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Kategorie: Rezensionen

Jörn Rüsen u. Henner Laass (Hg.) Humanism in Intercultural Perspective. Experiences and Expectations. Bielefeld 2009. 275 S.

Das Anliegen, „eine neue Art von Humanismus zu entwickeln“ (10), begründet Jörn Rüsen einleitend mit der Desavouierung des „traditionellen europäischen Humanismus“ durch die „traumatischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts“ einerseits sowie dem schnell heranrückenden „Zusammenstoß der Kulturen“ andererseits. Hier helfe angesichts der Notwendigkeit „gegenseitigen Verstehens“ auch kein postmoderner oder postkolonialer „Kulturrelativismus“, sondern allein „neue, leistungsfähige Vorstellungen davon, was es bedeutet, ein Mensch zu sein“.

Sie zu erarbeiten sei Aufgabe der Geistes- und Sozialwissenschaften (11). Es soll also um die Auseinandersetzung um kulturelle Differenzen und einen „langen Prozess kritischen Dialogs“ gehen (12). Grundlage des vorliegenden Buches ist eine 2006 abgehaltene Konferenz am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Die 18 Beiträge beleuchten die breite Fragestellung aus der Perspektive vor allem der Philosophie, der Geschichts- und der Religionswissenschaft, aber auch der  Soziologie, Sozial- und Kulturanthropologie.

Hervorzuheben sind zunächst die beiden einleitenden Aufsätze, die sich allgemein mit „der Herausforderung der Globalisierung“ befassen. Dipesh Chakrabarty stellt die Frage nach dem Verhältnis von Universalismus und Partikularismus durch das vielleicht überraschende Medium des „antikolonialen Humanismus von Frantz Fanon“ (28) und seiner Auseinandersetzung mit der vor allem durch Aimé Césaire und Léopold Sédar Senghor repräsentierten Négritude. Aus der Perspektive der „Achsen“, um die sich ein „antikolonialer, utopischer Humanismus“ drehe – „universal vs. partikular, ideal vs. pragmatisch, die Vergangenheit als Ressource ... vs. die Notwendigkeit, die Vergangenheit zu überwinden“ (27) – erscheint die Négritude mit ihrem Kampf gegen Assimilation und ihrem Bezug auf afrikanische Wurzeln zwar zunächst als „der Krieg des Partikularen gegen das Universelle“. Doch bei näherer Betrachtung erweist sie sich als „nicht an sich anti-universell“, auch nicht einfach im Sinne Fanons als „Wille zum Partikularismus“ (30). Vielmehr suchten Césaire, Senghor, aber auch Fanon nach einem „anderen Weg“ zu „einem universellen Humanismus“ (31), der sich gerade das im Anschluss an W.E. du Bois und Salman Rushdie am Schluss formulierte Dilemma, mit „gespaltener Zunge“ zu reden (36).

Die Widersprüche des von Europa ausgehenden und von hierher gedachten Humanismus macht Romila Thapar zum Ausgangspunkt methodologischer Kritik an dieser konventionellen Sichtweise. Nicht zuletzt wird Samuel Huntingtons grobe, aber folgenreiche These vom „Zusammenstoß der Zivilisationen“ sowohl durch den Hinweis erschüttert, dass „Zivilisation“ selbst ein exklusiv europäisches Konzept ist, und dann auch durch die Überlegung, einer der Orte, an denen Humanismus in weiterführender Weise aufzufinden sei, die aber nicht untersucht wurden, seien „die Poren multikultureller Gesellschaften“ (41), also gerade durch die empirische Negation der Vorstellung schroff voneinander abgegrenzter Zivilisationen und Kulturen. Es gehe also nicht um einen „Zusammenstoß von Kulturen, sondern um einen Zusammenstoß von Instanzen sozialer und politischer Kontrolle“, um Machtunterschiede und Machterhalt, insbesondere dort, wo diese Ansprüche in fundamentalistisch religiösem Gewand auftreten. Dies verweist zugleich auf Säkularisierung als „wichtigen Bestandteil des Humanismus“, der „für die Globalisierung bedeutsam“ ist (43). Hier plädiert Thapar weiter für die Überwindung der nationalstaatlichen, „vertikalen“ Beschränkung eines Großteils der Debatte zugunsten „lateraler“, problembezogener, „Kommunikationsnetzwerke“ (44). Dies könnte die Suche nach der „Präsenz des Humanismus in marginalen Kulturen, in den Kulturen der Anderen“ anregen, da Marginalisierten „an den Idealen und Werten des Humanismus ihrem Wesen nach gelegen ist“ (43).Diese Dezentrierung der Humanismus-Diskussion wird durch den Beitrag von Surendra Munshi anhand der Vermittlungs- und Übersetzungsbemühungen dreier indischer Denker eindrucksvoll dokumentiert: des Mönchs Swami Vivekenanda, des Dichters Rabindranath Tagore und des Philosophen und späteren indischen Präsidenten Sarvapalli Radhakrishnan. In groben Zügen entwirft Munshi ein inklusives Bild vom Menschen, dem die Möglichkeit innewohnt, die „angeborene Würde einzulösen“ (64). Aus dieser Sicht hebelt er zentrale Problematiken der westlichen Tradition wie Erbsünde und Kirchenorganisation zugunsten der „Zentralität der menschlichen Wesen“ aus (62) und verweist auf aus dieser Tradition resultierende Tendenzen der Exklusion, nicht zuletzt zwischen Zivilisierten und Unzivilisierten, ohne zu verschweigen, dass gerade der für diese Überlegungen entscheidende Hinduis mus „die unterdrückerischste Form der Ungleichheit (hervorgebracht hat), die die Menschheit je gekannt hat“ (62).

