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Kategorie: Rezensionen

Felicitas Hillmann: Migration. Eine Einführung aus sozialgeographischer Perspektive. Franz Steiner. Stuttgart 2016. (= Sozialgeographie kompakt, Bd. 4). 245 S.

1    Das Buch und die Leistung der Autorin
Felicitas Hillmann fällt mit dem vorliegenden Lehrbuch das Verdienst zu, die geographische Migrationsforschung für die Lehre aus der Bevölkerungsgeographie herausgelöst, ja gar befreit zu haben. Und nicht nur das. Angesichts der Allgegenwart von Migrationen in der Geschichte und Gegenwart und der daraus resultierenden Größe des Themas kommt ihr auch das Verdienst zu, eine Ordnung für dieses Lehrthema innerhalb der Geographie entwickelt zu haben. Das ist insofern keine leichte Aufgabe, weil Migrationen für nahezu alle gesellschaftlichen Strukturen und gesellschaftlichen Raumverhältnisse relevant sind und die geographische Migrationsforschung daher vor der Herausforderung steht, praktisch alle Bereiche der Humangeographie intern zu wiederholen und dabei für das Thema Migration zu spezifizieren.

Bedenkt man zudem, und auch das lernt man aus dem Buch, dass sich die für Migrationen relevanten Kontexte laufend verändern, dass jede Zeit ihre eigenen Migrationen, ihre eigenen Fremden und ihre eigenen Herausforderungen mitbringt und dass überdies auch all die verschiedenen Perspektiven auf Migrationen, seien es wissenschaftliche, politische, ökonomische, religiöse oder andere, nicht als universelle Perspektiven auf ein gleiches und unveränderliches Objekt zu verstehen sind, sondern Migrationen als Objekte überhaupt erst hervorbringen und selbst einem steten Wandel unterliegen, dann wird deutlich, was Hillmann in diesem Buch zu leisten hatte und geleistet hat.


2    Gliederung und Inhalt – eine Würdigung
Die Eingangsbemerkungen deuten bereits an, dass eine Einführung in die schillernde Vielfalt der Migrationen wie auch in die (sozialgeographische) Migrationsforschung umfassende Sach- und Theoriekenntnisse, Umsicht und letztlich Mut bei der Auswahl erfordert. Die 1964 geborene Autorin Felicitas Hillmann, eine im Feld der Migrationsforschung mit zahlreichen Arbeiten ausgewiesene Expertin, gliedert das Buch in sechs Kapitel. Eingangs werden auf 20 Seiten das Interesse am Thema geweckt, Begrifflichkeiten vorgestellt, statistische Konzepte diskutiert und die institutionelle Verankerung der Migrationsforschung präsentiert. Das zweite Kapitel widmet sich „Theoretische[n] Ansätze[n] der Migrationsforschung“ (64 Seiten). Die Kapitel 3 und 4 verstehen sich als an Fällen orientierte Kapitel: Kapitel 3 behandelt die „Historische und regionale Differenzierungen der Migration in Europa“ von der Frühzeit bis etwa zum Fall der Mauer (33 Seiten). Anschließend werden in Kapitel 4 „Neue Geographien der Migration in Deutschland und Europa nach der Wiedervereinigung“ diskutiert (30 Seiten). Kapitel 5 widmet sich „Migration[en] in globaler Perspektive“ – ebenfalls 30 Seiten. Das sechste und letzte Kapitel ist mit „Die Metaebene: Stadt und Migration, aktuelle Fragen“ überschrieben (17 Seiten). Mit leichter Distanz betrachtet lässt sich sagen, dass Hillmann regionale, historische und wissenschaftsbezogene Gliederungskriterien mischt, sodass sich die Gliederung abstrakt wie folgt umreißen lässt: (1) Allgemeiner Themenaufriss, (2) wissenschaftliche Perspektiven in historischer Abfolge, (3) regional-historischer Aufriss von Migrationen, (4) aktuelle regionale Probleme, (5) aktuelle globale Probleme und (6) Abschlussbetrachtung.

