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Kategorie: Rezensionen

Klaus-Martin Schäfer: Die politische Funktion der Geographie in der höheren Schule – vom Auf- und Niedergang eines Schulfaches nebst einem Vorschlag für die Zukunft. Diss. Univers. Köln. Aachen 2007. 674 S.

„Die politische Funktion der Geographie in der höheren Schule“ wurde keineswegs zum ersten Mal in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung des Faches beschrieben und analysiert, aber auch dem Kenner kann immer wieder neu die Galle hochkommen, wenn er die bei Schäfer angeführten Zitate liest, die den anbiedernden Ehrgeiz von Fach- und Schulfachvertretern dokumentieren, mit denen sie sich in abstoßendem Eifer der Politik und den Kultusbürokratien, speziell denen des „Dritten Reiches“, als Vertreter eines wirklichkeits- und zukunftstüchtiges Gesinnungs- und Erziehungsfach aufdrängten.

Es mutet „geradezu abenteuerlich an, wie die damalige Fachpolitik aus jeder politischen Veränderung bildungspolitisches Kapital zu schlagen versuchte“ (S. 67). Und nicht nur aus Opportunismus, sondern auch aus Überzeugung, darauf besteht der Verfasser. Er versteht seine Arbeit jedoch nicht exklusiv als Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte, sondern vielmehr als Grundlage für eine Diskussion um die zukünftige Gestaltung des Faches, dessen aktuellen Zustand er „auf seine historischen Wurzeln“ (S. 5) zurückführen will. Das Fach sei von Anfang an als „Staatsdidaktik“ gedacht gewesen und solle es, propagiert er, auch in Zukunft sein, nur dass dieser zukünftigen geographischen „Staatsdidaktik“ nicht mehr die unmündige Volksgemeinschaftsideologie, sondern die Demokratie und die Grundrechte des Grundgesetzes zugrunde liegen müssten. Eine Geographie, die gesellschaftspolitisch verstanden werde, müsse sich „stärker zu dieser Gesellschaft bekennen und die verankerten gesellschaftlichen Werte im Unterricht auch thematisch integrieren“ (S. 590).

Von den bisherigen Arbeiten zur Geschichtsschreibung des Faches setzt der Verfasser sich zum Teil massiv ab. So behauptet er, mehr vorwerfend als sachlich feststellend, von den bisher vorliegenden Analysen zur Schulgeographie, sie hätten „nicht die politische Funktionalisierung des Faches in den Mittelpunkt des Interesses“ gestellt, „sondern vor allem inhaltliche Analysen“ geboten (Hätten sie dies denn nicht sollen? Sind inhaltlich Analysen obsolet?), während der „Zusammenhang von didaktischer Diskussion und Richtlinien“ nur „peripher“ (S. 8) abgehandelt worden sei. Dass dann dennoch ihre Arbeiten vom Verfasser ausgiebig als Steinbruch für kurze und längere Zitate benutzt und auch ihre Urteile teilweise oder ganz übernommen werden, verblüfft und lässt vermuten, dass er die Kritik an seinen Vorgängern wohl eher nur rhetorisch braucht, um die eigene Akzentuierung noch stärker als neue Erkenntnis herausstreichen zu können, die so neu nicht ist. Dabei hätte er dies gar nicht nötig gehabt; denn ohne Zweifel ist die Arbeit auch ohne solches hier einmal unterstellte Manöver eine diskussionswürdige Leistung, die allemal Anerkennung verdient. Auf gut 500 von über 600 Seiten wird, dicht gedrängt, ein umfangreiches Material verarbeitet, um eine Antwort auf die Ursachen des Aufstiegs und Niedergangs der Geographie als Unterrichtsfach zu finden. Es schließen sich knapp 100 Seiten an, die aus der Analyse der Geschichte des Faches eine Therapie entwickeln, durch die das Fach für die Kultusbürokratie wieder sichtbar und damit sein bislang ungebremster Niedergang gestoppt werden könne. Das entscheidende Mittel ist aus Sicht des Autors die konsequente Fokussierung der Geographie auf ihren Auftrag, als Fach des gesellschaftspolitischen Feldes zur politischen Bildung beizutragen. Damit bekämen die „bisher eher eklektisch unverbunden nebeneinander stehenden Unterrichtsthemen“ (S. 598) endlich einen Zusammenhalt.

Zu seiner Vorgehensweise bemerkt der Verfasser, dass er sich an die textlich dokumentierten theoretischen Konzeptionen des Geographieunterrichts halte und die Unterrichtswirklichkeit außen vor lasse, weil diese kaum mehr zu rekonstruieren sei und Zeitzeugenschaft (oral history) problematisch bleibe. Einverstanden! Wie sich damit allerdings der Dank an die Mutter verträgt, „die aufgrund ihrer eigenen Schulerfahrungen“ zur ausschlaggebenden Instanz für „die Richtigkeit der Analyse für den Zeitraum ab 1932“ wird und „beruhigenderweise [alles] bestätigen konnte“, bleibt das Geheimnis des Verfassers. Begriffstechnisch sei erwähnt, dass er der qualitativen Bestimmung von Epochen in Gestalt des „Zeitgeistes“ ein besonderes Gewicht beimisst, und so geistert der „Zeitgeist“ in auffällig inflationärer Weise durch die Seiten der Arbeit, obwohl er als intellektuelles Konzept in der Wissenschaftsgeschichte gegenwärtig nicht mehr hoch im Kurs steht, weil er zu sehr auf Homogentität abstellt und damit den Ruf und Nachteil hat, den Widersprüchen und Mischungen der geistigen Strömungen einer Zeit zu wenig oder gar nicht gerecht zu werden. Der Diskursbegriff scheint hier leistungsfähiger zu sein. Und in der Tat geht die vorliegende Arbeit auf Zeitgeistdifferenzen, wie klein sie auch immer gewesen und von wie wenigen Personen sie auch vertreten worden sein mögen, so gut wie nicht ein; der Zeitgeistbegriff homogenisiert auch diese Darstellung.

