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Kategorie: Rezensionen

Gerhard Fröhlich, Boike Rehbein (Hg.): Bourdieu-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Weimar 2009. 436 S.

Die Arbeiten des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930 - 2002) üben seit geraumer Zeit eine gewisse Faszination auf Geographinnen und Geographen aus. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in vielen jüngeren Qualifizierungsarbeiten im Fach wieder, die auf eine dezidiert bourdieusche Theorieperspektive setzen und aufbauend auf dem Gedankengerüst des französischen Sozialwissenschaftlers und ausgebildeten Philosophen eigene theoretisch wie empirische Perspektiven entwickeln.

Bourdieus Œuvre, schwankend zwischen einer unverkennbaren Tendenz zur theorieinternen Abschottung gegenüber äußeren Bemühungen der Reflexion von theorieimmanenten Begriffsentscheidungen auf der einen Seite, auf der anderen Seite nichts weniger adressierend als die praktische Logik der sozialen Reproduktions- und Ordnungsgenese der (westlichen) Gesellschaft, ist folglich, wenn gleich vorsichtig und mit Einschränkungen, als eine prägende Strömung innerhalb der jüngeren deutschen Sozialgeographie zu bezeichnen. Diese Prägung dürfte zu einem nicht geringen Anteil an der dezidiert räumlichen Metaphorik in der Sprache Bourdieus liegen, der als eine grundlegende Theoriefigur von einem sozialen Raum spricht, welcher sich wiederum in Felder ausdifferenziert. Ferner sind in der Geographie seit langem tradierte Begriffe ebenfalls in diesem Theoriegebäude zentral, wie zum Beispiel Kultur, Lebensstil, Klasse, Distinktion, Symbol, Markt oder Strategie.
Das im Jahr 2009 erschienene Bourdieu-Handbuch aus dem Metzler-Verlag ist ein Handbuch im besten Sinne. Es ersetzt keinesfalls eine vertiefte Auseinandersetzung mit der von Pierre Bourdieu verfassten umfangreichen Primärliteratur, noch will es sie substituieren. Die beigefügte Auflistung der in den einzelnen Artikeln des Handbuchs zitierten Arbeiten Bourdieus im Anhang liest sich wie eine Bibliographie des wissenschaftlichen Werkes des Autors und bietet einen guten Orientierungsrahmen, um die vom französischen Soziologen produzierte Textfülle für sich zu ordnen. Das Handbuch ist desgleichen keine weitere der bereits zahlreich erschienen Einführungen in das Werk Bourdieus, die mitunter arg normativ, unter Absehung einer denkbaren Offenheit an möglichen Interpretationen und adressierbaren Fragestellungen, einen Zugang von vielen möglichen Zugängen in das bourdieusche Gedankengebäude vermitteln. Vielmehr erschließt das Handbuch für den bereits (vor)informierten Leser die Bezugspunkte und Quellen, aus denen sich das Werk Bourdieus speist. Es erläutert und diskutiert die wesentlichen Begriffe der Theorie und gibt so einen kritischen Interpretationsrahmen vor, von dem aus sich weitere Erkundungen in das Feld der bourdieuschen Theorie problemlos anschließen lassen.
Die beiden Herausgeber Gerhard Fröhlich und Boike Rehbein dürfen als profunde Kenner des wissenschaftlichen Werkes von Pierre Bourdieu gelten. Der Philosoph Gerhard Fröhlich betreut die Datenbank hyperbourdieu.jku.at mit, die viele, bisher mitunter nur schwer zugängliche Aufsätze von Bourdieu als open access zur Verfügung stellt. Der Regionalwissenschaftler Boike Rehbein arbeitet dagegen an Ausweitungen der Theorie im Kontext von nicht-westlichen Gesellschaften und ist Autor eines bekannten Lehrbuchs über Pierre Bourdieu. Die Editoren haben ihr Handbuch in vier Teile gegliedert. Zunächst werden die bedeutendsten Einflüsse auf das Werk von Bourdieu dargestellt und diskutiert. Dabei folgt die Einteilung dieses ersten Abschnitts keiner systematischen, sondern einer chronologischen Ordnung. Dem folgt als Hauptteil des ganzen Buches die Darstellung der wesentlichen Begriffe der bourdieuschen Theorie. Ergänzend zu diesen Darstellungen findet sich ein Glossar im Anhang des Handbuchs, in dem weitere Begriffe kurz dargelegt werden. Aus der Perspektive der Geographie enttäuscht ein wenig, dass Bourdieus Diskussion des Raums sowohl im Hauptteil als auch im Glossar ohne Eintrag bleibt. In seinen Texten finden sich fundierte Analysen des angeeigneten physischen Raums bzw. Überlegungen zur wechselseitigen Beziehung von sozialem Raum und angeeignetem physischen Raum, ein Ausdruck mit dem Bourdieu auf die Hierarchisierung des Raumes abstellt, z.B. den Bodenwerten und Grundstückspreisen sowie den geforderten Habitus zur legitimen Okkupation