Diese Mischgliederung ist klug und sinnvoll. Sie erlaubt es ihr grundsätzlich mit dem Sachverhalt umzugehen, dass praktisch alle gängigen Theorieoptionen der Humangeographie auch in der geographischen Migrationsforschung zu finden sind, dort aber oftmals sehr spezifischen Situationen zuzuordnen sind – man denke allein an die Vielfalt der Integrations- und Assimilationstheorien und deren Konkurrenz mit Transnationalismusansätzen. Die gewählte Mischform ermöglicht hier eine eingängige Vermittlung der unterschiedlichen Zugänge und wird der irreduziblen Vielfalt von Migrationen gerecht.

Dass diese Gliederung auch die Darstellung der Inhalte trägt, zeigt sich daran, dass es Hillmann gelingt, die vielfältigen Aspekte von Migrationen darzustellen und sie zugleich ausgesprochen unaufdringlich auf die Geographie zu beziehen respektive die geographische Stimme im interdisziplinären Konzert der Migrationsforschung zu vernehmen ist. Exemplarisch lässt sich diese Leistung am zweiten Kapitel zu den theoretischen Ansätzen der Migrationsforschung zeigen. Nach einleitenden Ausführungen über die Anfänge der Migrationsforschung werden zentrale Denk- und Theoriefiguren bündig und der Sache vollkommen angemessen dargestellt (z. B. die Figur des Fremden, Race Relation Cycle, Pull- & Push-Modelle). Daran anschließend finden sich Darstellungen von umfassenderen Ansätzen der Migrationsforschung (z. B. Systemtheorien, Netzwerke, Transnationalismus). Und abgeschlossen wird das Kapitel mit der Vorstellung arbeitsmarkttheoretischer Zugänge sowie von Segmentationstheorien und Arbeiten über migrantisches Unternehmertum. Wann immer es möglich ist, wird auf die geographischen Aspekte der jeweiligen Theorien hingewiesen oder, und dies ist speziell bei den kenntnisreichen Erläuterungen zum Transnationalismus oder zum Fall des migrantischen Unternehmertums der Fall, werden geographische Arbeiten relativ zentral gestellt.

Ganz ähnlich präsentieren sich die Kapitel 3 und 4. Hier gelingt es der Autorin sehr unterschiedliche Migrationen, samt der Gesellschafts- und Raumordnungen in denen sie stattfanden oder noch immer stattfinden, lebendig werden zu lassen. Ganz gleich ob es um Wanderungen vor über 200.000 Jahren oder um aktuelle Migrationspolitiken geht, Hillmann berichtet kurzweilig und eingängig, zeigt unvermutete Parallelen auf und weist immer wieder ohne großes Aufhebens auf die gesamtgesellschaftliche Relevanz des Themas Migration hin. Besonders hervorzuheben ist, dass die empirischen Schwerpunkte auf Deutschland und Europa nicht zu einer isolierten und selbstzentrierten Betrachtung führen, sondern der Welthorizont stets mitgeführt wird. In der Lehre sollte es so gelingen, an die Wissensstände der Studierenden anzuschließen und im gleichen Moment die Füße der Studierenden auf weiten Raum zu stellen.


3    Schattenseiten des Buches
Gleichwohl die gewählte Mischgliederung von Souveränität zeugt, hätte sie feiner abgestimmt werden können. Ein paar Beispiele: Warum wird zwischen den neuen Geographien der Migration in Europa (Kap. 4) und Migration in globaler Perspektive unterschieden (Kap. 5), wenn doch im fünften Kapitel nichts vorkommt, was es nicht auch in Europa gab oder gäbe – sind die Ereignisse in Europa nicht von globaler Bedeutung und vice versa? Weshalb wird das sechste Kapitel mit „Metaebene“ überschrieben, wenn es um den Nexus Stadt und Migration geht? Und warum wird der psychoanalytische Beitrag Kristevas als eine geisteswissenschaftliche Perspektive klassifiziert (Kap. 2.2)? Überzeugende Antworten auf diese Fragen fallen mir nicht ein.

