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Kategorie: Rezensionen

Christorf Weckerle, Manfred Gerig, Michael Söndermann: Kreativwirtschaft Schweiz - Daten, Modelle, Szene. Basel 2008. 161 S.

Dieses grosse und gründliche Werk entliess mich grüblerisch und ein wenig ratlos, meinte ich doch bis anhin, in etwa zu wissen, was das sei, die "Kreativwirtschaft". Nun erhoffte ich mir, in aller Klarheit und Schärfe zu erfahren, was sie ausmacht, wie sie abzugrenzen ist, was sie für die Städte bedeutet, wie sie allenfalls voranzubringen ist. Der Band tut mir jedoch gleich einleitend kund, dass das Thema "nicht stromlinienförmig" behandelt werden könne und sich durch eine "gewisse Sperrigkeit" auszeichne.

Trotz dieser Warnung mache ich mich auf die Suche nach Antworten auf meine drei Leitfragen:
• Was ist die Kreativwirtschaft?
• Wer ist die Kreativwirtschaft?
• Was kann zur Förderung der Kreativwirtschaft getan
werden?
Den "definitorischen Zugängen" oder "unterschiedlichen Kreativwirtschaftsbegriffen bzw. -verständnissen supranationaler Organisationen und einzelner Staaten" ist ein erstes grosses Kapitel gewidmet, aus dem wir - nicht unbedingt überraschend - erfahren, dass jede Organisation und jeder Staat seine eigene Begrifflichkeit entwickelt hat. Ob UNESCO oder WIPO oder ILO, ob UNCTAD, WTO, OECD oder Weltbank (im Buch kann man die Auflösung all dieser Kürzel nachschlagen), jede dieser Institutionen hat ihren eigenen Begriffshimmel entwickelt. Die Amerikaner reden von creative class, die Engländer von creative and cultural industries, die Franzosen von industries culturelles und industries créatives, die Deutschen vom "Kreativsektor". Wobei die jeweiligen Definitionen von den Zielsetzungen der einzelnen Organisationen oder nationalen Politiken beeinflusst sind. Als Gemeinsamkeit in dieser Hinsicht herrscht rund um den Globus die Ansicht und Absicht, die Kreativwirtschaft sei als "Treiberin" insbesondere der urbanen Wirtschaften irgendwie zu befördern.  
Die Autoren versuchen eine Synthese dieser Ansätze, die vorerst über eine Auslegeordnung nicht hinauskommt. Im Verlauf ihrer Analyse führen sie dann aber eine Trennung zwischen "Kreativszene" und "Kreativwirtschaft" ein, was insofern geschickt ist, als die Kreativszene" einigermassen sauber abgrenzbar ist, während die "Kreativwirtschaft" nach allen Seiten ausfranst und schliesslich - für die Schweiz jedenfalls - von den verfügbaren Brandchenstatistiken her gleichsam rückwärts, aber nach wie vor unscharf definiert wird. Damit sind wir bereits bei der Frage:  
Wer ist die Kreativwirtschaft? Solange wir aus ihr die "Kreativszene" herauspräparieren, bleibt die Landschaft übersichtlich: Zur "Szene" gehören die einzelnen Künstlerinnen und Künstler aller Sparten, die Designerinnen und Designer aller Ausrichtungen, die kreativen "Kleinstunternehmen", denen die Idee, die Innovation, aber auch die Selbstverwirklichung vorerst wichtiger ist als der geschäftliche Erfolg. Ihnen gehört auch die Zuneigung der drei Autoren, was daran erkennbar ist, dass sie bei der Schilderung der "Szene" aus der betonten Nüchternheit der Darstellung ausbrechen, dass alle als eine Art Illustrationen in den Text eingestreuten Interviews mit solchen Szenenmitgliedern geführt wurden und dass die "Handlungsempfehlungen für eine Förderung" fast ausschliesslich bezüglich der Kreativszene vorgebracht werden.  
Was die gesamte Kreativwirtschaft angeht, gliedern die Autoren den "Branchenkomplex" in 13 Teilmärkte auf, die sie im Zentralteil des Bands näher beschreiben und für die Schweiz nach der Mehrwertsteuerstatistik 2001-2005 und den Betriebszählungen 2001-2005 detailliert quantifizieren:
• Musikwirtschaft
• Buchmarkt
• Kunstmarkt
• Filmwirtschaft
• Rundfunkmarkt
• Markt der darstellenden Kunst
• Designwirtschaft
• Architekturmarkt
• Werbemarkt
• Software-/Games-Industrie
• Kunsthandwerk
• Pressemarkt
• Phonotechnischer Markt
Innerhalb der Branchen- oder Teilmarktdarstellungen werden dem Leser die Unschärfe- und Abgrenzungsproblematiken deutlich. Ich greife zwei Beispiele heraus:
Dass im Teilmarkt Musikwirtschaft die Orchester und Chöre, die selbständigen Musiker und Musiklehrer, dass der Betrieb von Opern- und Konzerthäusern, die Herstellung und der Handel von und mit Musikinstrumenten und Tonträgern der Kreativwirtschaft zuzurechnen sind, leuchtet im ersten Moment ein. Doch wie steht es mit dem vielen Schund, der massenweisen unkreativen Nachahmerei, die auch in dieser Sparte produziert, distribuiert und konsumiert werden? Eine Antwort fände, wer es wagte, Qualitätskriterien zu definieren. Doch ist bei solchem Vorhaben programmiert, dass jede und jeder sich dabei verhedderte. Also nimmt die kulturwirtschaftliche Statistik einfach alles, was irgendwie mit Tönen zu tun hat, hinein, inklusive Diskotheken und Night Clubs (wobei ich nicht in Abrede stellen will, dass es kreative DJs gibt, und auch des Türstehers Gespür für den potentiellen Randalierer als eine kreative Leistung abgebucht werden kann).  
Noch deutlicher wird die Abgrenzungsproblematik zum Beispiel beim Pressemarkt. Als einer, der über viele Jahre als Journalist und Redakteur tätig war, votiere ich natürlich mit Nachdruck dafür, diese Tätigkeit als eine kreative einzustufen. Wenn nun aber gleich alle Zeitungs- und Zeitschriftenverlage mit allen ihren Produkten, gleich alle Distributionsstellen von Presseerzeugnissen, inklusive sämtlicher Kioske mit ihren Umsätzen in die Kreativstatistik einbezogen werden, wird mir doch leicht mulmig - obschon ich wiederum nicht dem Gremium angehören möchte, das entscheidet, welches Produkt "kreativ" und welches "nicht kreativ" ist, und das damit das Kriterium für eventuelle Förderungswürdigkeit setzt. Fällt mir ein: Ich schreibe hier für eine wissenschaftliche Zeitschrift. Diese wird ja wohl als Kreativprodukt eingestuft werden dürfen. Wie aber steht es mit der Wissenschaft, den Wissenschaften überhaupt, denen ja per Definition Innovation und Kreativität zugesprochen werden? Ich kann diese ganze und nicht ganz kleine "Branche" in der Darstellung der Kreativwirtschaft Schweiz nicht finden.  
Die Diskussion von Abgrenzungsfragen steuert stets einem heiklen Ziel entgegen, nämlich der Forderung nach Förderung. Die Autoren machen klar, dass gerade Politiker und Standortmarketing- Verantwortliche heute vollmundig von der Kreativwirtschaft schwärmen und sie als Motor der städtischen und regionalen Wirtschaft preisen, dann aber in eine gewisse Einsilbigkeit abstürzen, wenn nach Massnahmen der Förderung weitergefragt wird. Den Autoren dieser Untersuchung geht es auch nicht viel anders. Zum einen beschränken sie sich in der Zusammenstellung von Förderempfehlungen auf die überschaubare Kreativszene, anderseits verharren sie im Allgemeinen, ohne konkrete Ansätze und Beispiele (die es sehr wohl gibt) zu diskutieren.  


