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Kategorie: Rezensionen

Ingo Matuschek, Uwe Krähnke, Frank Kleemann u. Frank Ernst: Links sein. Politische Praxen und Orientierungen in linksaffinen Alltagsmilieus. Wiesbaden 2011. 270 S.

Was sind ›linke‹ Positionen, wer vertritt sie und wie konstituieren sich politische Praxis und politisches Denken in der Lebenswelt der Menschen? Die Verf. erweitern mit diesen Fragen die Milieuforschung im Anschluss an Vester u.a. um die Dimensionen des
politischen Engagements und der Alltagsbiographie.

Um über eindimensionale Befragungsschemata hinauszukommen, kombinieren sie verschiedene Erhebungsmethoden: 21 Diskussionen mit unterschiedlich politisch engagierten Gruppen; 1531 standardisierte
Telefonbefragungen mit einem repräsentativen Querschnitt der volljährigen Bevölkerung und 60 Einzelinterviews mit Aktiven. Damit erfassen sie nicht nur die Unterschiede zwischen den linken Milieus, sondern vor allem Ambivalenzen und Brüche innerhalb der Milieus. Die Interpretation der Ergebnisse bleibt angesichts der begrenzten Datenlage teilweise hypothetisch.

Ca. 20 Prozent der Befragten verorten sich als links bis eher links. Vergleicht man die Linksaffinen mit den »Tendenzlosen« und Rechtsaffinen, zeigt sich: Bei Linksaffinen überwiegen Männer, sie sind jünger, leben eher in Großstädten, haben höhere Bildungsabschlüsse und arbeiten häufiger in wissensintensiven Berufen. Politisch verbindet Linksaffine, dass sie eine Repolitisierung der Gesellschaft als Gegengewicht zu einer weiteren Marktradikalisierung anstreben und sich für mehr Chancengleichheit und Solidarität einsetzen.

Eine deutliche Mehrheit orientiert sich stark am Leitbild der Erwerbsarbeit (auch an Leistung als Merkmal sozialer Differenzierung, wenn Chancengleichheit gewahrt wird); nur eine Minderheit befürwortet ein bedingungsloses Grundeinkommen. Aber die Bezugspunkte unterscheiden sich erheblich – Arbeit als gesellschaftliche Pflichterfüllung, Arbeit als Mittel sozialer Integration, Arbeit als individuelle Sinnstiftung; damit unterscheiden sich auch die Bezugspunkte für politisches Engagement in Abhängigkeit vom Arbeitsbegriff. Ähnlich differenziert sind die Vorstellungen, wie eine repolitisierte Gesellschaft Marktmacht zugunsten des Gemeinwohls einschränken soll – die Positionen reichen von etatistischen Vorstellungen über Reformen bis zu radikaler Systemveränderung. Linksaffine finden sich in quasi allen sozialen Schichten und in vielen Milieus – libertären, paternalistischen oder reformorientierten. Zwischen diesen Milieus und der jeweiligen sozialen Lage besteht zwar meist ein Zusammenhang, aber die »Rechts-Mitte-Links«-Verortung liegt quer dazu.

Die linksaffinen Milieus formulieren selten konsistente politische Vorstellungen. Es vermischen sich lebensweltlich geprägte Bezüge mit allgemeinen moralisch-normativen Bewertungen und Unsicherheiten über Alternativen, die stark schwanken. Die meisten Linksaffinen beschreiben z.B. bei aller Kritik an der sozialen Spaltung das kapitalistische Wirtschaftssystem als durchaus funktional und sehen keine realistische Alternative dazu – ob wegen seiner scheinbar übermächtigen Dominanz oder weil Alternativen als diskreditiert gelten, bleibt für die Verf. offen. Ebenso offen bleibt, inwieweit die schwächer gewordene Bindung an Parteien und Großorganisationen Linksaffine aus der ›Sicherheit‹ fester Programme gelöst und damit inhaltliche Unsicherheiten erst sichtbar gemacht hat. Behindert dieser Mangel an klarer Alternative politisches Engagement? Das spielt eine Rolle, aber – so eine der wichtigsten Hypothesen der Untersuchung – offensichtlich nicht die entscheidende. Die Wahrscheinlichkeit für politisches Engagement steigt in dem Maße, wie Linksaffine die Chancen eigener Wirkmächtigkeit/Wirkung wachsen sehen – sowohl in Bezug auf individuelle als auch auf kollektive Einflussmöglichkeiten. Politisches Engagement wird also auch gefördert durch eine positive Einschätzung eigener Fähigkeiten und beruht auch auf dem Bedürfnis, eigene Erfahrungen machen zu können – häufig in Distanz zu politischen Organisationen und deren »Vereinnahmungstendenzen«. Der lebensweltliche Bezug spielt eine größere Rolle als häufig vermutet. Bezugspunkte sind für die Mehrheit nicht große Gegenentwürfe sondern konkrete, selbst gestaltbare Projekte.

Da die Mehrheit der Linksaffinen eine offene Debattenkultur mit partizipativdemokratischen Umgangsformen sucht, ließe sich linke Hegemonie eher durch Kooperation unterschiedlicher Strömungen erreichen als durch ausbuchstabierte politische Programmatik. Das erfordert einen anderen Blick auf politische Differenzen bei der Beurteilung einzelner Reformprojekte, indem Unsicherheiten und Leerstellen in den jeweiligen politischen Alternativprogrammen zur Kenntnis genommen und Differenzen, Suchprozesse, unterschiedliche Erfahrungen zugelassen werden. Aus der Pluralität der Linken, die häufig noch als Not verstanden wird, ließe sich dann eine Tugend machen.
Franziska Wiethold (Berlin)

Quelle: Das Argument, 54. Jahrgang, 2012, S. 282-283

 

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