Auch lässt sich fragen, ob es nicht ratsam ist, die den Studierenden in der Regel vage bekannten deutschen und europäischen Migrationen systematischer in einen historischen und globalen Kontext zu rücken. Wenn ja, dann böte es sich zum Beispiel an, die europäische Geschichte der „Gastarbeit“ mit dem US-amerikanischen Bracero-Programm in Bezug zu setzen oder aber mit den im Buch erwähnten Hugenotten als frühem Beispiel von Anwerbemigrationen zu vergleichen. Derartiges geschieht aber nur selten. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Punkt Migrationsmanagement, der sich aktuell in Kapitel 4.2.3 findet (also unter Deutschland und Europa nach der Wiedervereinigung). Ist Migrationsmanagement nicht eine Erfahrung, die klassische Einwanderungsländer schon lange vor der Wende gemacht haben und ist das Migrationsmanagement der Internationalen Organisation für Migration (IOM) unter dem Motto „Managing Migration for the Benefit of All“ nicht ein zutiefst globales Phänomen (vgl. Geiger/Pécoud 2010)?

Zudem sind manche Themen nicht dort zu finden, wo man sie vermuten würde: Das Thema Spätaussiedler wäre meines Erachtens als bedeutsames Nachwendethema in Kapitel 4 zu suchen, es ist aber mit Aussiedlern verknüpft in Kapitel 3 zu finden. Gewiss, um das Thema Spätaussiedler zu verstehen, sollte man wissen, wer zuvor als Aussiedler galt, aber die große Brisanz des Themas war eben nach der Wende. Ähnlich verhält es sich mit den Ausführungen zur Segregation: Ich würde das Thema in Kapitel 2 – den theoretischen Zugängen – vermuten (etwa im Unterkapitel über „Etablierte und Außenseiter“ oder in einem fehlenden Kapitel zu Ungleichheiten), stattdessen findet man das Thema in Kapitel 6 (Die Metaebene).

In den einzelnen Kapiteln finden sich weitere Schwächen. Erstens finden sich auch für Lehrbücher unangemessene und unnötige Pauschalisierungen. So wird zum Beispiel das Konzept des „sozialen Kapitals“ als „ursprünglich“ auf Bourdieu zurückgehend beschrieben (S. 73). Es mag sein, dass das Konzept in der Geographie mehrheitlich über ihn rezipiert wurde, aber es ist zum einen viel älteren Ursprungs und kennt zum anderen markant divergierende Ausformulierungen (vgl. Halpern 2005). Es besteht gewiss keine Notwendigkeit die ganze Bandbreite der Sozialkapitaltheorien darzustellen, so aber ist die Darstellung unglücklich und ungerechtfertigt. Zweitens ist das Kapitel zu den „systemtheoretischen Argumentationen“ zu breit und zu homogenisierend angelegt. Zwischen Hoffmann-Nowotnys Theorie struktureller und anomischer Spannungen (1973), einem von Luhmann her angelegten differenzierungstheoretischen Systembegriff (Bommes 1999) und dem Systemverständnis von Giorgio Agamben (2002) liegen in meinen Augen so viele Differenzen, dass auch der als Einheit gedachte Untertitel des Kapitels – „Migration als Teil von Inklusion und Exklusion“ – keine sinnvolle Einheit mehr stiftet. Dass „der oder die Einzelne als Person“ in einer systemischen Logik „irrelevant ist“ (S. 71) und systemtheoretische Zugänge „nicht auf der Ebene des Individuums argumentieren“ (S. 70) trifft so schlicht nicht zu (vgl. z. B. die Darstellung der Einzelfälle bei Pott 2002). Drittens verwundert die vollständige Abwesenheit von Hartmut Essers Beiträgen (insbesondere 1980). Auch wenn man die Theoriearchitektur Essers nicht stützt, so sind seine Beiträge in meinen Augen zwingend zu erwähnen. Allein schon die Tatsache, dass hier eine elaborierte Theorie der Assimilation und Integration vorliegt, die paradigmatisch für eine auch international präsente Sicht auf Migration ist und ein in der Öffentlichkeit permanent diskutiertes Thema zum Gegenstand hat, wären zwei ausreichende Gründe für eine Erläuterung. Dass das von Esser ausgearbeitete Beobachtungsraster sich in Variation auch in zahlreichen geographischen Studien wiederfindet – besonders in jenen zur sozialräumlichen Segregation –, macht eine Erörterung meines Erachtens zwingend.