bestimmter Räume. Gerade in Hinblick auf die Anschlussfähigkeit an die Humangeographie, aber auch in Hinblick auf die Tiefe und Ausformuliertheit der bourdieuschen Betrachtung der unterschiedlichen Räume, wäre ein Eintrag Raum sehr zu begrüßen gewesen. Dieser Diskussion der aus Sicht der Herausgeber wesentlichen Begrifflichkeit schließen Skizzen zu den Hauptwerken Bourdieus an, unterteilt in Frühwerke, Hauptwerke und Feldanalysen. Die Struktur trägt der Tatsache Rechnung, dass Bourdieu am Ende seines Schaffens in vergleichbarer Weise wie Niklas Luhmann jeweils Monographien zu einzelnen gesellschaftlichen Teilbereichen, in Bourdieus Terminologie Felder, publiziert hat. Das Schlusskapitel des Nachschlagewerks bildet die Rezeption Bourdieus im internationalen Kontext, die ebenfalls einen kurzen Abschnitt zur Kritik enthält.
Die einzelnen Artikel des Handbuchs weisen für sich genommen überwiegend eine hohe Qualität auf. Dazu beigetragen hat sicherlich das von den Herausgebern beschriebene peer-review Verfahren. Entweder die Texte wurden anonym in einem "Einfach-blind-Verfahren" durch andere Autorinnen des Bandes begutachtet, oder aber die Artikel wurden externen Gutachtern in einem Doppel-blind-Verfahren zugesandt. Dieses Vorgehen hat sich aus der Perspektive des Endproduktes bestens bewährt. Obschon die Herausgeber Probleme bei der Auswahl und Einwerbung der beteiligten Autorinnen und Autoren freimütig einräumen, sind prominente Bourdieu-Kennerinnen und Kenner wie Lothar Peter, Irene Dölling, Joseph Jurt, Michael Vester oder Helmut Bremer neben einigen Nachwuchswissenschaftlerinnen in dem Band vertreten. Spannend wäre eine Hinzuziehung von ausgewiesenen Vertretern einer anderen Sozialtheorie wie der soziologischen Systemtheorie gewesen, die aber gleichzeitig fundierte Kenntnisse der bourdieuschen Theorie besitzen. Auf diese Weise hätten u.U. neue Akzente in der Bourdieu-Diskussion gesetzt werden können. Hier wären unter anderem Alois Hahn, André Kieserling oder Cornelia Bohn zu nennen.
Hinsichtlich der inneren Struktur der einzelnen Artikel besteht eine Differenz zwischen den Texten zu Begriffen und Werken auf der einen Seite und zu Einflüssen und Rezeption auf der anderen Seite. Während die Beiträge zu Einflüsse und Rezeption keinen einheitlichen Aufbau aufweisen, folgen die Texte zu den Begriffen und Werken einer uniformierten Gliederung. Die Artikel zu den Begriffen verorten diese zunächst historisch, erläutern sie anschließend allgemein, diskutieren darauf aufbauend deren Bedeutungsvariation innerhalb der Theorie und schließen mit einer Darstellung der Rezeption und Kritik an diesen Begriffen. Die so dargestellten Konzepte des Handbuchs reichen von Autonomie (Manfred Russo) bis Verstehen (Sandra Beaufays) und decken selbstverständlich die wichtigen Konzepte Habitus (Boike Rehbein/Gernot Saalmann), Feld (Boike Rehbein/Gernot Saalmann), sozialer Raum (Maja Suderland), praktischer Sinn (Robert Schmidt), Klassen (Boike Rehbein/Christian Schneickert/Anja Weiß), Lebensstil (Werner Georg) oder symbolische Gewalt (Robert Schmidt) ab. Die Beiträge zu den Werken sind neben der historischen Verortung und Rezeption/Kritik dagegen mit Skizzen zum Aufbau der jeweiligen Argumentation und des Inhalts versehen.
Etwas knapp und holzschnittartig fällt im Gegensatz zur Darstellung der Werke und Begriffe die Kritik an Bourdieus Arbeiten im Schlusskapitel aus. Dies ist umso auffälliger, da die Einzelbeiträge bereits meist fundierte Kritiken an den jeweiligen Begriffen formulieren. Bourdieu erscheint im Schlussteil als ein fehlgeleiteter Anhänger Karl Poppers, der zwar Falsifikationsfähigkeit für jedwede Art Theoriebildung verlangt, aber selbst daran scheitert, ein falsifizierbares kohärentes Ganzes vorzulegen. Vielmehr konstruiere Bourdieu ein geschickt zwischen den Sphären von Ontologie und Konstruktion pendelndes Begriffsgebäude, das nur das "beste beider Welten" in Hinblick auf die eigene Position instrumentalisiere. "Die Ambivalenz von Konstruktivismus und Realismus wird von Bourdieu teilweise ausgenutzt, um seine Sozialtheorie unangreifbar zu machen" (S. 401). Bourdieus Begriffe ließen sich darüber hinaus nicht operationalisieren. Dieser Einwand verwundert umso mehr, als dass die Konzepte überwiegend aus der Empirie heraus entwickelt wurden. Letztlich sei Bourdieu, vergleichbar mit Popper und Habermas, in seinen Glauben an den wissenschaftlichen Fortschritt, an Vernunft und Aufklärung, ein hoffnungsloser Eurozentrist.


