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Kategorie: Rezensionen

Martin Prinz: Über die Alpen. Von Triest nach Monaco - zu Fuß durch eine verschwindende Landschaft. München 2010. 462 S.
Nadja Klinger: Über die Alpen. Eine Reise. Berlin 2010. 317 S.

Ist es ein Zufall?
Literarische Berichte über Alpenreisen hatten seit der Entdeckung der Alpen, also ab 1765, Hochkonjunktur und erfreuten sich bis in die 1960er und 1970er Jahre hinein eines gewissen öffentlichen Interesses. Dann aber brach diese Tradition ab, wobei das allmähliche Verblassen des klassischen Bildes der Alpen als "schöner Landschaft", die Entstehung der Umweltbewegung (Fokus der öffentlichen Alpenwahrnehmung auf den Umweltzerstörungen in den Alpen: "Der Berg ruft nicht mehr, er kommt"), die Etablierung der 1968er-Bewegung (Alpen als "reaktionär" geprägter Raum: "Weg mit den Alpen - freie Sicht aufs Mittelmeer") sowie die neue Faszination ferner und exotischer Landschaften eine Rolle gespielt haben dürften.

Und nun - also nach gut 30 Jahren - erscheinen im Abstand von wenigen Monaten gleich zwei Reiseberichte über Alpenüberquerungen zu Fuß, die sogar den gleichen Titel tragen und die in zwei großen Verlagen erschienen, die üblicherweise nichts mit den Alpen zu tun haben. Ist das ein Zufall?

 


Kein Zufall, sondern Ausdruck veränderten Freizeitverhaltens
Der Rezensent ist der Meinung, dass diese zweifache Publikation des gleichen Titels kein Zufall ist, sondern nur auf dem Hintergrund eines veränderten Freizeit- und Urlaubsverhaltens zu verstehen ist. Und allein aus diesem Grund werden diese beiden Bücher, die in die Kategorie "Belletristik" fallen, hier von einem Wissenschaftler für eine geographische Fachzeitschrift besprochen.
Doch zuerst zum Inhalt der beiden Bücher selbst: Der Wiener Journalist und Schriftsteller Martin Prinz (Jahrgang 1973) überquert von Mai bis September 2008 die Alpen auf dem "roten Weg" der "Via Alpina", der von Triest mit zahlreichen "Umwegen" nach Monaco führt. Er wandert allein, ist jedoch fast immer mit der Welt technisch vernetzt, weil er dies für seine journalistische Arbeit benötigt. Da es im Winter 2007/08 und im Frühjahr 2008 auf der Alpensüdseite extrem viel geschneit hatte, kann Martin Prinz gerade im ersten Teil seiner Wanderung wegen extremer Schneehöhen eine Reihe von Etappen nicht begehen und muss sie mit dem Bus umfahren.
Die Berliner Journalistin und Schriftstellerin Nadja Klinger (Jahrgang 1965) überquert vom 15. August bis zum 4. September 2009 die Alpen auf einer selbst gewählten Route (immer jedoch auf markierten Wanderwegen, teilweise auf Abschnitten von Weitwanderwegen) vom Bodensee über den Panixer- und den Septimerpass zum Comer See. Sie wandert zusammen mit ihrer Freundin, die sie "Heidi" nennt, ist technisch nicht mit der Welt vernetzt, hat besseres Wetter als Martin Prinz, gerät aber ebenfalls in einige ausgeprägte Schlechtwetter- Situationen.
Folgende Argumente sprechen dafür, dass diese beiden Bücher keine Zufallsprodukte sind:
1. Beide Autoren wissen, dass eine so lange Alpenüberquerung zu Fuß etwas sehr Außergewöhnliches, teilweise sogar etwas Verrücktes darstellt, aber sie sind hundertprozentig davon überzeugt, dass man zu Fuß mehr erlebt, als mit dem Fahrrad oder gar mit dem PKW und dass diese Fortbewegungsart der Landschaft sehr angemessen ist. Damit repräsentieren beide den Typ des "neuen Wanderers", der sich ab den 1980er/90er Jahren allmählich herausbildet und der sich signifikant vom traditionellen Wanderer (kariertes Hemd, Knickerbockerhose, ältere Männer, konservative Gesinnung, Auftreten in Gruppen) unterschiedet.
2. Beide Autoren machen diese Wanderung zwar auch aus Interesse und Vergnügen, aber bei beiden geht es auch ganz direkt darum, als Journalist(in) und Schriftsteller(in) mit dem Bericht über die Wanderung Geld zu verdienen, wobei dieses Motiv bei Martin Prinz eine noch größere Rolle spielt, als bei Nadja Klinger (er schreibt von unterwegs Zeitungsartikel, unterbricht seine Wanderung für Lesungen und arbeitet an einigen Tagen mit einem Fernsehteam zusammen). Diese enge Verknüpfung von persönlichem Interesse und Erwerbsarbeit ist ein charakteristisches Phänomen der Postmoderne, gerade auch im Medien- und Freizeitbereich. Und dies führt dazu, dass das eigene persönliche Interesse sehr eng mit dem allgemeinen "Zeitgeist" verbunden sein muss - wenn dies nicht der Fall ist, dann ist das Ziel des Geldverdienens gefährdet. Oder anders ausgedrückt: Wenn Nadja Klinger und Martin Prinz nicht das starke Gefühl gehabt hätten, dass ihre Alpenüberquerungen bei vielen Menschen auf Interesse stoßen und Sehnsüchte wachrufen würden, dann hätten sie ihre Wanderung wohl gar nicht erst angetreten.
3. Beiden Autoren ist es gelungen, ihren Reisebericht jeweils in einem großen renommierten Belletristikverlag zu publizieren. Das ist keineswegs selbstverständlich. Dazu reicht es nicht aus, dass die Autoren selbst von ihrer Idee vollständig überzeugt sind, sondern sie müssen auch die Marketingverantwortlichen im Verlag davon überzeugen, dass das Thema ein großes Zielpublikum anspricht und dass sich das Buch in einer größeren Stückzahl auch verkaufen wird.
Diese drei Punkte sprechen dafür, dass beide Bücher in ihrer Gleichzeitigkeit Ausdruck eines neuen Freizeit- und Urlaubsverhaltens sind, bei dem Fußwanderungen (statt technische Hilfen bei der Fortbewegung), der Besuch nahe gelegener Regionen (statt weit entfernter und exotischer Reiseziele) und die Auseinandersetzung mit der durchwanderten Region eine zentrale  Bedeutung besitzen.

