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Kategorie: Rezensionen

Naomi Klein: The Shock Doctrine. The Rise of Disaster Capitalism. New York 2007. 576 S. [dt.: Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen- Kapitalismus  Frankfurt/M 2007. 783 S.]

Wie einst fürs Kapital gilt für den Neoliberalismus: Er kommt "blut- und schmutztriefend " zur Welt (Marx, Kapital I, MEW 23, 788). Von Chile über den Irak bis New Orleans untersucht Klein die Rolle, die Gewalt und Terror als Geburtshelfer marktradikaler Reformen spielen. Es bedurfte einiger "Schocks", um ihn in Ländern zu implementieren, die normalerweise seine Einführung abgelehnt hätten. Staatsstreiche, ökonomischer Zusammenbruch oder Naturkatastrophen fungieren als willkommene Helfershelfer einer ursprünglichen Akkumulation, die öffentliches Eigentum massenhaft in private Hände bringt.

Dieser Prozess hat seinen Wirkungskreis in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten kontinuierlich erweitert. Die gegenwärtige Phase des "Katastrophenkapitalismus" sei gekennzeichnet durch "orchestrated raids on the public sphere in the wake of catastrophic events, combined with the treatment of disasters as exciting market opportunities" (6). Das Bush-Regime instrumentalisierte das Trauma des 11. Septembers, um auch die USA einer Schocktherapie zu unterziehen, die in einem Ausmaß Staatsfunktionen privatisierte, dass man von einer "fully articulated new economy" sprechen kann. Tatsächlich lässt sich sagen, dass die "disaster economy" die drohende Rezession verhindert hat (14). Dabei ist diese unmittelbar gewaltförmige kapitalistische Akkumulation Resultat eines weit zurückreichenden politischen Projekts.
Die Durchsetzung des Neoliberalismus ist eine Konterrevolution, deren geistiger Architekt Milton Friedman heißt: "What they wanted was not a revolution exactly but a capitalist reformation: a return to uncontaminated capitalism" (53). Friedmans Hauptgegner war dabei nicht in erster Linie der marxistische Sozialismus, sondern das gemischtwirtschaftliche System. Seine Hoffnung, dass seine Studenten in ihre Heimatländer zurückkehren und dort seine Theorien in die Praxis umsetzen würden, erwies sich jedoch als unrealistisch, denn seine "Chicago Boys" stießen dort in den 1960er und 1970er Jahren auf Desinteresse oder Widerstand. Der Marktradikalismus erwies sich in demokratischen Staaten als nicht mehrheitsfähig. Die Idee, sich Krisen und Katastrophensituationen zunutze zu machen, um die eigene Agenda voranzutreiben, "has been the modus operandi of [...] Friedman's movement from the very beginning" (9). Auch der Begriff des "shock treatment" stamme von Friedman (7).
Zwar sind die Hintergründe des Pinochet-Putsches längst bekannt, doch Klein kann die Rolle der Chicago Boys auch über den Putsch hinaus detailliert dokumentieren. Zur selben Zeit, als die CIA und das chilenische Militär die Eliminierung Allendes und seiner Unterstützer planten, saßen die chilenischen Chicago-Absolventen in Santiago und arbeiteten eifrig an der Umsetzung ihrer Zukunftspläne. Ihre fünfhundert Seiten starke Blaupause mit dem Kosenamen "The Brick" konnte indes nicht verhindern, dass die chilenische Ökonomie zusammenbrach. In zahlreichen Briefen Friedmans wurde Pinochet empfohlen, radikalere Maßnahmen zu wagen. Pinochet brachte sein "highest and most respectful regard for you" zum Ausdruck und versicherte Friedman, dass seine Pläne vollständig umgesetzt würden (81). Außer dem "Ziegelstein" kamen die von Ewen Cameron durchgeführten, gleichfalls CIA-fi nanzierten psychiatrischen Forschungen an der McGill University in Montreal zum Einsatz. Die Experimente an ahnungslosen Patienten mit dem Ziel systematischer Gedächtnisauslöschung zielten auf die Effektivierung von Foltermethoden und fanden ihren Weg auch in den Irak. Chicago-Ökonomen und Montreal-Psychiater arbeiteten komplementär, und Klein schlussfolgert, dass der Neoliberalismus die gewaltsame Umpolung sowohl der individuellen Charakterstrukturen als auch der Wirtschaftssysteme zur Voraussetzung hat, denn in Gesellschaften mit fest verankerten Solidaritäts- und Gemeinschaftskulturen kann er sich nicht festsetzen.
Friedman und Co. wehrten sich dagegen, dass ihre Reformen mit den Verbrechen der von ihnen beratenen Regime in Verbindung gebracht wurden. Dabei erhielten sie Schützenhilfe von der damals entstehenden ›Menschenrechtsindustrie‹. Klein zeigt, wie die Ford Foundation, die zunächst eine der führenden Anwälte marktradikaler Reformen in der Dritten Welt war, sich zunehmend der Finanzierung von Menschenrechtsgruppen zuwandte, als es schwieriger wurde, die Menschenrechtsverletzungen zu kaschieren. Die Geldmittel flossen dabei ausschließlich an Gruppen, die allein auf die Verbrechen der Regime hinwiesen, dabei aber den radikalen Systemwechsel in der Wirtschaft unerwähnt ließen: "That omission has played a disfiguring role in the way the history of the freemarket revolution has been told" (124).
