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Kategorie: Rezensionen

Anke Hassel u. Christof Schiller: Der Fall Hartz IV. Wie es zur Agenda 2010 kam und wie es weitergeht. Frankfurt/M-New York 2010. 348 S.

Auch fünf Jahre nach Einführung des Hartz-IV-Gesetzes wird um die Deutungshoheit über die Arbeitsmarkteffekte und sozialen Auswirkungen gestritten. Während Befürworter meinen, die Hartz-Reformen hätten mit der Etablierung eines Niedriglohnsegments in Deutschland ›Verkrustungen‹ am Arbeitsmarkt aufgebrochen und die Trendwende bei der Zahl der Arbeitslosen eingeleitet, verweisen Kritiker auf die Verfestigung von Langzeiterwerbslosigkeit sowie die Prekarisierung und Zunahme von Armut. In ihrem politikwissenschaftlichen Debattenbeitrag positionieren sich Verf. auf Seiten der Reformbefürworter.

Sie beanspruchen eine "lückenlose Analyse des Prozesses und der Faktoren, die zur Hartz-IV-Reform geführt haben" (20), und wollen dabei zu deren Ursprüngen vordringen. Die Analyse basiert auf rund 50 Interviews mit "Schlüsselakteuren der deutschen Politik" - "ehemalige Minister, Staatssekretäre, Verbandsfunktionäre, Wissenschaftler und Parlamentarier" (21). Warum es nach der Wiederwahl von Rot-Grün 2002 zur Hartz-IV-Reform gekommen sei, wird mit drei zentralen Triebkräften begründet: erstens eine veränderte sozioökonomische Basis der Sozialpolitik, verursacht durch den Schock der deutschen Einheit, Deindustrialisierung und Globalisierung und ihre Verarbeitung durch die Sozialpartner; zweitens eine neue Dynamik im  Parteienwettbewerb und drittens die Finanzkrise der Kommunen und Haushalte der Sozialversicherungen.

Verf. skizzieren zunächst das institutionelle Arrangement einer "arbeitsmarktpolitischen Stilllegungspolitik" (58) durch Frühverrentung und aktive Arbeitsmarktpolitik, wie es seit den 1970er Jahren dominiert habe. Dieses Konzept der "Wohlfahrt ohne Arbeit" (Esping-Andersen) sei die tradierte Antwort des deutschen ›konservativen‹ Wohlfahrtsstaats auf den rapiden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wandel gewesen. Es habe sich auf einen breiten Konsens von Politikern und Sozialpartnern stützen können, da Arbeiter und Unternehmer gleichermaßen davon profitiert hätten. Diese Politik habe allerdings lediglich zu einer Verlagerung der Kosten sozialstaatlicher Leistungen stattzu deren Senkung geführt. Die ruinösen finanziellen Konsequenzen hätten vor allem die Kommunen betroffen. Den Beginn der Reformdebatte machen Verf. in den 1990er Jahren aus, als diese Strategie besonders durch die arbeitsmarkt- und finanzpolitischen Folgen der Einigung an ihre Grenzen gestoßen sei. Der breite sozialpolitische Konsens sei von innen her aufgebrochen: durch die Zunahme betrieblicher Bündnisse für Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung, den graduellen Übergang zur tarifpolitisch regulierten Altersteilzeit, die Restrukturierung und verschärfte Konkurrenz der großen Unternehmen und schließlich durch ideologische und interessenpolitische Konflikte im Gewerkschaftslager.