4    Anmerkungen zur (sozial-)geographischen Migrationsforschung
Beim prüfenden Blick auf das Lehrbuch fallen überdies Ordnungen und Darstellungen auf, die wenig mit der Autorin selbst, aber viel mit der Lage der geographischen Migrationsforschung insgesamt zu tun haben. Eine aus der Sicht der Geographie bemerkenswerte Darstellungsform zeigt sich in Kapitel 3 zur historischen und regionalen Differenzierung in Europa und Deutschland. Hier wie anderswo betont Hillmann die geographische Relevanz aller, das heißt auch der historischen Migrationen. Ihre Aussagen belegt sie allerdings fast ausschließlich mit Werken aus der Geschichtswissenschaft: Prominent fallen zunächst Historiker wie Klaus Bade (2002) oder Dirk Hoerder (2010) auf. Mit Blick auf Migrationen im 20. Jahrhundert treten Historiker wie etwa Jochen Oltmer (2009) und Ulrich Herbert (2003) ins Zentrum der Zitationen. Mit der Politikwissenschaftlerin Karen Schönwälder (2001) tritt eine weitere Disziplin auf die Bühne – Autorinnen und Autoren aus der Geographie kommen hingegen kaum vor. Dieses Muster ist nicht als Unterlassung von Hillmann zu deuten, sondern kennzeichnet die geographische Migrationsforschung insgesamt. Im Forschungsfeld fehlt es jenseits von grundlegenden Dissertationen an Monographien mit strukturbildenden Effekten. Angesichts dieser Lage ist es nur zu begrüßen, dass Hillmann vom Grunde her mit einer weiten Optik arbeitet und es ist dem Forschungsfeld zu wünschen, dass bald auch große Werke aus der Geographie heraus entstehen.

Desweiteren fällt insbesondere im vierten Kapitel die politische Dimension oder die Politisierung von Migrationen ins Auge. Gemäß der drei Grundthesen in diesem Kapitel, sind Migrationen in Deutschland und Europa seit dem Jahr 2000 (i) durch die zunehmende Anerkennung von Migrationen als Teil der bundesrepublikanischen Geschichte, (ii) durch den demographischen Wandel sowie (iii) durch das Wachstum von EU-Binnenmigrationen und einer Europäisierung der einst nationalen Migrationspolitiken gekennzeichnet. Insgesamt wird dem Politischen hier ein Primat eingeräumt. Dies wirft einerseits die allgemeine Frage auf, wie Migrationen insgesamt zu fassen sind und andererseits die spezielle Frage, was eine Einführung aus sozialgeographischer Perspektive – so der Untertitel – im Unterschied zu anderen Perspektiven leisten kann oder soll. Erinnert man erstens daran, dass Migrationen alle Bereiche der Gesellschaft durchdringen und begreift man die Sozialgeographie zweitens in einem umfassenden Sinn, dann folgt für eine sozialgeographische Migrationsforschung, dass sie auch alle relevanten Migrationsaspekte berücksichtigen und zueinander in Beziehung stellen sollte. Im Lehrbuch ist davon leider wenig zu spüren. Wohl auch weil ein solch umfassendes Verständnis von Sozialgeographie im Schwinden begriffen ist. So fehlt es an einem Bezugsrahmen für die einzelnen Kapitel. Im Effekt stehen Ausführungen zu politischen Regulierungen, Diskussionen um sogenannte Parallelgesellschaften oder zu wirtschaftlichen Strukturen seltsam unverbunden oder rhizomatisch zueinander. Eine solch rhizomatische Darstellung ist nicht gänzlich zu verwerfen, müsste aber vielleicht begründet werden.