Gleichwohl seien hier zum Schluss die wichtigsten Stichworte zum Thema "Förderung der Kreativszene " zusammengestellt. Als Förderziel nennen die Autoren, die Kleinstunternehmen "in ihren spezifischen Geschäftsmodellen zu stützen" und ihnen "die Entwicklung zum etablierten Unternehmen zu ermöglichen", und als mögliche Massnahmen:
• mehr Ausbildungsangebote zum Erwerb unternehmerischer Kompetenzen,
• spezifische Weiterbildungsangebote zum Thema "reales Marktgeschehen",
• "Existenzgründungsprogramme für KMU, Startup-Initiativen und ‹venture-labs›",
• Bürgschaftsprogramme,
• Steuererleichterung oder Steuerbefreiung,
• Senkung, "bzw. Elimination" des Mehrwertsteuersatzes,
• Unterstützung über das Sozialversicherungsrecht (Altersvorsorge, Arbeitslosenversicherung),
• Schaffung von Infrastrukturen mit mietgünstigen Arbeitsräumen über die Stützung von Zwischennutzungen oder die Einrichtung eigentlicher "Kreativ-Parks",
• Bereitstellung von Dienstleistungsangeboten wie Sekretariaten.
Rudolf Schilling

 

Quelle: disP 174, 3/2008, S. 90-92