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Kategorie: Rezensionen

Bea Gomes, Walter Schicho u. Arno Sonderegger (Hg.): Rassismus. Beiträge zu einem vielgesichtigen Phänomen. Wien 2008. 292 S.

Dieses Buch reiht sich in eine stetig wachsende Anzahl deutschsprachiger Publikationen zum Thema Rassismus ein. Innovativ an dem vorliegenden Sammelband ist, dass der Fokus nicht nur auf ein Land oder eine Region gelegt wird, sondern (Anti-)Rassismen in vier Kontinenten in den Blick genommen werden. Zu der regionalen Öffnung des Sammelbandes gesellt sich eine zeitliche: Es geht um die Analyse von Rassismen in den letzten 600 Jahren.

Bei den HerausgeberInnen und dem Großteil der AutorInnen handelt es sich um an der Universität Wien, meist im Projekt Internationale Entwicklung, beheimatete WissenschaftlerInnen. Das Buch versammelt Überblicksartikel zu Rassismus im wissenschaftlichen Diskurs, in der Entwicklungszusammenarbeit, in China, im Islam, im „iberischen Entdeckungsdiskurs“ und einen tour de force durch 500 Jahre rassistische europäische Geistesgeschichte. Dazu gesellen sich wissenschaftsgeschichtliche Analysen, die die Bedeutung von Rassismus in den Werken von Jan Assmann und den drei afrikanischen Gelehrten Edward Wilmot Blyden, Africanus Horton und Joseph Renner Maxwell untersuchen, eine empirisch fundierte Diskursanalyse zu Migration und Rassismus in der österreichischen Presse und Politik sowie zwei Diskussionsbeiträge, die sich dem Themenkreis Rassismus und Antisemitismus widmen.
Im Folgenden werden einige ausgewählte, besonders fundierte und informative Artikel vorgestellt. Der Mitherausgeber Arno Sonderegger beschäftigt sich in „Geschichte und Gedenken im Banne des Eurozentrismus“ mit dem Konzept des „kulturellen Gedächtnisses“, das Jan und Aleida Assmann weit über die bundesdeutschen und Disziplinengrenzen hinaus bekannt gemacht hat. Für ihn verkörpert es ein „irregeleitetes Geschichtsverständnis und eine falsch verstandene Geschichtsschreibung“ sowie „eine verengt gefasste, europazentrierte und eurozentrische Konzeption“ (52). Er weist nach, dass Jan Assmann die Existenz eines „kulturellen Gedächtnisses“ auf Europa beschränkt und der Untersuchung anderer Gesellschaften nur insoweit Bedeutung beimisst, als diese für Europas Selbstverständnis von Bedeutung sind. Dieser binde wie Hegel „kulturelles Gedächtnis“ an eine mit Europa identifi zierte Schriftkultur (55-57) und schaffe eine Linie der Einheit zwischen Kultur, Schrift und Europa (64). Nicht-europäischen Gesellschaften gestehe er lediglich ein „kommunikatives Gedächtnis“ zu, welches nur das erinnere, was in der Gegenwart von praktischer Bedeutung sei (62). Hinzu komme, dass in der Vorstellung eines europäischen Kulturgedächtnisses nach Assmann Erfahrungen wie die gewaltsame europäische Expansion seit 1492, die das europäische Selbstverständnis fundamental präg(t)en, keinen Platz fänden und verdrängt würden (60-63). Sonderegger macht deutlich, wie stark die Assmann’sche Theorie in der Tradition westlicher Geschichtsphilosophie mit ihren rassistischen Grundannahmen steht. So erfüllen Assmanns Konzeptualisierungen alle vier zu Beginn des Beitrags postulierten Kriterien für Eurozentrismus: Behauptung der Zentralität, der  Höherwertigkeit, der Allgemeingültigkeit sowie der Beispielhaftigkeit der eigenen Sicht der Dinge (46). Auf diese Weise zeigt der Beitrag, wie stark spezifi sche Geschichtsverständnisse zur wissenschaftlichen Legitimierung von Herrschaftsverhältnissen beitragen können und dass westliche WissenschaftlerInnen sich der Verfangenheit in eurozentrischen und rassistischen Denkweisen bewusst werden müssen, um gute, nach Objektivität strebende Wissenschaft betreiben zu können.