Das Alpenbild dieser Reiseberichte
Die traditionellen Alpenreiseberichte waren davon geprägt, dass das Bild der schönen Alpen bei ihnen im Mittelpunkt stand. Allerdings ist schon sehr früh festzustellen, dass die "Schönheit der Alpen" als Verfallsgeschichte dargestellt wird, indem das Erlebnis der Schönheit durch die technische Erschließung der Alpen (Zahnradbahnen, Standseilbahnen, Palasthotels mit städtischer Infrastruktur und bequemen "Promenaden") und eine größere Zahl von Besuchern gemindert oder verunmöglicht wird. Dieses Motiv taucht schon früh in der "Belle Epoque" (1880-1914) auf und verbindet sich nach dem Zweiten Weltkrieg leicht mit einer grundsätzlichen Tourismuskritik ("Der Tourist zerstört das, was er sucht, indem er es findet.").
Es ist jetzt sehr interessant zu analysieren, welches Alpenbild sich in diesen beiden neuen Büchern findet. Am naheliegendsten wäre das Bild der "schönen Alpen" als Verfallsgeschichte gewesen ("Die Alpen - schleichende Zerstörung eines Mythos", wie es  der Journalist Aurel Schmidt als Buchtitel formuliert hat), weil es dafür zahlreiche journalistische Vorbilder (in Büchern und besonders in Zeitschriften) gibt. Aber dieses Bild spielt in beiden Büchern als normative Leitidee keine Rolle.
Die zweite, "in der Luft liegende" Vorstellung wäre es, die Alpen als "Wildnis" wahrzunehmen, aus der der Mensch allmählich verschwindet, was für "die Natur" und insgesamt sehr positiv wäre. Aber auch diese populäre Leitidee wird nicht gewählt, genauso wenig wie die Vorstellung der Alpen als einer "verzauberten Welt", in der Sagen und Mythen noch irgendwie lebendig seien und die deshalb auf die heute so stark rational geprägten Menschen so anziehend wirkten.
Stattdessen beziehen sich beide Autoren - noch eine Gemeinsamkeit - auf das Alpenbild, das von Werner Bätzing (also dem Rezensenten) entwickelt wurde: Auf ihrer Wanderung nehmen sie die Alpen als eine Kulturlandschaft wahr, die in großen Teilen verbuscht, verwaldet und einsam wird, während die Talböden gleichzeitig verstädtern, und beide verbinden dieses Alpenbild mit grundsätzlich-kritischen Überlegungen zur Entwicklung der globalisierten Welt außerhalb der Alpen.
Auch wenn die Publikationen von Werner Bätzing über die Geographie hinaus zur Kenntnis genommen werden, so ist es doch keineswegs selbstverständlich, dass beide Autoren darauf zurückgreifen, weil die anderen Alpenbilder sehr viel populärer sind. Dies dürfte darauf hinweisen, dass sich beide doch recht intensiv mit dem Thema "Alpen" auseinander gesetzt haben, bevor sie losgezogen sind. Und weiterhin ist sehr bemerkenswert, dass beide Autoren häufig auf konkrete Aussagen von Werner Bätzing zurückgreifen, sei es in wörtlichen Zitaten, sei es in Paraphrasen, und dass diese Stellen zeigen, dass sie ihn richtig verstanden haben - auch dies ist keineswegs selbstverständlich.
Insofern kann man für eine geographische Fachzeitschrift mit einer gewissen Befriedigung feststellen, dass beide Bücher wichtige Erkenntnisse geographischer Forschungen einem sehr breiten Publikum gut vermitteln.