Ein Effekt dieser aus meiner Sicht fehlenden Ordnung ist in Kapitel 5 – Migration in globaler Perspektive – zu erkennen. Ausgehend von kurzen Bemerkungen zur ökonomischen Globalisierung werden aktuelle Migrationsdynamiken thematisiert und erneut beeindruckt der weitgespannte Bogen: So kommen die Beispiele zu Dienstmädchen- und Pflegemigrationen, zu Umweltflüchtlingen und SaisonarbeiterInnen, um nur einige zu nennen, aus allen Regionen dieser Welt. Die Präzision der Darstellungen ist indes schwankend. Im Unterkapitel zum Klimawandel und Migration wird fast detailbesessen aus dem Bericht des Klimarates zitiert. Doch an einer anderen Stelle heißt es, dass Mobilität anders als Waren- und Kapitalkreisläufe nur schwer kontrollierbar sei (S. 160) – angesichts der Diskussion um einen Finanzmarktkapitalismus ist das eine sehr erstaunliche Einschätzung. Gewiss, viele der im Kapitel angesprochenen Sachverhalte zeichnen sich durch Ungewissheiten aus. Wenn Hillmann aber schreibt, dass in „Saudi-Arabien massenhaft Wanderarbeiter aus Indonesien“ arbeiten, in Südeuropa „Scharen von Feldarbeitern aus Nordafrika“ Obst und Gemüse pflücken und die „polnische Pflegekraft“ in Deutschland zur „gängigen Praxis“ gehört, dann sind das bildhafte Pauschalbeschreibungen von geringem Nutzen (S. 164). Eine ähnliche Strukturlosigkeit ist bei Hillmanns Ausführungen zu geschlechtsspezifischen Ordnungen der Migrationen zu spüren. Sieht man einmal davon ab, dass das Thema ein eigenes Kapitel verdient hätte, so bleiben die durch Migrationen bestätigten oder neu hervorgebrachten Genderordnungen sehr vage und unbestimmt:

„Die mit der Wanderung verbundenen emotionalen Kosten lassen sich geschlechtsspezifisch zuordnen. Die Kinder im Heimatland [es geht um Migrantinnen in Privathaushalten, PG] leiden unter der permanenten Abwesenheit eines Elternteils, die Eltern unter der Trennung von den eigenen Kindern. Die Migrantinnen müssen sich am Zielort neu erfinden, meist sprechen sie die Landessprache nicht. Diese in jedem Migrationsprozess entstehenden ‚sozialen Kosten‘ unterscheiden sich in ihrer Ausprägung individuell, werden jedoch immer wieder mit dem Grundmotiv der Einsamkeit und der emotionalen Vernachlässigung verbunden. Auch die Räume, die von den Migrantinnen genutzt werden, lassen sich geschlechtsspezifisch zuordnen. In der Regel haben alle Hausarbeiterinnen an bestimmten (halben) Tagen frei und versammeln sich in der Stadt an immer denselben Plätzen.“ (S. 165)

Nicht allein die Begrifflichkeiten sind unscharf (emotionale und/oder soziale Kosten). Es wird auch nicht klar, ob mit Eltern letztlich doch nur Frauen gemeint sind, ob sich nur Migrantinnen neu erfinden müssen und welche Rolle Genderordnungen nun genau spielen. Im Grunde gehen diese Passage und die kurzen nachfolgende Erläuterungen nicht über eine (defizitäre) Beschreibung der Rolle und des Status von Frauen hinaus. Über Geschlechterordnungen und deren (Re)produktionen durch Migrationen, über Ordnungen und Renditen in einer zunehmend digitalen Wirtschaft, die bestimmte Leistungen systematisch an den Rand drängen respektive zu schlechten Entlohnungen führen und so ungleiche Geschlechterrollen überhaupt erst hervorbringen, ist praktisch nichts zu lesen (vgl. z. B. Bühler 2003; Perrons 2005). Und wenig erfährt man auch über die Frage, wie etwa Karriere- und Migrationsoptionen in Paarbeziehungen ausgehandelt werden respektive wie es dazu kommt, dass Travelling Spouses eher weiblich als männlich sind (vgl. z. B. Beaverstock 2002, 534; Nisic 2010). Angesichts der einschlägigen Forschungserfahren von Hillmann ist diese Lücke verwunderlich. Angesichts der fragmentierten geographischen Migrationsforschung indes nicht.