Ein besonderes Anliegen des Verfasser ist es, deutlich zu machen, dass die Geographen nicht einfach Mitläufer waren, gleichsam Opfer des „Zeitgeistes“, die sich ihm nicht entziehen konnten bzw. sich ihm aus fachbezogenem Überlebensinteresse einfach andienten, sondern ihn selbst aktiv bedient haben. Da ist unbestreitbar etwas dran. Die bisherigen Arbeiten hätten allerdings den Anteil der Schulgeographie „an der Vorbereitung und Durchführung der Katastrophe Nationalsozialismus … in der Regel eher unterschätzt“, während „begründetermaßen davon auszugehen“ sei, „dass er so klein doch wohl nicht war“ (S. 333). Aber haben sich alle bisherigen Arbeiten wirklich dermaßen grob in dem Anteil verschätzt oder gar übersehen, dass in der Schule erworbene Weltbilder prägend und damit handlungsleitend sein können? Wohl kaum. Im Übrigen weiß der Autor doch selbst, dass sich über die tatsächliche Wirkung des Unterrichts nur schwer etwas sagen lässt, so dass die Kritik ins Leere geht.
 
Noch ein Wort zum Sprachduktus der Arbeit: Der Autor schmeichelt sich, dass er mühelos einen durch „gefällige Eloquenz“ eingängigen Text hätte schreiben können, der den Leser suggestiv zur Akzeptanz der Inhalte hätte führen können, doch genau solche Manipulation habe er nicht gewollt und darum einen sperrigen Schreibstil gewählt, der zu einem „verlangsamten Lesen“ und dadurch zu einem „aktiven Aneignungsprozess“ nötigen solle, damit der Leser die Arbeit nicht einfach konsumiere, sondern dem Autor „kritisch ‚auf die Fin­ger’“ (S. 7) schaue. Eine merkwürdige Ausrede? Jeder möge selbst entscheiden, ob er sich der didaktischen Intention des Verfassers unterwirft und die Sperrigkeit in immer neuen Anläufen zu überwinden versucht, oder ob er den Band vorzeitig in die Ecke legt, weil er sich, ermüdet von einer extrem redundanten und womöglich als aufdringlich empfundenen, aber aus der Sicht des Autors unvermeidlich politisierenden Sprache und zusätzlich durch die kleine Schriftgröße mehr und mehr genervt fühlt und den Eindruck nicht los wird, dass der explizit gewünschte mündige Leser dadurch eher entmündigt wird. So ist leider zu befürchten, dass diese Arbeit nicht die verdiente Resonanz und die vom Autor gewünschte Kritik erfährt, und für die Diskussion der Zukunft des Schulfaches Geographie eher irrelevant bleibt. Dabei müsste zweifellos dringend das Verhältnis der „Freiheit“ zur „Einsicht in Notwendigkeiten“ (S. 591) eingehend diskutiert werden.

Das von Schäfer propagierte Label „Staatsdidaktik“ für die zukünftige Fachdidaktik erzeugt bei mir allerdings einiges Unbehagen. Er will damit, diese Ansicht teile ich, deutlich machen, dass es keinen unpolitischen Geographieunterricht geben könne und die Geographen zu dieser Einsicht stehen sollten, statt sich z.B. wie früher in die vermeintlich unpolitische Sphäre der Wissenschaft zurückzuziehen. So wenig es angebracht erscheint, daran zu zweifeln, dass auch in der demokratischen Gesellschaft durch Werteerziehung für deren Kohäsion gesorgt werden muss, mithin die Geographie als Unterrichtsfach in diese Aufgabe eingebunden ist, so sehr löst dieser Ausdruck „Staatsdidaktik“, jedenfalls bei mir, eher die Assoziation von staatlicher Indoktrination und Manipulation aus und weniger Gefühle der Wünschbarkeit, um auf ein Leben in einer demokratischen Gesellschaft (in einer keineswegs überall demokratischen Welt) vorbereitet zu werden. Natürlich ist das nicht gemeint, wie Schäfers interessanter Versuch zeigt, den von ihm geforderten Beitrag der Geographie zur politischen Bildung explizit an den einschlägigen Artikeln des Grundgesetzes auszurichten. Die Schule und mit ihr der Geographieunterricht leisten aber mehr als nur einen Beitrag zur Integration in die Gesellschaft. Dieses Mehr kommt in Schäfers Programm zu kurz bzw. gar nicht vor, wohl weil er dann um dessen Geschlossenheit fürchten müsste. Wenn der Autor abschließend vom Geographieunterricht erwartet, „zu einer Modernisierung der Demokratie und einer Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Gesellschaft“ (S. 595) beizutragen, so dürfte dagegen wenig zu sagen sein. Kontrovers wird es erst, wenn Modernisierung und Leistungsfähigkeit genauer bestimmt würden; denn es gäbe durchaus unterschiedliche Vorstellungen davon, was darunter zu verstehen und wie beides zu realisieren wäre. Immer aber stimme ich dem Verfasser zu, dass „wissenschaftliche Forschung und schulische Erdkunde … auch für ihre gesellschaftliche Funktionalisierung mit verantwortlich“ (S. 333) sind. Unabhängig davon geht die Stundenreduzierung für die Geo­graphie derzeit weiter.
Hans-Dietrich Schultz, Berlin

Berichte zur deutschen Landeskunde, Bd. 84, H.2, 2010, S. 205-207

 

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