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Kategorie: Rezensionen

Nikolaus Werz (Hg.): Populisten, Revolutionäre, Staatsmänner. Politiker in Lateinamerika. Frankfurt 2010. 616 S.

Pünktlich zu den Feierlichkeiten zu 200 Jahren Unabhängigkeit legt Hg. ein "Buch über Politiker in Lateinamerika mit wissenschaftlichem Anspruch" (11) vor. Er konstatiert ein "neues Interesse in Publizistik und Wissenschaft, nämlich Geschichte und Politik wieder stärker über den Lebenslauf des Einzelnen zu erschließen" (11f). Dies scheint einer Tendenz der letzten Jahre entgegenzustehen, in denen sich die Aufmerksamkeit häufig auf soziale Bewegungen und ihren Beitrag zu einer Diskreditierung neoliberaler Politiken in Lateinamerika richtete.

Doch auch diese Bewegungen entkommen nicht einer politischen Tradition in Lateinamerika, in der charismatische Persönlichkeiten die Politik sowohl in der Rechten als auch in der Linken bestimmten. Ob Chávez in Venezuela, Morales in Bolivien oder die Kirchners in Argentinien, auch für linke soziale Bewegungen spielen Einzelpersonen als Personifizierung politischer Ideen eine entscheidende Rolle. Ergänzend zu anderen Perspektiven kann ein auf Einzelpersonen angelegter Sammelband somit durchaus zum Verständnis politischer Prozesse beitragen.

Das Buch behandelt exemplarisch bedeutende Politiker von den Staatsgründungen bis in die Gegenwart. Neben Unabhängigkeitshelden wie Simón Bolívar und José de San Martin sowie ausgewählten Politikern des 19. liegt der Schwerpunkt im 20. Jh. Hg. unterscheidet zwischen Populisten, Revolutionären, Sozialisten, Reformern sowie Miltärdiktatoren. Der abschließende Aufsatz ist mit "Frauen in der lateinamerikanischen Politik" betitelt und gibt einen kurzen Überblick und einige Beispiele jenseits der männlich dominierten Politik Lateinamerikas. Denn mit Eva Perón (Evita), der früh verstorbenen und bis heute verehrten Ehefrau des populistischen argentinischen Präsidenten Juan Domingo Perón, befindet sich unter den porträtierten Persönlichkeiten nur eine einzige Frau. Die einzelnen Beiträge sind überwiegend einheitlich strukturiert. Sie behandeln Werdegang, Macht sowie Bedeutung der Politiker und schließen jeweils mit einer kommentierten Bibliographie ab.

Die sogenannten Reformer hebt Hg. gegenüber den anderen Politikertypen hervor. Mit einem Hang, deutsches Botschaftspersonal zu zitieren, porträtiert er sie größtenteils selbst und attestiert ihnen überwiegend positive politische Lebensleistungen. Zwar gelten sie heute in den meisten Ländern als gescheitert. Hg. sieht in ihnen im Gegensatz zu linken Politikansätzen jedoch die Zukunft: "Entgegen den hochtrabenden Absichtserklärungen geht es um praktische Fragen. [...] Sozial- oder christdemokratische Reformer, wie sie in Chile, Uruguay, Brasilien und mit Abstrichen auch in Peru regieren, haben darauf eher eine Antwort zu bieten als selbsternannte Revolutionäre und vollmundige Populisten" (40). Enttäuschend ist, dass eine kritische Diskussion des unscharf umrissenen und meist in denunziatorischer Absicht gebrauchten Begriffs des Populismus ausbleibt und dieser an keiner Stelle definiert wird. Zwar bemerkt Hg. in der Einleitung treffend, dass "der Begriff in Amerika nicht per se negativ besetzt" (22) ist. Im Sammelband wird Populismus jedoch durchweg abwertend mit politischer Unseriösität gleichgesetzt.

Die Qualität der Beiträge fällt sehr unterschiedlich aus und die Bewertung der Leistungen der Politiker hängt oft zu stark von der politischen Meinung der Verf. ab. In den Beiträgen zu Castro und dessen venezolanischem Bewunderer Chávez zeigt sich dies beispielhaft. Michael Zeuske gelingt eine ausgewogene Darstellung des kubanischen Alt- Revolutionärs, die verschiedene Facetten berücksichtigt und sowohl Errungenschaften als auch Versäumnisse sowie Fehlleistungen kritisch miteinbezieht. Dagegen liefert der in Caracas lehrende Friedrich Welsch mit seinem Porträt von Chávez ein gutes Beispiel für die bis in die Wissenschaft hineinreichende Polarisierung der venezolanischen Gesellschaft. Mit einer Mischung aus Fakten, Ungenauigkeiten und teilweise eigenwillig interpretierten Zitaten und Zahlen entwirft er das Bild eines "Führers" (558 u. 563) und seiner zum Autoritarismus neigenden Anhängerschaft. In Verkennung der Heterogenität des als chavistisch bezeichneten Lagers polemisiert er, Chávez sei "eine narzisstische Persönlichkeit", bei der "mehrere Kriterien des DSM-IV-Standards dieser psychopathologischen Störung als gegeben betrachtet werden können" (565). Dem Verständnis politischer Prozesse in Venezuela dient der Autor damit nicht. Die klassischen Populisten wie der Argentinier Perón oder der Brasilianer Getúlio Vargas kommen in dem Buch positiver weg, obwohl sie trotz Massenmobilisierungen demokratisch weniger legitimiert waren.

Der Sammelband bietet meist solide Einführungen in das Leben ausgewählter Persönlichkeiten, die in der Politik Lateinamerikas eine wichtige Rolle spielen oder gespielt haben. Die Leistungen von Einzelpersonen stehen als geschichtsprägende Momente im Vordergrund, während der jeweilige gesellschaftliche und politische Kontext sowie die Rolle sozialer Bewegungen sehr knapp abgehandelt werden. Beim Versuch, Geschichte und Politik über den Lebenslauf von Einzelnen zu erschließen, bleiben die Darstellungen selektiv und lückenhaft.
Tobias Lambert (Berlin)

Quelle: Das Argument, 53. Jahrgang, 2011, S. 147-148