Der Artikel von Frank Dikötter zum „Rassendiskurs in China“ macht die transnationale Dimension der Verbreitung rassistischen Denkens  deutlich. Als Ausgangspunkt seiner Untersuchung dient ihm die offi zielle chinesische Position, nach der 90% aller chinesischen StaatsbürgerInnen den Han angehörten und diese „eine homogene ethnische Gruppe [...] seien, die gemeinsame Anfänge, [...] Geschichte und [...] Territo rium teilen würden“ (119). Die Entstehung von rassistischem Denken in Politik und Wissenschaft Chinas knüpft er an das Aufkommen der so genannten Rassentheorien in der europäischen Geistesgeschichte (122). Vorher habe es zwar „negative Einstellungen hinsichtlich des physischen Erscheinungsbildes von Individuen und Bevölkerungsgruppen“ gegeben, aber es könne dabei nicht von Rassismus die Rede sein, weil „selten ein kohärentes System, das soziale Einschluss- und Ausschlussverfahren mit ähnlicher Legitimität versehen hätte“, vorlag (122). Im republikanischen China habe man sich des Konzepts „Rasse“ bedient, um „die nationale Einheit auch nach dem Kollaps des Kaiserreiches zu erhalten“ (133). Insgesamt konstatiert Dikötter, dass „Ideen wie ‘Kultur’, ‘Ethnizität’ und ‘Rasse’ von den [...] Eliten ineinander vermengt [wurden], um kulturelle Merkmale gegenüber einer imaginierten rassischen Besonderheit für sekundär zu befi nden“ (121). Im kommunistischen China wurden zwar Rassentheorien als Werkzeuge des Imperialismus angegriffen, die Vorstellung von unterscheidbaren und unterschiedlich wertigen Bevölkerungsgruppen blieb aber bestehen und dauere bis heute fort (137ff). Der Beitrag zeigt, wie flexibel die Kategorie „Rasse“ unterschiedlichen soziopolitischen Kontexten angepasst werden kann und wie diese Eigenschaft politischen und intellektuellen Eliten die Verwendung für unterschiedliche politische und ideologische Ziele ermöglicht(e). Ohne Rassismus anthropologisierend zu einer menschlichen Konstante zu machen, legt Dikötter mit seiner historisierenden und herrschaftssensiblen Perspektive überzeugend dar, wie rassistische Theorien zum Vorteil der Herrschenden in die lokalen Geschichtsvorstellungen integriert und dem gesellschaftlichen Kontext angepasst werden. Solche Erkenntisse erlauben den LeserInnen, die blutigen Unruhen in Xinjiang Mitte dieses Jahres und die hiesige Berichterstattung dazu kritisch zu bewerten. Dieser Beitrag hätte noch lesenswerter sein können, wenn der Autor zu Beginn sein Erkenntnisinteresse und seine Vorgehensweise offengelegt bzw. eine klare These formuliert hätte.
Aram Ziais Aufsatz „Rassismus und Entwicklungszusammenarbeit“ widmet sich dem sträfl ich vernachlässigten Thema der kolonialen Kontinuitäten in der Entwicklungspolitik, ihrer rassistischen Grundannahmen und der Notwendigkeit einer Dekolonisierung internationaler Zusammenarbeit. Ebenso wenig wie der Entwicklungszusammenarbeit grundsätzlich Gutes zu unterstellen ist, lassen sich alle ihre Dimensionen als Kolonialismus in disguise über einen Kamm scheren. Ziai pauschalisiert nicht, sondern analysiert genau, welche ihrer Aspekte koloniale Wissens- und Machtkonstellationen aufweisen. Er stellt die These „einer Kontinuität der westlichen Sichtweise auf die Gesellschaften Afrikas, Asiens und Lateinamerikas zwischen der kolonialen Ära und jener der Entwicklunsgszusammenarbeit“ auf (192) und kommt zu dem Schluss, dass, während der „koloniale Diskurs“ offen rassistisch ist (198), große Teile der Entwicklungszusammenarbeit verdeckt rassistische Grundannahmen und Effekte aufweisen: „Rassismus ist in der Entwicklungszusammenarbeit durch ihr koloniales Erbe und die damit verbundenen Strukturen ständig präsent“ (210). Wenn diese Erkenntnis auch nicht völlig überrascht, überzeugt dieser Beitrag doch durch seine überlegte Diskussion des Rassismusbegriffs und einer sich darauf beziehenden differenzierten Überprüfung einiger Grundannahmen und Praktiken der Entwicklungszusammenarbeit.