Für die Humangeographie deutlich ergiebiger als die diskutable Fundamentalkritik sind die ebenfalls skizzierten "blinden Flecken" der bourdieuschen Theorie. Mit Verweis auf die Arbeiten von Judith Butler zur sozialen Magie der Performativität zeigt sich Bourdieu unempfindlich für performative Effekte der Sprache und des Handelns. Gerade eine Kulturgeographie nach dem performative turn könnte an diese Diskussion mit ihrer Kompetenz anknüpfen, da sowohl Arbeiten von Bourdieu als auch von Butler mittlerweile prominent in der (Neuen)Kulturgeographie vertreten sind. Auch die Tatsache, dass Bourdieu Emotionen und Affekte gänzlich unberücksichtigt lässt, könnte fruchtbar für die Geographie sein. Gerade die geographies of emotion/affect seit etwa 2000 in der britischen Kulturgeographie verstärkt diskutiert, böten Möglichkeiten, an dieser Leerstelle in Bourdieus Theorie zu arbeiten. Darüber hinaus könnte das Konzept der Einverleibung (Gerhard Fröhlich) an dieser Stelle ein Scharnier zwischen Bourdieus Theorie und der Geographie bilden, da sich die Humangeographie seit dem cultural turn sensibilisiert für die Differenz von Körper und Leib zeigt. Die Tatsache schließlich, dass Globalisierung bei Bourdieu auf eine Strategie des Neoliberalismus verengt ist und keine Diskussion von denkbaren Unterscheidungen wie Tradition/Moderne oder der Konstruiertheit von Nationalstaaten mitführt, sollte Geographinnen ebenfalls interessieren. Hier wären ebenfalls weiterführende Arbeiten mit politisch-geographischen Kompetenzen denkbar.
Das Bourdieu-Handbuch ist aus mindestens zwei Gründen empfehlenswert. Es weist zum Teil hervorragende Einzelbeiträge auf, die in komplexe soziologische Felder und Begriffe kompakt und verständlich einführen, wie etwa der Beitrag von Lothar Peter und Stephan Moebius zum Strukturalismus. Damit kann es einen guten Orientierungsrahmen für das geographische Sich-Einlassen auf soziologische Theorie bieten. Mit seiner praxisorientierten Gestaltung ist es für die Erstellung von theoriegeleiteten geographischen Arbeiten sicherlich hilfreich. Darüber hinaus legt das Nachschlagewerk die Bruchstellen und "blinden Flecken" des bourdieuschen Gedankengebäudes offen, die in dieser hier präsentierten Kompaktheit ein Füllhorn an Anschlussmöglichkeiten für geographisches Arbeiten bieten.
Peter Dirksmeier


Zitierweise:
Peter Dirksmeier: Rezension zu: Gerhard Fröhlich, Boike Rehbein (Hg.): Bourdieu-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Weimar 2009. 436 S. In: raumnachrichten.de http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/1304-bourdieu


Anschrift des Autors:
Dr. Peter Dirksmeier
Humboldt-Universität zu Berlin
Geographisches Institut
Unter den Linden 6
10099 Berlin,

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