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Kategorie: Rezensionen

Shaswati Mazumdar (Hg.): Insurgent Sepoys. Europe Views the Revolt of 1857.  New Delhi 2011. 305 S.

1857 erschütterte ein Aufstand die britische Kolonialherrschaft in Indien. Mit seiner Unterdrückung endete die Herrschaft der Ostindischen Kompanie, Indien wurde Kronkolonie. Die Frage, wie die Ereignisse vor mehr als 150 Jahren im kulturellen Gedächtnis zu bewahren sind, ist bis heute umstritten. Shaswati Mazumdar, Germanistin an der University of Delhi, betont im Vorwort zu dem aus einer Konferenz im Rahmen des Gedenkjahres hervorgegangenen Sammelbandes, dass es sich bei dem Aufstand nicht um die Meuterei einiger Sepoy-Regimenter im Dienst der Kolonialarmee handelte, sondern um eine antikoloniale Rebellion, an der sich breite Bevölkerungsschichten beteiligten.

Sie forderte das koloniale Projekt Europas insgesamt heraus. Die Beiträge nehmen 1857 als  Medienereignis in den Blick und beleuchten die internationalen Dimensionen des Aufstands. Als erster hatte dies Karl Marx in seinen Artikeln für die New York Daily Tribune getan, in denen er beispielsweise auch einen Zusammenhang mit der Finanzkrise desselben Jahres herstellte. Im Mittelpunkt der Edition steht die Frage, wie Presse und Literatur verschiedener Länder Europas auf die Vorgänge eingegangen sind.

Zum Auftakt geht Claudia Reichel auf Theodor Fontane ein, der sich 1855-58 als Korrespondent der preußischen Kreuzzeitung in London aufhielt. Fontane machte britische Ignoranz und Arroganz gegenüber einer angeblich niedrig stehenden indischen Kultur für den Aufstand verantwortlich. Die Vorstellung, dass Europa eine mission civilisatrice haben könnte, war Fontane fremd. Ähnlich wie Marx betonte er, dass Hindus und Moslems sich verbündet hatten, um das Prinzip der britischen Kolonialherrschaft, divide et impera, erfolgreich zu unterlaufen. Er betonte die Grausamkeit der britischen Kriegsführung und geriet so zunehmend in einen Gegensatz zur redaktionellen Position der Kreuzzeitung. Um die Ansichten Fontanes zu relativieren, kommentierte die Redaktion einen seiner Artikel mit dem Hinweis, dass die Rebellen nicht vor mörderischen Aktionen gegen Frauen und Kinder zurückschrecken würden. Zur selben Zeit hielt sich auch Wilhelm Liebknecht in London auf, der nach 1848 dorthin geflohen war. Unter anderem kritisierte er in der Augsburger Allgemeinen Zeitung die barbarische Ausbeutung Südasiens durch die Ostindische Kompanie. Mit Sympathie berichtete er über eine Resolution der Chartisten, die den indischen Aufstand als gerechtfertigt ansahen. Die Aufstandsbewegung betrachtete Liebknecht als einen Faktor, der die Finanzkrise intensiviert hatte. Er empfahl den Chartisten, angesichts der Schwächung der englischen Regierung in der Doppelkrise, mit Nachdruck politische Forderungen durchzusetzen. Von der Notwendigkeit einer europäischen Kolonialherrschaft in Indien im Zeichen des Fortschritts war Liebknecht anders als Fontane jedoch überzeugt (40ff).

Für die französische Publizistik zeigt Nicola Frith, wie dort übertrieben davor gewarnt wurde, dass Großbritannien seine indische Kolonie verlieren könnte, während Indien zugleich die Fähigkeit abgesprochen wurde, sich selbst zu regieren. Chiara Cherubini wertet Leitartikel der italienischen Presse aus. Hier bot ein gescheiterter Aufstandsversuch der demokratischen Nationalbewegung im Jahr 1857 Anlass zum Vergleich. Die konservative Presse wandte sich in diesem Zusammenhang gegen Großbritannien, weil es die Subversion der Monarchie in Europa begünstige. Der katholische Flügel warf den Briten vor, an der Aufgabe der Missionierung Indiens gescheitert zu sein. Die demokratische Presse hingegen bewunderte die Tradition des britischen Liberalismus und sprach Indien die Reife für eine Nationalbewegung ab (64, 77). Weitere Artikel in dieser Sektion behandeln spanische, tschechische und bulgarische Reaktionen. Margit Köves rekonstruiert die ungarische Wahrnehmung vor dem Hintergrund des gescheiterten Unabhängigkeitskrieges 1848/49. Noch war Indien nicht ans Telegraphennetz angeschlossen, harte Informationen waren knapp und entsprechend üppig schossen die orientalistischen Projektionen ins Kraut. Zur Unterstützung Indiens konnte man sich in Ungarn nicht durchringen, für die ungarischen Liberalen besaß die britische konstitutionelle Monarchie Vorbildcharakter.

