Kritische Geographie? Kritische Geographie!
Was ‘kritische Geographie’ ist bzw. sein könnte oder sollte, war die Frage, mit der wir zur Diskussion eingeladen haben. Wir sind dabei von der Annahme ausgegangen, dass die unterschiedlichsten Antworten zu erwarten wären, gründend auf divergierenden Auffassungen darüber, was unter ‘kritischer Wissenschaft’ zu verstehen sei.
Um einer Antwort auf die Frage näher zu kommen, was überhaupt in sinnvoller Weise als ‘kritisches Denken’/als ‘kritische Wissenschaft’ verstanden werden könnte, kann man (wie im Heft „Nachschlagewerke“ geschehen) Autoren der Aufklärung heranziehen, die in ihren Werken nicht nur ein allumfassendes Wissen über die Welt aufnehmen und bewahren, sondern dabei auch das ‘wahre’ oder ‘wirkliche’ von dem ‘unwahren’ bzw. ‘ideologischen’ Wissen scheiden wollten. Die Vorgaben bzw. Zielsetzungen der Aufklärer, über die Mehrung solchen Wissens auf eine vernünftig organisierte – und in diesem Sinne auch: ‘fortschrittliche’, ‘humane’ und letztlich herrschaftsfreie – Gesellschaft hinzuzielen, erleichtern es jedoch nicht in jeder Hinsicht, weder im historischen Rückblick noch in der gegenwärtigen Reflexion, zwischen traditionellem und kritischem Denken zu unterscheiden, zumal selbst die Gegenaufklärer jederzeit sich auf die ‘Vernunft’ im Denken berufen und Ansprüche auf die ‘Kritik’ der Gesellschaft für sich geltend machen können.
Das vorstehend Aufgeführte lässt darüber hinaus auch die Gefahr aufscheinen, einer zirkulären Definition von ‘kritischer Wissenschaft/Geographie’ zu verfallen: ‘kritisch’ wäre demnach eine Wissenschaft/Geographie, wenn sie Kritik an der (gesellschaftlichen) Wirklichkeit äußerte. Um dieser Zirkeldefinition zu entgehen: Müsste in die inhaltliche Bestimmung einer spezifischen Art von ‘kritischer Wissenschaft/Geographie’ und deren Unterscheidung von anderen sich als ‘kritisch’ verstehenden Positionen dann nicht ein zusätzliches Kriterium eingehen, z. B. weiter reichende, tiefer gehende – und in dieser Hinsicht
also: bessere – Erklärungen der (gesellschaftlichen) Realität liefern zu können? (Denn ‘Kritik’ allein sollte ja doch das Kriterium für eine jede gute Wissenschaft sein, wie Kritik ein nicht-beliebiger, unentbehrlicher Bestandteil von Wissenschaft insgesamt ist!)
Dazu kommt die Schwierigkeit, überhaupt zwischen traditionellem und kritischem Denken deutlich unterscheiden zu können, was vor allem daran liegen dürfte: Solange ‘Vernunft’ und ‘Kritik’ als überhistorisch-abstrakte Kategorien angesehen werden, ist kein
Unterschied zwischen ‘herkömmlicher’ und ‘fortschrittlicher’ Wissenschaft und einer je sich darauf beziehenden Politik auszumachen. Erst wenn die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen das Denken über die Welt sich vollzieht, einbezogen werden in die Betrachtung der (disparaten) Vorstellungen darüber, was ‘Vernunft’ und ‘Kritik’ in einer Gesellschaft zu bedeuten haben bzw. bewirken sollen, lässt sich Traditionelles von Fortschrittlichem nicht nur in der jeweiligen Zeit, sondern auch zu verschiedenen Zeiten voneinander unterscheiden. Die Art und Weise, wie Erkenntnis gewonnen und eingesetzt wird, ist demzufolge nicht unabhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen, in denen Wissenschaft betrieben wird. Kurz ausgedrückt: Andere – oder veränderte – soziale Verhältnisse bedingen (nicht jedoch: determinieren) eine andere bzw. veränderte Form von Wissenschaft, auch kritischer Wissenschaft, präformieren und legitimieren verschiedenartige Kategorien usw.
