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Kategorie: Rezensionen

John Kannankulam: Autoritärer Etatismus im Neoliberalismus - Zur Staatstheorie von Nicos Poulantzas. Hamburg 2008. 351 S.

Mit seiner Monographie knüpft John Kannankulam an eine Reihe neuerer Arbeiten an, in denen die Aktualität materialistischer Staatstheorie im Anschluss an Nicos Poulantzas aufzuzeigen versucht wird. Wie der Titel verrät, wendet sich Kannankulam dem Konzept des autoritären Etatismus zu, mit dem Poulantzas eine neue Staatsform beschrieben hat, die er Ende der siebziger Jahre als Reaktion auf eine politische Krise heraufziehen und durch einen Verfall demokratischer Institutionen und Einschränkungen formaler Freiheiten gekennzeichnet sah.

Doch auch in der Gegenwart lässt sich eine Vielzahl politischer Prozesse identifizieren, die den von Poulantzas beschriebenen Tendenzen in nichts nachstehen: In Deutschland bestätigt das Zustandekommen des Rettungspakets für das Finanzsystem genauso wie das neue BKA-Gesetz eindrücklich seine Diagnose. So drängt sich die Ausgangsfrage des Buches, "ob Poulantzas' Konzept des autoritären Etatismus geeignet ist, aktuelle staatliche Transformationsprozesse zu erklären" (10), förmlich auf. Die Untersuchung ist entlang der daran anschließenden Frage strukturiert, "wo und wie dieses Konzept ggf. aktualisiert und erweitert werden muss, um es für aktuelle Analysen in Anschlag bringen zu können" (ebd.). Der zentrale Einsatzpunkt einer solchen Erweiterung besteht Kannankulam zufolge darin, dass Poulantzas nicht die Konsequenz aus seinem Verständnis des Staates als materieller Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse gezogen und nur unzureichend analysiert habe, welche sozialen Kräfte hinter der Durchsetzung des autoritären Etatismus standen. Diesen Mangel mittels einer "historisch-empirischen Rekonstruktion der Kräfteverhältnisse" (91) zu beheben, macht den Hauptteil der Arbeit aus.
Zunächst verhandelt der Autor jedoch einige grundlegende Probleme von Poulantzas' Staatstheorie. Sie wird mit der Marxschen Formanalyse vermittelt, um die bei Poulantzas vorausgesetzte Trennung von Staat und Ökonomie zu begründen und die strukturellen Grenzen staatlichen Handelns zu bestimmen. Die Idee, eine solche Vermittlung vorzunehmen und so das Verhältnis von sozialen Formen, Institutionen und konjunkturellen sozialen Auseinandersetzungen genauer zu fassen, ist zwar nicht neu, wird hier jedoch in bisher nicht publizierter Ausführlichkeit behandelt und fruchtbar gemacht, um Poulantzas' doppeldeutige Bestimmung der relativen Autonomie des Staates und den theoretischen Status der Hegemonie zu klären.
Mit dem so entwickelten Begriffsapparat nimmt Kannankulam dann die historisch-empirische Analyse in Angriff. Zunächst wird mit einem Blick auf den Wandel der Weltwirtschaft in der Nachkriegszeit rekonstruiert, wie durch die Liberalisierung der Finanzmärkte und die Internationalisierung der Produktion ausgehend von den USA eine finanzkapitalistische und am Neoliberalismus orientierte Kapitalfraktion heranwuchs, die es in der Krise des Fordismus schaffte, die "institutionellen Arrangements innerhalb des atlantischen Fordismus im Allgemeinen und der USA im Besonderen zu ihren Gunsten zu verschieben" (150). Diese Fraktion, so die These, habe - im Schulterschluss mit neokonservativen politischen Kräften - eine entscheidende Rolle in der Durchsetzung des autoritären Etatismus gespielt. Vor diesem Hintergrund sei dann auch Poulantzas' These "historisch plausibel" (107), dass es sich beim autoritären Etatismus um eine der damaligen Phase des Kapitalismus angemessene Staatsform und damit eine allgemeine Tendenz in allen Ländern des atlantischen Fordismus handelt. Im Anschluss daran wird die empirische Generalisierbarkeit von Poulantzas' Thesen anhand der wirtschaftsgeschichtlichen und politischen Entwicklungen in Großbritannien und in der BRD geprüft. Deutlich wird dabei zum einen, dass die - in GB mehr, in der BRD weniger - militant kämpfenden ArbeiterInnen insofern eine weitere zentrale Kraft bildeten, als sie durch ihre Militanz zur Krise des Fordismus beitrugen, auf die dann mit dem Umbau des staatsapparativen Gefüges in Richtung eines "neoliberalen autoritären Etatismus" (330) reagiert wurde. Zum anderen zeigt Kannankulam, dass dieser Umbau zwar von konservativen Regierungen begonnen, in beiden Ländern aber nach deren Ablösung auch von den sozialdemokratischen geführten fortgeführt wurde.
Der zentrale Mangel in Poulantzas' Zeitdiagnose wird also durch die Rekonstruktion der Kräfteverhältnisse einerseits im weltwirtschaftlichen, andererseits im länderspezifischen Kontext behoben. Allerdings rächt sich gerade im letzten Teil diese strikte Einteilung der Untersuchung. Die Frage, inwiefern die in den Ländern sich vollziehende Machtverschiebung hin zur Exekutive - ein zentrales Element des autoritären Etatismus - mit der zunehmenden Bedeutung politischer Prozesse und Entscheidungen auf der supra- und internationalen Ebene zusammenhängt, gerät dabei aus dem Blick und wird nicht systematisch verfolgt. Ein Zusammenhang wird am Schluss lediglich behauptet. Auch an dieser Stelle wäre Poulantzas' Konzept in Richtung der methodischen Frage zu erweitern gewesen, welcher Stellenwert heute der supra- und internationalen Ebene in der Erklärung nationalstaatlicher Transformationsprozesse zukommt. Methodisch bleibt zudem im Übergang vom theoretischen zum historisch-empirischen Teil der Arbeit unklar, worin die angekündigte "Operationalisierung der historisch-empirischen Rekonstruktion der Kräfteverhältnisse" (91) bestehen soll.
Am Ende erreicht das Buch aber dennoch das gesetzte Ziel, die Aktualität und das Erklärungspotential des Konzepts des autoritären Etatismus und damit der Staatstheorie von Poulantzas nachzuweisen. In den einzelnen Teilen wird überzeugend dargelegt, wie die staatstheoretischen Begriffe zur Interpretation historischer Entwicklungen nutzbar gemacht werden können. Zwar wäre eine ausführlichere Diskussion methodologischer und methodischer Fragen wünschenswert gewesen, aber es werden diverse Anknüpfungspunkte für solche weitergehenden Diskussionen geliefert - und es wird deutlich, warum es sich lohnt, sie zu führen.
Robin Mohan

Quelle: Peripherie, 29. Jahrgang, 2009, Heft 113, S. 114-115