Die Ausdifferenzierung des deutschen Parteiensystems durch die Wahlerfolge von Grünen und PDS in den 1980er und 90er Jahren und die Krise sozialdemokratischer ›Arbeitnehmerpolitik‹ hätten zu einem Umbruch im Parteienwettbewerb geführt. Während des innerparteilichen Machtkampfes, der vor diesem Hintergrund in der SPD zwischen den ›Enkeln‹ geführt wurde, habe sich in der Partei eine Lagerhaltung verfestigt und konzeptionelle Überlegungen seien dem Machterhalt innerhalb der Partei - und ab 1998 gegenüber der Opposition - untergeordnet worden. Auch nach der Regierungsübernahme Gerhard Schröders herrschte ein Ad-hoc-Stil vor, der erst vom Kanzler selbst unterbunden wurde, als dieser von der Partei zunehmend unabhängig wurde. Programmatisch wandelte sich die SPD zum Träger der Hartz-Reformen.

Herzstück der Studie ist das Kapitel zum deutschen Fiskalföderalismus. Hier begründen Verf. ihre These, dass die Wurzeln der Hartz-IV-Reform in der "Haushaltskrise der westdeutschen Städte und Kommunen" (172) lägen, die in den 1980er Jahren, insbesondere im sozialdemokratischen Stammland Nordrhein-Westfalen, begonnen hätte. Die Kommunen hätten unter der stetig wachsenden Anzahl an Sozialhilfebeziehern zunehmend finanziell gelitten. Der Bundesgesetzgeber verschärfte diese Situation, indem er einerseits die Kosten der (Langzeit-)Arbeitslosigkeit in die Kommunen verlagerte - etwa durch die zahlreichen Einschnitte bei der nationalstaatlich finanzierten Arbeitslosenhilfe -, und andererseits durch Steuerreformen die Einnahmeseite der Kommunen beschnitt. Ein "finanzieller Sachzwang", getragen von grundsätzlichen Überzeugungen der Notwendigkeit der Liberalisierung der Arbeitsmarktpolitik, hätte so einen nicht mehr aufzuhaltenden Reformdruck erzeugt. Verf. legen offen, wie lange schon die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf der Wunschliste von Sozial- und Finanzpolitikern, Verwaltungsbeamten und ›Reformern‹ stand und welche Faktoren ihre frühzeitigere Umsetzung verhindert haben. Dabei wird auch die politische ›Salamitaktik‹ von Leistungskürzungen und Pauschalierung im Vorlauf von Hartz IV deutlich.

Verf. analysieren den politischen Entscheidungsprozess zu Hartz IV aus einer Elitenperspektive. Dem entgegen steht, dass Hartz IV als politisches Projekt auf klare Ablehnung in verschiedenen Segmenten der Bevölkerung gestoßen war und massive Proteste von Arbeitslosen, Sozialinitiativen und Gewerkschaften hervorgerufen hatte und die parteipolitische Landschaft in Deutschland noch einmal nachhaltig veränderte. Die Protestbewegung gegen Hartz IV muss in der Perspektive auf die Entscheidungszirkel zwangsläufig übergangen und auf einen Konflikt zwischen gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Eliten verkürzt werden. Die Konflikte werden so auf finanzpolitische Interessen im politischen Aushandlungsprozess verengt. Ärgerlicherweise schreiben Verf. bestimmte Mythen fort - wie etwa den einer Öffnung des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums für Sozialhilfeberechtigte durch Hartz IV. Dabei ist dieses politische Reformversprechen nie verwirklicht worden. Mit der Aufsplitterung der Arbeitsmarktpolitik auf zwei Rechtskreise und der Ökonomisierung der Arbeitsverwaltung, hat sich ein Zwei-Klassen-System und spezifisches Muster der Arbeitsförderung herausgebildet: Arbeitslose im SGB II werden seltener qualifiziert oder weitergebildet und erhalten seltener Lohnkostenzuschüsse als die Arbeitslosen im SGB III. Eine Berücksichtigung der fachlichen und politischen Diskussion um diese wesentlichen Aspekte von Hartz IV lässt der Band leider vermissen.
Christian Schröder (Berlin) und Leiv Eirik Voigtländer (Oldenburg)

Quelle: Das Argument, 53. Jahrgang, 2011, S. 777-779