Trotz aller Versuche, die Vernunft in der Wissenschaft und durch Wissenschaft in der Gesellschaft zu stärken, ist es jedoch fraglich, ob dies immer oder gar zwingend zu einem vernünftigeren Handeln führt. Die Frage tut sich auf, wem das neu erworbene und angehäufte Wissen in der Folge zur Verfügung steht und zu wessen Nutzen es eingesetzt wird, mit anderen Worten: ob es nicht eher als Mittel zur Ausübung von Macht und Herrschaft als zu deren Beseitigung dient. Solcherlei Zweifel haben sich auch auf die Kategorie der ‘Kritik’ selbst ausgewirkt. Kritik kann, wenn sie sich nicht ebenso auf das eigene Denken und dessen Voraussetzungen, Bindungen und Auswirkungen bezieht, totalitär werden, zumindest neue Herren produzieren. Dennoch wird an ihr festgehalten, um über die Analyse des Bestehenden eine als möglich bzw. als wünschenswert oder gar erforderlich angesehene Veränderung der wissenschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Realität aufzuzeigen. Inwiefern hierbei Bewertungen des Bestehenden oder des zu Verändernden eingehen, kann wiederum nur selbst Bestandteil einer kritischen Sichtweise sein – damit sind wir zurück bei der Aufforderung an unsere Autoren, ihre Auffassungen über das, was sie für ‘kritische Wissenschaft/Geographie’ halten, auch in dieser Hinsicht zu reflektieren und darzustellen. Ohne speziellen Inhaltsbestimmungen vorzugreifen, ist davon auszugehen, dass kritische Geographie typische Werte setzt (bzw. solche voraussetzt), nach denen die Wirklichkeit zu betrachten, zu untersuchen und womöglich einzurichten ist. Dass dabei in der Regel auch gegnerische Positionen ins Blickfeld geraten, sei hier als eine weitere (Vorweg-)Annahme angefügt. Solcherlei Gesichtspunkte für eine Darlegung der eigenen Auffassung oder einer grundsätzlichen Betrachtung über ‘kritische Geographie’ können nun selbst als Kritiken an bestimmten Inhalten des Fachs ins Spiel gebracht werden. Was also wird im Fach – wie angenommen, in durchaus unterschiedlicher Weise – als ‘kritische Wissenschaft/Geographie’ verstanden? In den zu dieser Frage eingegangenen Beiträgen verbinden die Autoren in methodischer Hinsicht Theoretisches und Empirisches, Konzeptionelles und Exemplarisches. Inhaltlich geht es in allen Artikeln überwiegend um das Problem der Macht, dies jedoch wiederum aus unterschiedlicher Perspektive und mit durchaus verschiedenen Konsequenzen für eine kritische Wissenschaft/Geographie. Wir übergeben diese Ausführungen unseren Lesern zu guter Letzt mit der Empfehlung – die ja schon der Titel des vorliegenden Hefts impliziert –, jene kritisch zu prüfen, zu beurteilen und ihnen gegebenenfalls zu widersprechen!
Fujio Mizuoka:
Subsumption of space into society and alternative spatial strategy
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Kritische Geographie und akademische Praxis: Die Zeitschrift ACME und die Politik des Veröffentlichens
Keld Buciek:
Kritische Geographie – aus einer skandinavischen Perspektive
Olaf Kühne:
Kritische Geographie der Machtbeziehungen – konzeptionelle Überlegungen auf der Grundlage der Soziologie Pierre Bourdieus
Schreibwerkstatt AK Kritische Geographie:
Zwischen den Fronten!? Junge Kritische Geographie und Gesellschaftstheorie im 21. Jahrhundert
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