Zur Erzählkomposition
Beide Bücher sind dadurch geprägt, dass sie die Überquerung der Alpen als Rahmengeschichte erzählen, in die weitere Erzählstränge eingeflochten werden. Bei Martin Prinz sind dies drei Themen, nämlich grundsätzliche Reflexionen über Leben und Wirtschaften in den Alpen (die zu Grundsatzfragen in Bezug auf Geldwirtschaft und Autarkie ausgeweitet werden), seine "Frauengeschichten" ("Sabine" und "Ruth") sowie seine Familiengeschichten (mit einer sehr persönlichen Alpinismusgeschichte). Die parallele Behandlung dieser vier Erzählstränge macht das Buch etwas überladen - weniger wäre hier vielleicht mehr gewesen, und manche privaten Dinge möchte der Leser gar nicht so genau wissen.
Bei Nadja Klinger sind es insgesamt nur drei Erzählstränge: Ihre Rahmengeschichte ist stark durch schweizerische Spezifika geprägt (Unfreundlichkeit der Gastgeber, spartanische "Massenunterkünfte" mit oft recht rigiden Vorgaben der Wirte, die an ein Pfadfinder-Ambiente erinnern), und diese wurden im Herbst 2010 in Schweizer Tageszeitungen und Internetforen sehr heftig und kontrovers diskutiert. Daneben gibt es den Erzählstrang Leben und Wirtschaften in den Alpen (der hier thematisch enger an den Alpen bleibt als bei Martin Prinz) und einen Erzählstrang "Geschichten", bei dem viele Aspekte aus der Kulturgeschichte der Alpen angesprochen werden. Insgesamt ist die Erzählkomposition von Nadja Klinger einfacher, und die private Dimension tritt deutlicher zurück als bei Martin Prinz.


In beiden Texten fällt jedoch eine Eigenschaft sehr deutlich auf: Zwischen der Beschreibung der Wanderung und den grundsätzlichen Reflexionen über Leben und Wirtschaften in den Alpen gibt es - mit wenigen Ausnahmen - keine direkte Beziehung, weil beides unverbunden assoziativ nebeneinander steht. Dabei würden sich doch - aus der Sicht eines Geographen - solche Beziehungen immer wieder geradezu von selbst anbieten: Wenn ich beim Wandern auf dem Weg auf einmal auf ein Stück der alten Pflasterung treffe, dann bin ich sofort beim Thema Saumverkehr/Transitverkehr, wenn ich an verbuschenden Weiden und Ackerterrassen vorbeikomme, beim Thema Landwirtschaft und Biodiversität, wenn ich auf alte Bewässerungskanäle oder Stauseen stoße, beim Thema Wasser; wenn ich ein Dorf durchquere und die plakatierten  Veranstaltungshinweise beachte, komme ich sofort auf das Thema lokale Identität usw. Es ist etwas schade, dass die konkrete Wandererzählung und die eher allgemeinen Reflexionen auf Leben und Wirtschaften in den Alpen nicht enger miteinander vernetzt wurden - aber dazu bräuchte es vielleicht doch den Blick eines Geographen, der gelernt hat, wie man eine Landschaft "lesen" kann.

Werner Bätzing

 

Zitierweise:

Werner Bätzing: Rezension zu: Martin Prinz: Über die Alpen. Von Triest nach Monaco - zu Fuß durch eine verschwindende Landschaft. München 2010. 462 S. Nadja Klinger: Über die Alpen. Eine Reise. Berlin 2010. 317 S. In: raumnachrichten.de http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/1301-reisebericht

 


Kontakt:
Prof. Dr. Werner Bätzing
Institut fuer Geographie
Universitaet Erlangen-Nuernberg
Kochstr. 4/4
D - 91054 Erlangen
Tel.:  09131/852 26 37       
Fax:  09131/852 20 13
www.geographie.uni-erlangen.de/wbaetzing
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