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Kategorie: Rezensionen

Rainer Winter und Peter V. Zima (Hg.): Kritische Theorie heute. Bielefeld 2007. 319 S.

Der vorliegende Sammelband hat zwei Hauptschwerpunkte, einen methodologischen, in dem es um die wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen kritischer Theorie, und einen inhaltlichen, in dem es um die durch die "Dialektik der Aufklärung" ausgelöste Kulturindustriekritik geht. Die Beiträge zu dem letztgenannten Thema - v.a. Zima & Winter "Adorno als Medienkritiker", Kleiner "Wer küsst den Froschkönig heute", Schweppenhäuser "Kunst, Alltagskultur und ready-made bei Marcuse", Thomas & Langemeyer "Mediale Unterhaltungsangebote aus gesellschaftskritischer Perspektive", Srubar "Von der Macht des Kapitals zur Macht der Semiosis", - sind allesamt stark exegetisch auf Adorno bzw. Marcuse ausgerichtet. Der Tenor der Kritik läuft darauf hinaus, dass deren Kulturindustriekonzept, obwohl prinzipiell nutzbringend, doch gar zu "total systemschließend" konstruiert sei und das v.a. von den "cultural studies" herausgestellte Faktum übersehe, dass "populäre Kultur" "auch die Quelle von selbstmächtigen Variationen der präsentierten Inhalte seitens der Rezipienten" darstelle (Srubar 298).

Die methodologischen Beiträge arbeiten sich fast alle an dem mutmaßlichen "Bruch" zwischen Adorno und Habermas ab. Mit "Habermas' universalpragmatischer Variante der Kritischen Theorie" können sie sich allesamt "nicht anfreunden" (Zima 99). Die Kritik an Habermas wird dabei einmal von eher linken, an Adorno anknüpfenden Positionen aus formuliert, einmal von eher rechten, an Popper anknüpfenden. Dorn im Auge ist beiden Habermas' Bindung der Wahrheit bzw. Richtigkeit von Aussagen an die Bewährung im herrschaftsfreien Diskurs. Hiergegen setzt Steinert (stellvertretend für die eher linke Position) die "Reflexivität": Es gehe um die Kritik an "einem herrschaftlich konstituierten Denken und dadurch verzerrten Begriffen, Normen und Selbstverständlichkeiten, die im Vorgang der reflexiven Anwendung, Analyse, Korrektur, Neu-Konzeption durch Erfahrung und theoretische Arbeit modifi ziert, aufgebrochen, realitätstüchtiger, der Sache angemessener gemacht werden" (Steinert 215) müssten. Zima (stellvertretend für die eher rechte Position) setzt dagegen seine "dialogische Theorie", welche "die miteinander konkurrierenden Objektkonstruktionen" im "Dialog zwischen den heterogenen Gruppen und ihren Theorien" dem Risiko der "Erschütterung" aussetzt und dabei auf "die Kraft des befreienden, infragestellenden, innovativen und nicht-antizipierbaren Gesprächs" (Zima 108f) setzt. Das sind hier wie da fraglos sehr honorige Maximen. Worin sie sich von der Habermasschen Forderung nach Prüfung der Wahrheit bzw. Richtigkeit von Aussagen in einer argumentativen Auseinandersetzung, in der alleine der "eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments" zählt, unterscheiden, vermag ich allerdings nicht zu sehen - argumentieren heißt doch nichts anderes als das wechselseitige ("reflexive") Infragestellen von heterogenen Positionen mittels all der hier angebotenen Denkinstrumente (und vermutlich noch einiger anderer mehr). Auch wenn man, zumal als Adornianer, den unerschütterlichen Konsens- und Vernunftoptimismus von Habermas, der von seiner Koppelung der Vernunft an das "Abenteuer der Argumentation"1 (Pereda 1993, 129) durchaus abtrennbar ist, keineswegs teilen muss - Alternativen zu Letzterem sind weder Steinerts noch Zimas Vorschläge.
Ärgerlich finde ich, dass in einem Band mit dem Titel "Kritische Theorie Heute" jüngere Ansätze zu einer Neubegründung der Kritischen Theorie nach Habermas, wie die von Nancy Fraser2 und Sheila Benhabib3, völlig unberücksichtigt bleiben. Deren fundierte wissenschaftstheoretische Gedankengänge hätten gerade den methodologischen Beiträgen sehr viel mehr an Tiefe verleihen können. Viel Neues hat mir der Band nicht gebracht - und das immer noch spannende Alte der Kritischen Theorie wird in dem (in keinem der Beiträge zitierten) Sammelband von Bonß/Honneth4 von 1982 mit seinem ganz ähnlichen Anspruch sehr viel besser vermittelt.
Gerhard Hauck

Anmerkungen
1 Carlos Pereda (1993): Zwei Modelle aufgeklärter Vernunft. In: C. Menke.& M. Seel (Hg.): Zur Verteidigung der Vernunft gegen ihre Liebhaber und Verächter. Frankfurt a.M.
2 vgl. z.B. Frasers Beiträge in: N. Fraser u. A. Honneth (Hg.) (2003): Umverteilung oder Anerkennung? Frankfurt a.M.
3 vgl. z.B. Sh. Benhabib (1995): Selbst im Kontext. Frankfurt a.M.
4 W. Bonß u. A. Honneth (Hg.) (1982): Sozialforschung als Kritik. Frankfurt a.M.

Quelle: Peripherie, 28. Jahrgang, 2008, Heft 112, S. 515-516