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Kategorie: Rezensionen

Stephan Moebius u. Dirk Quadflieg (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart, 2., erweit. u. aktual. Aufl. Wiesbaden 2011. 785 S.

Der Band will die theoriegeschichtlichen Wirkungen des sogenannten cultural turn aufzeigen, der die Einsichten des linguistic turn kritisch erweiternd »den Bereich der Lebensformen insgesamt« einbezieht, also »diejenigen welterschließenden symbolischen Strukturen und Sinnsysteme, durch die soziale Wirklichkeit erschaffen und ein gezieltes Handeln in der Welt möglich, aber auch begrenzt wird« (12). Subjektive Sinn- und Weltdeutungen sowie Handlungsmodalitäten sozialer Akteure sollten mehr Beachtung finden, wobei v.a. die »kulturellen Dimensionen des Sozialen« (11) von Interesse wurden. Hg. kennen zwar die »Gefahr einer konturenlosen Erweiterung des Kulturbegriffs«, wollen sich aber auf keine Eingrenzung festlegen, da »eine Definition des Kulturbegriffs selbst nur innerhalb der jeweiligen theorie- und disziplinenabhängigen Konstruktion von Gegenständen und Fragestellungen kohärent möglich ist« (12).

Die Beiträge sind knapp 60 Theoretiker/innen gewidmet (nur 5 davon sind Frauen) und lesen sich selbst dann mit Gewinn, wenn einem die Vorgestellten bereits gut vertraut sind. So eröffnet etwa Bernt Schnettler ungewohnte Perspektiven, indem er die Arbeiten Thomas Luckmanns nach Beiträgen »für eine Kulturtheorie moderner Gesellschaften« (223) durchforstet, obwohl dieser keinen eigenen Kulturbegriff ausformulierte, sondern dessen inflationärer Verwendung kritisch gegenüberstand. Zu diesen Beiträgen zählt Verf. Luckmanns Religionssoziologie und mehr noch seine Theoretisierung der Strukturen der Lebenswelt, die vor jeder Kultur konstituiert und von der Alltagswelt abgegrenzt sind, die von Kommunikation und Sozialität gekennzeichnet ist. Luckmanns Schwerpunkt auf Sprache mündet in eine Theorie der kommunikativen Gattungen, die »Instrumente der Vermittlung zwischen Sozialstruktur und individuellem Wissensvorrat« (218) sind. Luckmanns sozialkonstruktivistischer Zugang hat auch Einfluss auf Hans-Georg Soeffner, der von Ronald Kurt unter dem Titel »Kultur als Halt und Haltung« besprochen wird. Damit wird auf Soeffners Verständnis des Menschen als ›Kulturmensch‹ verwiesen, »als jemand, der seinem Sein Sinn verleiht« (234). Das Kulturelle wird als spezifische »Einstellung des Menschen gegenüber sich selbst und der Welt, als Haltung und Halt in der Welt« (Soeffner, 235) beschrieben. Bei Foucault legt Christian Lavagno den Schwerpunkt auf die bekannten Entwicklungsschritte in dessen Denken, das die Analyse von Diskursen zunächst um eine Analytik der Macht erweiterte, die nicht nur deren repressive, sondern auch deren produktive Aspekte wahrnimmt, um später in den Wiedereinbezug des Subjekts und die Frage nach der Subjektwerdung des Menschen zu münden. Dieser Beitrag führt durchaus qualifiziert in das Denken Foucaults ein, was dieses aber spezifisch zu einer Kulturtheorie der Gegenwart« macht, wird nicht deutlich.