Aus insgesamt vergleichbarer Perspektive untersucht Elísio Macamo den möglichen Beitrag Afrikas zu einem in universeller Perspektive zu erarbeitenden Humanismus. Er wendet sich gegen essenzialisierende Vorstellungen von einem „wesenhaften afrikanischen Humanismus“, wie er aktuell besonders mit dem Schlagwort ubuntu verknüpft wird. Es gehe vielmehr um die „denkerische Tätigkeit, die erforderlich war, Aspekte der schwarzen Völker Südafrikas zusammenzubringen und eine kohärente Kritik ihrer historischen Erfahrung zu erarbeiten“ (71f). Im dem „kolonisierenden Humanismus der herrschenden Rasse“ entgegenstellte, „mit dem sie sich auseinandersetzten“ (33). Entscheidend ist dabei eine „Universalität, die es niemals vermögen wird, jegliches Partikulare, das sie bereichert, völlig einzuschließen und damit im Hegelschen Sinne sich zu subsumieren“ (35). Eine Konkretisierung dieser Perspektive deutet Chakrabarty in einer Bedeutungsverlagerung von der bei Césaire stark akzentuierten Sehnsucht nach „Wurzeln“ zu einem „Zuhause“ (dwelling) an, das auf „Geschichtlichkeit“ verweise, „auf die Tatsache, dass wir niemals an Orten leben, die nicht zuvor schon bewohnt waren“ (35). Dies führt freilich nicht aus den Widersprüchen heraus, sondern unterstreicht Anschluss an die Auseinandersetzung zurückgekehrter schwarzer Sklaven mit der Lebenswirklichkeit in Afrika, in der die Sklaverei nicht als „Fluch“, sondern als historische Mission selbst zur Befreiung der Welt gedeutet wurde, (74f) arbeitet Macamo die enge Verknüpfung
zwischen der Herausbildung eines Humanismus und dem „Versuch“ heraus, „für Afrika einen Platz innerhalb eines feindlichen historischen Prozesses zu finden“ (76). Mit anderen Worten lässt sich sagen, Afrika sei „lebendiger Beleg dafür, wozu die menschliche Natur unter extremer Anspannung fähig ist“ (70). Dies verweist auf die Notwendigkeit, „afrikanische Lebensformen und Traditionen“ genauer zu verstehen, sowohl durch Kritik an geläufi gen Vorstellungen von „Tradition“, wie auch durch das Ernstnehmen der Wahrnehmung von „Anthropologen, Missionaren und Reisenden“ (77) – Macamo nennt hier Leo Frobenius, Jahnheinz Jahn, David Livingstone und Placide Tempels – vor allem aber auf die Erfordernis, „die Afrikaner selbst zu berücksichtigen“ (77).