„Man spielt nicht ungestraft mit dem Rassenbegriff“ (18). So zitiert Sonderegger Jacques Barzun und weist darauf hin, dass sich  WissenschaftlerInnen, die Rassismus analysieren, oftmals in dessen Fallstricken verheddern und ihn so fortschreiben. Auch in einigen Beiträgen der hier besprochenen Anthologie geschieht genau dies aufgrund fehlender Sensibilität für die Effekte von Sprachgebrauch und für die rassistischen Elemente der deutschen Sprache. Ausdrücke wie „Rasse“, „rassisch“, „Schwarzafrikaner“, „Rassenungleichheit“, „Rassen-Zugehörigkeit“, „Rassenbewusstsein“, „arisch“, „Stämme“, „UreinwohnerInnen“, „Neuzeit“ tauchen häufig auf: zuweilen ohne Anführungszeichen, zuweilen mit, aber niemals mit einer Erläuterung dazu, wie man mit der Problematik umgeht, dass man bei der Rassismusanalyse Wörter verwendet, die selbst koloniales und rassistisches Denken beinhalten. Wenn Bezeichnungen wie „Dunkelhäutige“, „Farbige“, „Mestizen“ und „Schwarze“ abwechselnd und mitunter ohne Anführungszeichen verwendet werden (so z.B. in Andreas Hofbauers Beitrag „Before Multiculturalism: Hintergründe zur aktuellen Rassismusdiskussion in Brasilien“), fehlt die Distanzierung von der rassistischen Benennungspraxis mithilfe analytischer (oder politischer) Kategorien. Bedenklich ist auch, wie in Bea Gomes’ Beitrag über „Rassistische Denkkonzepte im iberischen Entdeckungsdiskurs: 15.-17. Jahrhundert“ durchweg von „Kontakt“ zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten die Rede ist: Solch neutralisierender Sprachgebrauch verharmlost die gewaltsame Dimension der europäischen Expansion nach Südamerika, bei der in den ersten Jahrzehnten bis zu 90 % der Bevölkerung umkamen. Bei einem Band, der Rassismus thematisiert, wäre eine stärkere Auseinandersetzung der HerausgeberInnen und AutorInnen mit den eigenen Ansprüchen an Untersuchungen dieses Phänomens und eine Offenlegung ihrer Diskussionen um die Verwendung von Begriffen wie „Rasse“ wünschenswert.
Insgesamt macht das Buch einerseits deutlich, wie unterschiedlich das jeweilige Verständnis davon ist, was das Phänomen Rassismus ausmacht, und andererseits, dass abstrakte Rassismusdefinitionen erst bei der Überprüfung an einem Untersuchungsgegenstand fruchtbar diskutiert werden können. Rassismen sind, soviel ist nach der Lektüre dieses Bandes sicher, nur historisch und geographisch eingebettet zu verstehen.
Auffällig ist, dass die Frage, was Rassismus ist, von einigen Beiträgen defi niert wird und andere jegliche theoretische und begriffsdefinitorische Diskussion unterlassen oder, wie der Aufsatz zu „Migration und Rassismus in Österreich“ von Michal Krzyzanowski und Ruth Wodak, durchweg eine nicht näher spezifizierte „Fremdenfeindlichkeit“ behandeln, ohne von Rassismus zu sprechen. Andere Beiträge (Rüdiger Lohlker, Henning Melber, Frank Dikötter) legen ihr  Erkenntnisinteresse nicht offen, so dass man lediglich anhand des Titels oder im Laufe der Lektüre erahnt, worauf sie hinaus wollen. Diese unterschiedliche wissenschaftliche Qualität der Artikel hinterlässt nach der Lektüre des gesamten Bandes nicht den Eindruck einer Gesamtkomposition, sondern eher den von zusammengewürfelten Beiträgen. Dennoch liefert der Band einen äußerst brauchbaren Überblick über die Fruchtbarkeit der Analyse von Rassismus in verschiedenen geographischen und zeitlichen Kontexten.
Daniel Bendix

Quelle: Peripherie, 29. Jahrgang, 2009, Heft 116, S. 136-140