Ein Verbindendes der Artikel ist die biographische Verortung der präsentierten Theorien: »Wie alle Gedanken«, heißt es in Kurts Beitrag zu Soeffner, »sind auch die Gedanken über den Gegenstand Kultur im Zusammenhang mit der sozio-historischen Situiertheit und der besonderen biografischen Perspektive des Denkenden zu sehen.« (227) Dem entsprechend sieht Rainer Winter im Kontext seiner Ausführungen zu Stuart Hall, dessen Bedeutung als politischer Aktivist er herausstellt, keine Möglichkeit des Rückzugs »in den Bereich der Ästhetik oder des reinen Denkens«, denn der kritische Intellektuelle muss reflektieren, »wie er Teil seiner Zeit ist, wie er durch die Politiken der Repräsentation, die durch die transnationalen Kulturindustrien bestimmt werden, formiert wird« (469). ›Klassikern‹ wie Lévi-Strauss, Benjamin oder Williams sind keine eigenen Artikel gewidmet, da sie durchgängige Referenzpunkte darstellen. Mangels Personenregister bleibt es allerdings der Leserin überlassen, in den knapp 800 Seiten nach diesen Bezugnahmen zu suchen, wodurch der Band nur eingeschränkt als »Nachschlagewerk« (14) dient. Die Beiträge sind 12 Themenkomplexen zugeordnet, doch ohne vorangestellte Einleitung kann man sich unter den Schlagworten mal mehr, mal weniger vorstellen: weniger unter der Überschrift »Dynamiken der Kulturen«, unter der u.a. Robert Bellah, Samuel Huntington und Homi K. Bhabha zu finden sind, mehr unter »Perspektiven auf den Spätkapitalismus«, die nicht nur Michael Hardt und Antonio Negri einnehmen, sondern auch Fredric Jameson, dem im Band die Rolle zukommt, »Marxistische Kulturtheorie« zu repräsentieren. Johannes Angermüller ortet in Jamesons Vokabular einen »kritisch-theoretischen (›deutschen‹)« und einen »poststrukturalistischen (›französischen‹) Pol« (361), was dem Umstand Rechnung trage, dass in dessen Arbeit die Untersuchungen ›hoch‹- und popularkultureller Phänomene nicht nur nebeneinanderstehen, sondern »objektiv verbunden« (Jameson) sind. Ohne deren Dialektik und nur schwer vorzunehmende Trennung in Abrede zu stellen, unterscheidet Verf. vier theoretische Hauptarbeitsfelder bei Jameson: die Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie Adornos und der zentralen Stellung der Ästhetik im marxistischen Theoriediskurs, dem nachgeordnet die Inanspruchnahme poststrukturalistischer Theorie zur »Reflexion der Grenzen symbolischer Darstellung« (364), Literaturwissenschaft mit Fokus auf die Repräsentation »historischer Zeitlichkeit« (365) im literarischen Text und viertens Kulturstudien, die einen »postmodernistischen Kulturwandel« in den Blick nehmen, der mit einem Umbruch einhergeht, dessen Ergebnis Jameson selbst als »Spätkapitalismus« (366) bezeichnet. Jamesons Hauptbeitrag zur marxistischen Theorietradition sieht Verf. im »Projekt einer marxistischen Hermeneutik, die die Mittel von Strukturalismus und Psychoanalyse bemüht, um die Historizität ästhetischer Form zu erschließen« (368).

Hg. räumen ein, dass bestimmte Einträge auch in einem anderen Abschnitt hätten auftauchen können, was zweifellos z.B. auf Andreas Reckwitz’ Laclau-Artikel zutrifft, der nicht wie Foucault unter »Symbol – Diskurs – Struktur« zu finden ist, sondern unter »Die Psyche – Der Andere und die Gesellschaft«. Die Kriterien für die Einteilung wären ebenso von Interesse gewesen wie die für die Aufnahme neuer Kapitel in diese Auflage, etwa zu Ronald Hitzler, Clifford Geertz, Stanley Cavell oder zum Rational-Choice-Ansatz. Neu hinzugekommen ist neben dem Themenkomplex »Ethnographien fremder Kulturen« auch ein Abschnitt, der sich mit einer Kulturtheorie von Bild und Schrift befasst und die Arbeiten von Jan und Aleida Assmann und Anselm Haverkamp behandelt. Mit Donna Haraway, Julia Kristeva und Judith Butler sind zwar wichtige feministische Theoretikerinnen vertreten, allerdings stellt sich die Frage, warum andere wie Angela McRobbie und Denise Riley aus den Cultural Studies keinen Eingang gefunden haben, zumal deren Intervention mit ihren Konsequenzen für das Forschungsfeld von Stuart Hall selbst als »absolut revolutionär« (Ausgewählte Schriften 3, 43) bezeichnet wurde: Fragen von Hegemonie und Ideologie ließen sich nicht mehr verhandeln, ohne jene von Identität und Differenz zu thematisieren und Macht als auch geschlechtlich kodiert zu erkennen. Ein Sammelband zu Kulturtheorien der Gegenwart, der von Agamben bis Žižek alle mit Rang und Namen umfassen zu wollen scheint, hätte auch diese Ansätze berücksichtigen sollen.
Maria Pohn-Weidinger (Wien)


Quelle: Das Argument, 54. Jahrgang, 2012, S. 270-272

 

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