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Kategorie: Rezensionen

Gaim Kibreab: Eritrea. A Dream Deferred. Abingdon (= Eastern Africa Series) 2009. 420 S.

Fast gleichzeitig mit dem in der PERIPHERIE-Ausgabe 118/119 besprochenen, von David O’Kane und Tricia Redeker Hepner herausgegebenen Band Biopolitics, Militarism and Development – Eritrea in the 21st Century erschien das vorliegende Buch zu einer sehr ähnlichen Thematik. Der Autor ist Forschungsprofessor an der London South Bank University, deren Abteilung für Flüchtlingsstudien er leitet. Er hat seit ca. 20 Jahren eine ganze Reihe von Veröffentlichungen vorgelegt,  überwiegend zu Flucht und Migration, Entwicklung, Umweltproblemen und Nachkriegssituationen in Afrika.

 

Das Buch bietet eine kritische Bestandsaufnahme der eritreischen Regierungspolitik und ihrer Folgen; es stellt die Quintessenz aus zwei Jahrzehnten Feldforschung und wissenschaftlicher Studien dar. Ziel ist es nachzuweisen, dass die mit der Unabhängigkeit versprochene gerechte und demokratische Gesellschaft nicht errichtet wurde und dass darüber hinaus die ehemalige EPLF-Führung und jetzige PFDJ-Regierung alle ihre Versprechungen gebrochen hat. Nach einer gestrafften Darstellung der Entwicklungen seit der Unabhängigkeit 1991 bzw. 1993, des so genannten Grenzkrieges mit Äthiopien 1998-2000 und der Situation nach den Ereignissen im September 2001 (Verhaftung der führenden Dissidenten) wählt Gaim Kibreab für seine Beweisführung beispielhafte Bereiche aus: Organisationen der Zivilgesellschaft, Entwicklungspolitik und internationale Unterstützung, Privatwirtschaft und Parteiunternehmen, politische Opposition und Diaspora.

Er zeigt, dass die Regierung – der Präsident und eine kleine Clique ihm völlig ergebener Kampfgenossen – allen ihren offi ziellen Erklärungen zu Mitbestimmung und Partizipation der Bevölkerung, zur Rolle von Organisationen der Zivilgesellschaft und der Privatwirtschaft, zur Ausarbeitung und Ratifi zierung einer demokratischen Verfassung und zu einem Mehrparteiensystem zum Trotz nie die Absicht hatte, diese Ziele zu verwirklichen. Vielmehr war ihre Politik von Anfang an darauf angelegt, alle Lebensbereiche unter vollständige Kontrolle zu bringen, koste es an Leben und Ressourcen, an Wirtschaftskraft, Sozialkapital und internationaler Anerkennung, was es wolle. Die Wurzeln dieser Politik reichen bis in den Unabhängigkeitskampf in den 1970er Jahren zurück. Obwohl Kibreab nicht auf das Konzept der Biopolitik zurückgreift, das die Autoren des oben genannten anderen Bandes zugrunde legen, interpretiert er die Politik der eritreischen Führung ganz in diesem Sinn.

Auch wenn der Präsident als der Hauptverantwortliche für die desaströsen Entwicklungen erscheint, weist er nicht nur der Kämpfergemeinschaft, sondern auch der Bevölkerung eine Mitverantwortung zu. Denn diese habe der EPLF freiwillig die alleinige Macht überlassen als Dank dafür, dass sie das Land befreit und in die Unabhängigkeit geführt hat. Erschütternd sind in diesem Zusammenhang die Zeugnisse ehemaliger Kampfgefährten, die zu spät ihre Mitverantwortung als Mitglieder von Regierung und Parteiführung erkannten und nach offener Kritik die namhaftesten Opfer der Repressionsmaschinerie wurden, die das Land seit dem 18. September
2001 erdrückt.

Angesichts spärlicher Archive und Statistiken stellen die vom Autor über Jahre geführten und offensichtlich sorgfältig protokollierten, ausführlichen Interviews mit VertreterInnen aller Bevölkerungsschichten – von HolzsammlerInnen bis hin zu Mitgliedern der Regierung – eine unerschöpfl iche und unschätzbare Informationsquelle dar, die wohl keine noch so landes- und sachkundigen nicht-eritreischen ExpertInnen hätten erschließen können. Akribische Analyse offizieller Dokumente sowie von Interviews vor allem des Präsidenten, aber auch seiner engsten Mitarbeiter, die zum großen Teil in Tigrinya erschienen, bilden eine weitere wichtige Grundlage für eine kritische, wissenschaftlich begründete Bewertung, die durch offi zielle Daten und Tabellen ergänzt wird. Der Band bietet eine Fülle von Erstinformationen, die in kaum einer anderen in letzter Zeit zu Eritrea erschienenen Publikation zu finden sind und die bereits bekannte Dokumente, wie den offenen Brief der G15-Dissidenten, aufschlussreich ergänzen.

Die Kapitel zu den verschiedenen Bereichen mit ihren theoretischen Exkursen eignen sich sehr gut zum Nachschlagen, wobei der ausführliche Index hilfreich ist. Gelegentliche Wiederholungen zu Themen wie Führungsstil der EPLF und der aktuellen Regierung, Grenzkrieg mit Äthiopien oder Menschenrechtslage sind dabei nicht störend, da sie unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Der untersuchte Zeitraum endet 2006. Auf Grund der zahlreichen statistischen Angaben erscheint eine möglichst baldige Aktualisierung wünschenswert. Es ist ein beachtliches Werk eines wahrhaft „concerned scholars“, dem eine breite Leserschaft zu wünschen ist, hoffentlich
in nicht zu ferner Zukunft auch in Eritrea selbst.
Eva-Maria Bruchhaus

Quelle: Peripherie, 30. Jahrgang, 2010, Heft 120, S. 521-523

 

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