In den 1990er Jahren genügte die strukturelle Gewalt der "außerordentlichen Umstände", um zahlreiche Länder gefügig zu machen. In Polen akzeptierte die erste postkommunistische Solidarnosc-Regierung die von Jeffrey Sachs empfohlene Schocktherapie. Hier und in anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks stießen die marktradikalistischen Versprechungen auf offene Ohren. In Südafrika handelte Mbeki vom ANC mit der letzten Apartheid-Regierung die neoliberalen Übergangsbedingungen aus, während die ANC-Basis von seinen Machenschaften keine Ahnung hatte. Nichtsdestotrotz blieben diese › gewaltlosen‹ Formen der Schocktherapie Ausnahmen. In Russland gelangte Jelzin 1993 durch seine "Pinochet-Option" an die Macht, nachdem die Bevölkerung Parlamentsabgeordnete gewählt hatte, welche die Schocktherapie ablehnten. Nach China wurde Friedman 1980 und 1988 als Ratgeber persönlich eingeladen. In der Beurteilung des Tiananmen-Massakers bezieht sich Verf. auf Wang Hui, der die Protestbewegung als einen breit angelegten Aufstand interpretiert, bei der die Forderung nach Demokratie erhoben wurde, um der wachsenden sozialen Ungleichheit -- als einer Folge der rapiden Wirtschaftsreformen -- Herr zu werden. Deng Xiaoping sei sich schon 1983 im Klaren darüber gewesen, dass ökonomische Reformen zwangsläufig mit staatlicher Repression einhergehen müssen.
In den späten 1990er Jahren war die Eroberung der Kommandohöhen von IWF, Weltbank und US-Finanzministerium durch die Chicago Boys abgeschlossen. Die Ostasienkrise 1997 erlaubte es, erfolgreiche staatsinterventionistische Ökonomien neoliberal zu ›schocken‹. Länder wie Thailand und Südkorea "were victims of pure panic, made lethal by the speed and volatility of globalized markets" (264). IWF und US-Finanzministerium unternahmen zunächst nichts, als die Ökonomien der Region kollabierten und Millionen Menschen verelendeten. Für die Care-Pakete, die Monate später ins Land kamen, mussten die Märkte geöffnet, d.h. die nationalen Unternehmen feilgeboten werden. Der Tsunami von 2004 war eine weitere Katastrophe, bei der Hilfsmaßnahmen an die Bedingung von Liberalisierung und Privatisierung geknüpft waren. Dabei gingen die Hilfsmittel überwiegend an Kapitalisten, deren Interesse darin bestand, Fischerdörfer zu zerstören und Platz für Luxushotels zu schaffen.
Der Irak wurde der "Shock-and-Awe"-Doktrin des Pentagons unterworfen. Rumsfeld, ehemaliger US-Verteidigungsminister, selbst ein alter Freund Friedmans, privatisierte etliche Operationen des US-Militärs, einschließlich der Kampfhandlungen. Jenseits von jeglicher demokratischer Kontrolle flossen Milliarden US-Dollar an private Subunternehmer wie Halliburton, Bechtel und Blackwater. Der US-Staat hat Teile seines Kerngeschäfts an private Unternehmen übertragen. Der CIA verliert seitdem zahlreiche Beschäftigte an private Sicherheitsunternehmen. Blackwater liefert nicht nur Privatarmeen, sondern erzielt auch im Katastrophenschutz Profite. So entsteht ein "state-within-a-state that is as muscular and capable as the actual state is frail and feeble" (417).
Das Buch endet optimistisch. Im letzten Kapitel untersucht Klein die vielfältigen, progressiven wie reaktionären Formen von Widerstand weltweit. Am Vielversprechendsten sei die Entwicklung in Lateinamerika, wo Volksbewegungen linke und Mitte-Links-Regierungen an die Macht gebracht haben, die nach Jahrzehnten neoliberaler Ausplünderung demokratische Alternativen anstreben. Sie stellt die These auf, dass IWF und Weltbank hier keinen Machtfaktor mehr darstellen (457). Dabei übersieht sie allerdings wesentliche Unterschiede zwischen Lula, Kirchner oder Chávez. James Petras, ein Wissenschaftler und Lateinamerika-Aktivist, warnt zu Recht vor übertriebenen Hoffnungen. Die hohen Rohstoffpreise bieten einigen Spielraum für die Armutsbekämpfung. Dabei hat Lula anders als Chavez nicht grundsätzlich mit dem Neoliberalismus gebrochen. Tatsächlich mag sich herausstellen, dass die Bourgeoisie und Teile der Mittelschichten bloß strategisch motivierte Rückzüge vornehmen. Dass früher alles besser war, scheint sich wie ein roter Faden durch Kleins Buch zu ziehen. Eine klare Unterscheidung zwischen den verschiedenen Kapitalismusvarianten, die nach der Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg entstanden, bleibt Verf. schuldig, und sie übertreibt ferner die Unterschiede zwischen ihnen. Auch reflektiert sie nicht, dass, während Chile durch ein Militärregime zu neoliberalen Umstrukturierungen gezwungen wurde, sich das staatsinterventionistische Industrialisierungsprojekt in Südkorea ebenfalls im Zuge einer von den USA gestützten brutalen Militärdiktatur vollzog. Der Zusammenbruch des südostasiatischen Entwicklungsmodells 1997 erscheint ausschließlich als Folge von Machenschaften des US-Finanzministeriums, ohne die klassisch-kapitalistische Überakkumulationsproblematik mit einzubeziehen. Dabei legt sie trotz des Untertitels "Katastrophenkapitalismus" den Schluss nahe, dass die von ihr beschriebene Gegenwart weniger "liberal, conservative or capitalist but corporatist " sei (15). Trotz der Kritik ist das Buch höchst willkommen, dokumentiert es doch die Brutalität des heute herrschenden Kapitalismus.
Sam Putinja (Aus dem Amerikanischen von Ingar Solty)

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 146-149