5    Ausblick
Es ist kein leichtes Unterfangen, ein Lehrbuch zum Thema Migration zu verfassen. Allein die Beobachtung, wie zuletzt die einst relativen klaren Kategorien Mobilität, Migration und Flucht zu einem Konglomerat verschmolzen sind, zeigt an, wie sehr sich das Thema laufend wandelt. In dieser gesellschaftlichen Situation und angesichts der Tradition der geographischen Migrationsforschung als Teil der Bevölkerungsgeographie das Thema Migration in einem Lehrbuch zu fassen, ist eine Aufgabe, die Hillmann insgesamt gut gelungen ist. Aber ganz rund ist die Sache nicht geworden. In diesem Sinn sollte das Buch in Zukunft viele migrationsgeographische Veranstaltungen begleiten und zugleich weiterentwickelt werden.


Referenzen
Agamben, Giorgio 2002: Homo sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a.M.

Bade, Klaus J. 2002: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München.

Beaverstock, Jonathan V. 2002: Transnational elites in global cities: British expatriates in Singapore’s financial district. In: Geoforum 33. S. 525-538.

Bommes, Michael 1999: Migration und nationaler Wohlfahrtsstaat. Ein differenzierungstheoretischer Entwurf. Wiesbaden.

Bühler, Elisabeth 2003: Vergeschlechtlichte Orte. Einblicke in die aktuelle Gender-Forschung in der Schweiz. In: Geographische Rundschau 55. S. 45-48.

Esser, Hartmut 1980: Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Eine handlungstheoretische Analyse. Darmstadt.

Geiger, Martin/Antoine Pécoud (Hg.) 2010: The Politics of International Migration Management. Houndmills.

Halpern, David 2005: Social Capital. Cambridge.

Herbert, Ulrich 2003: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Bonn.

Hoerder, Dirk 2010: Geschichte der deutschen Migration: Vom Mittelalter bis heute. München.

Hoffmann-Nowotny, Hans-Joachim 1973: Soziologie des Fremdarbeiterproblems. Eine theoretische und empirische Analyse am Beispiel der Schweiz. Stuttgart.

Nisic, Natascha 2010: Mitgegangen – mitgefangen? Die Folgen von Haushaltsumzügen für die Einkommenssituation von Frauen in Partnerschaften. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 62. S. 515-594.

Oltmer, Jochen 2009: Migration im 19. und 20. Jahrhundert. München. (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 86).

Perrons, Diane 2005: Gender Mainstreaming and Gender Equality in the New (Market) Economy: An Analysis of Contradictions. In: Social Politics. International Studies in Gender, State and Society 12. S. 389-411.

Pott, Andreas 2002: Ethnizität und Raum im Aufstiegsprozeß. Eine Untersuchung zum Bildungsaufstieg in der zweiten türkischen Migrantengeneration. Opladen.

Schönwälder, Karen 2001: Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren. Essen.

 

 

Zitierweise:

Pascal Goeke 2016: Migration lehren heißt Vielfalt ordnen. Besprechung von: Felicitas Hillmann: Migration. Eine Einführung aus sozialgeographischer Perspektive. Franz Steiner. Stuttgart 2016. (= Sozialgeographie kompakt, Bd. 4). 245 S. In: http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/2025-pascal-goeke-migration-lehren-heisst-vielfalt-ordnen

 

Anschrift des Verfassers:

PD Dr. Pascal Goeke
Geschäftsführer
Forum Internationale Wissenschaft
Universität Bonn
Heussallee 18-24
D-53113 Bonn
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