit Morgenbrod (Hg.): Max Weber. Gesamtausgabe. Tübingen. S. 71-111. (= Max Weber Gesamtausgabe. Abteilung I: Schriften und Reden, Bd. 17).

Pascal Goeke

geographische revue, 15. Jahrgang, 2013, Heft 1, S. 69-73

 

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