Der zweite Teil des Bandes behandelt deutsche, französische, britische, italienische, spanische und portugiesische Aufstandsliteratur. Anil Bhatti analysiert den Roman Nena Sahib oder die Empörung in Indien von Sir John Retcliffe, der in den Jahren 1858/59 unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse entstanden ist. Indien wird einerseits als tropisches Paradies, andererseits als ein höllischer Ort blutrünstiger Menschenopfer dargestellt. Die ostindische Kompanie transformiert das Land in ein Spekulationsobjekt. Der Roman schließt sich der im deutschen kolonialen Diskurs etablierten Auffassung an, dass die Deutschen im Vergleich mit den Briten die besseren Kolonisatoren seien. Bei Retcliffe sind letztere außerstande, ihre historische ›Aufgabe‹ der Kulturmission zu erfüllen. In Nena Sahib erwächst ihnen ein Gegner, dessen Barbarentum durch die Liebe seiner irischen Ehefrau zunächst gezähmt wird - ein literarischer Kunstgriff, der die koloniale Situation Irlands und Indiens parallelisiert. Zum Rückfall Nena Sahibs kommt es, als ein britischer Major seine Frau vergewaltigt. Er wird der Agent der Vergeltung, indem er eine Mörderbande in den Kampf gegen die Kolonialherren führt. Retcliffes Roman orientalisiert die Rebellen zu unbeherrschten Gewalttätern, deren angeblich essenziell rachsüchtige und sadistische Natur in der Revolte durchbricht. Nena Sahib mutiert zum radikalen Terroristen, der antikoloniale Aufstand wird auf einen Ausbruch der wilden Natur gegen die Zivilisation reduziert. Swati Dasgupta vergleicht englische Übersetzungen von Werken Jules Vernes mit dem französischen Original. Dass Vernes Kapitän Nemo sich für die Emanzipation versklavter Völker einsetzen wollte, für die Befreiung Indiens vom Joch der Kolonialherrschaft, war im England des 19. Jh. geflissentlich im Prozess der Übertragung verloren gegangen, zusammen mit anderer Kritik an Großbritannien. Verne konstruierte die Identität seines Helden in dem Roman L'Île mystérieuse so, dass er sich als indischer Prinz Dakkar entpuppt, einem Anführer der Rebellion von 1857. Vernes Prinz kultiviert einen unüberwindbaren Hass gegen England - was erst in einer amerikanischen Neuübersetzung von 1992 sichtbar wird. Während die Aufständischen bei Verne als Helden figurieren, tauchen sie in der englischen Übersetzung als Fanatiker auf. Die Engländer werden dort gerühmt, weil sie Indien vor der Anarchie gerettet und dem Land Wohlstand und Frieden gebracht hätten - nichts davon steht bei Verne. In manchen Übersetzungen fehlen bis zu 30 % des Textes. Vernes Kritik am Imperialismus sucht man in ihnen vergeblich. Das Kapitel über 1857 im Roman La Maison à vapeur hat ein Übersetzer ganz weggelassen. In einer Fußnote weist er darauf hin, dass es uninteressant sei und die Entfaltung der Geschichte aufhalte. Dort wird im Original zwar das Massaker von Kanpur kritisiert, gleichermaßen kritisch wird jedoch bei Verne auf eine Vergeltungsaktion des britischen Colonel Nicholson hingewiesen. Seine Truppen exekutieren bei dieser Gelegenheit Kriegsgefangene, indem sie diese vor die Mündungen von Kanonen binden. Der realhistorische Nana Sahib verschwand spurlos, nachdem General Henry Havelock Kanpur eingenommen hat. Das mag Jules Verne inspiriert haben, Nena Sahib in der Gestalt des Prinzen Dacca alias Kapitän Nemo auftreten zu lassen. Auf die Initiative von Shaswati Mazumdar hin sind diese Probebohrungen in europäischen Archiven auf eine erstaunliche Materialfülle gestoßen, so dass man auf weitere Arbeiten, die aus dem Kreis dieser Forschergruppe hervorgehen, gespannt sein darf. Ausgestattet ist der Band mit einer großen Zahl von zeitgenössischen Illustrationen, die nahelegen, nicht nur die textuellen, sondern auch die visuellen Repräsentationen von 1857 zum Gegenstand einer eigenständigen Untersuchung zu machen.
Thomas Schwarz (Berlin)

Quelle: Das Argument, 53. Jahrgang, 2011, S. 796-798