Den von Macamo eher angedeuteten historischen Kontext pointiert Muhammad Arkoun mit dem Hinweis darauf, dass „Gewalt eine systemische Kraft ist, die den Funktionsmechanismen der Globalisierung inhärent ist“ (91); daher sei es zuerst am Westen, sich mit der Problematik des Humanismus aus einanderzusetzen, sollen die zugrundeliegenden Postulate glaubwürdig bleiben. Gerade vor diesem Hintergrund klagt Arkoun gegenüber den aktuell vorherrschenden Formen eines in orthodoxer Auslegung festgefahrenen, „hochgradig ritualisierten politischen Islam“ (93) die verschütteten Chancen des „arabischen Humanismus“ (94ff) ein, der sich im 4. Jahrhundert islamischer/10. Jahrhundert europäischer Zeitrechnung als avancierteste intellektuelle Strömung der Zeit entfaltete. Die seit den Kreuzzügen anhaltende Konfrontation mit „Europa“ bzw. „seit 1945 dem Westen“ (99) führte nicht nur zu einer langfristigen Verschiebung der Machtverhältnisse und der Verfestigung eines „Staats-Islam“ (98), sondern vor allem zur Herausbildung eines kruden „‘Befreiungs’-Diskurses“ (99), welcher am Ende „Befreiungskriege oder nationale Kriege“ als „umfassende Konfrontation zweier Anti-Humanismen erscheinen lässt, die sich in Diskurse der Selbstbeweihräucherung und  Selbstrechtfertigung kleiden“ (100). Dem stehen Exklusionsmechanismen gegenüber, die in der christlichen wie in der islamischen Theologie über Jahrhunderte hinweg ausgearbeitet wurden und etwa in der Auseinandersetzung über die Aufklärung leicht abrufbar bleiben. Die entfernt an Ernst Bloch gemahnende Forderung einer „Soziologie der Hoffnung“ (103) verweist auf die Verantwortung der Intellektuellen, nicht zuletzt bei der gründlichen Revision religiöser Aussagen und bei der Wiedergewinnung des „Flusses der Offenbarung“ (107f): Damit könnte die Debatte in subversiver Weise geöffnet werden, und so wäre der „Westen jenes dialektischen Gegenparts (beraubt), der es ihm jetzt erlaubt, den Islam als Anhaltspunkt für seine Ansprüche zu nutzen, die Welt zu beherrschen sowie als leichten Vorwand für die eigenen Verfehlungen gegen den Humanismus“ (108).

Die in diesen Beiträgen recht unterschiedlich ausgeführte interkulturelle Perspektive wird leider in einer Reihe anderer Beiträge wenig eingeholt, die sich eher der Rekonstruktion von Aspekten des Humanismus in einem ganz selbstverständlich westlich gedachten Kontext oder aber dem gleichfalls konzeptionell hinter die hier skizzierten Perspektiven zurückfallenden Unternehmen widmen, in der Entwicklung des Islam oder der chinesischen Philosophie lediglich Parallelen zum Westen sogar in zeitlichen Sequenzen aufzuspüren. Andererseits zeigt Gianna Pomata nicht nur, dass, wie ihr Titel unterstreicht, „Feminismus ein integraler Bestandteil des Humanismus“ ist, sondern wie in anderer Dimension Alterität überwindbar wurde. Die Linie reicht von der Leugnung des Menschseins von Frauen bis hin zur Teilnahme von Männern an der Suffragettenbewegung, aber auch zur Artikulation des Anspruchs auf Anerkennung von Frauen durch Autorinnen der italienischen Renaissance. Jürgen Straub entwickelt ein Konzept der interkulturellen Handlungskompetenz, d.h. der Bereitschaft und der Fähigkeit, sich damit verknüpfter Differenz auszusetzen und mit ihr umzugehen. Diese Fähigkeiten lassen sich auf affektive,kognitive und Verhaltensdimensionen aufspalten; ihre Bedeutung erhalten Straubs Überlegungen aber aus der Perspektive, dass „jede Person als typische Repräsentantin oder Repräsentant der Menschheit ... interkulturelle Kompetenz besitzen oder erwerben (und dazu bereit sein) sollte“ (217). Dabei macht das Insistieren auf dieser Kompetenz „die Einheit der Menschheit zu einer praktischen Alltagsaufgabe“ (222).

Gerade auch da, wo eine interkulturelle Perspektive in den vorliegenden Beiträgen nicht ernsthaft eingenommen oder thematisiert wird, zeigen sich die großen Herausforderungen, die mit diesem Anspruch verbunden sind. Sie liegen nicht zuletzt in der Bestimmung des Zentralbegriffs, von dem sich hier fast so viele und insgesamt aufschlussreiche Versionen wie Autorin und Autoren finden lassen dürften. Dem notwendigen Dialog nicht förderlich sind die zahlreichen kleineren und manche größeren Grammatikfehler, die gelegentlich zur Konjektur zwingen.

Das kann die Bedeutung der hier aufgeworfenen Thematik nicht schmälern. Vor allem Arkoun, aber auch Macamo unterstreichen die Notwendigkeit, sich den Herausforderungen eines Dialogs in der Perspektive einer Einheit der Menschheit, die keineswegs Vereinheitlichung wäre, zu stellen. Munshi könnte der Skizzierung möglicher Lösungen hier am nächsten gekommen sein.
Reinhart Kößler

Quelle: Peripherie, 31. Jahrgang, 2011, Heft 120, S. 109-112

 

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