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Kategorie: Rezensionen

Ian Morris: Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden. Aus d. Engl. v. Klaus Binder u.a. Frankfurt/M-New York 2011. 656 S.

Wieder ein voluminöses Sachbuch zur Weltgeschichte. Es versteht sich, dass die mehrbändigen Handbücher, die das schier unfassbare Material der Weltgeschichte von zahlreichen Autoren bearbeitet bereitstellen, nicht als Maßstab für das Anliegen, das ›Ganze‹ einbändig in den Griff zu bekommen, herangezogen werden können. Auf den ersten, vielleicht sogar etwas längeren Blick weckt vorliegende Bearbeitung Neugier, lässt neue Einsichten erwarten und auf eine – dank lockeren Stils – verständliche Lektüre hoffen. Doch bald lernt man einen prätentiösen Autor kennen, der gern eines rhetorischen Gags halber ausufert und es mit dem roten Faden nicht so genau nimmt. Vergleiche zwischen Ereignissen, die Jahrhunderte oder Jahrtausende voneinander getrennt sind, fließen en passant ein, wobei Verf. sich auf Wohlwollen und Vorkenntnisse der Lesenden zu verlassen scheint. Der englische Originaltitel des ambitiösen Versuchs, die bisherige »Weltherrschaft« des Westens mit Rückgriff auf etwa zehntausend Jahre Menschheitsgeschichte zu erklären (Why the West Rules – for now. The Patterns of History and What They Reveal About the Future, 2010), trifft die Absicht des Verf. weit angemessener als die irreführende Titelei der deutschen Ausgabe, in der auch die Hinweise auf weiterführende Werke und die umfangreiche Bibliographie des Originals fehlen.

 

Verf. will die Weltgeschichte durch zwei Arten von Gesetzmäßigkeiten, den biologischen und den sozialen, sowie einen dritten Einflussfaktor, die geographischen Gegebenheiten, verständlich machen. Das Zusammenwirken dieser geschichtsbildenden Kräfte wird anhand des zusammengestellten Materials zu verdeutlichen versucht. Er begreift seinen weltgeschichtlichen Entwurf als äußerst innovativ, die historischen Ereignisse und Entwicklungen seien »nicht langfristiger Determiniertheit oder kurzfristigen Zufallsereignissen […] zu verdanken« (44). Dabei vertraut er darauf, »dass uns die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte eine recht gute Vorstellung davon vermitteln, was als Nächstes geschehen wird« (ebd.). Verf. wird dann auch konkret und bemerkt: »Die große Frage unserer Zeit stellt sich nicht danach, ob der Westen seine Vormachtstellung auch weiterhin wird halten können, sondern danach, ob die Menschheit insgesamt den Durchbruch zu einer vollkommen anderen Seinsweise schafft, bevor uns die Katastrophe ereilt – und uns für immer erledigt« (45). Morris’ weltgeschichtliche Retrospektive wird von der gegenwärtigen Weltlage strukturiert, nämlich der globalen Dichotomie zwischen dem ›Westen‹ und ›Asien‹, wobei für Asien durchaus zutreffend die VR China steht. Der überholte Eurozentrismus wird energisch zurückgewiesen. Bis zur industriellen Revolution des Westens gab es keinen fundamentalen Entwicklungsunterschied zwischen Europa/USA und China. Als entscheidenden Faktor für die Divergenz in den beiden folgenden Jahrhunderten führt Morris die (bekannte) geographische Tatsache an, dass die Energieversorgung als unabdingbare Voraussetzung der Industrialisierung aufgrund der günstigen Kohlevorkommen in Westeuropa gelang, wohingegen sich China keinen vergleichbaren Zugang zu fossilen Energieträgern zu verschaffen vermochte. Die globale Vorherrschaft des Westens setzte – so Morris – denn auch erst im 19. Jh. ein. Als  schlüsselereignisse sieht er die von den Briten gegen China geführten Opiumkriege. Morris beginnt sein Buch mit der frappierenden Fiktion, dass China die Briten unterworfen und von diesen Tribut gefordert hätte. Dass es nicht dazu kam, habe eben v.a. an der britischen Kohle gelegen, ohne die die Briten u.a. keine Dampfer und moderne Kriegsschiffe hätten bauen und damit China disziplinieren können.

Zur Erfassung der sozialen Entwicklung konstruiert Verf. einen durchaus originellen Index, der vier Kriterien berücksichtigt: Urbanisierung, Energieverbrauch, Informationsverarbeitung und militärische Fähigkeit. Der Indexwert wird auf das Jahr 2000 als Basisjahr (= 1000) normiert. Die langfristigen historischen Verläufe der einzelnen Indexkomponenten und des Gesamtindex liefern eindrucksvolle Graphiken, deren Suggestionskraft die narrativen Ausführungen zur Weltgeschichte insofern in den Schatten rückt, als die vom Autor flott nacherzählte Geschichte der Erläuterung der Graphiken dient. Als eine Art ›magische Niveaus‹ auf der weltgeschichtlichen Entwicklungslinie diagnostiziert Verf. kritische Schwellen zwischen (weiterem) Aufstieg oder Niedergang. Das liest sich dann z.B. so: »Dieser mit der steigenden Entwicklung in Gang gesetzte Alte-Welt-Austausch [in der vorchristlichen Weltwirtschaft] ließ aber auch Kräfte heranwachsen, die die Entwicklung schwächten, und als es das westliche Kerngebiet nicht schaffte, bei 43 Punkten durch die Decke zu schießen, zogen die apokalyptischen Reiter beide Kerngebiete nach unten« (381). Die vier apokalyptischen Reiter tauchen bei Morris immer auf, wenn ein Gebiet eine herausragende Position erreicht hat und sie nicht mehr halten kann, wovon dann andere Mächte profitieren. Die »apokalyptischen Reiter« – Völkerwanderung, Staatszerfall, Hungersnot, Krankheiten – scheinen stellvertretend für historische (Quasi-)Gesetzmäßigkeiten zu stehen, die Verf. nirgends klar erläutert.

Verf. liefert mit seinem reichhaltigen Potpourri interessantes historisches Material. Jedoch fragt man sich, ob es denn »wirklich« so einfach und vermeintlich eingängig in der Geschichte zuging, wie es sich liest. Für das deutsche Publikum mag folgende Passage das Unbehagen exemplarisch verdeutlichen. Nachdem Verf. sich zum japanischen Militarismus und Expansionismus der 1930er Jahre ausgelassen hat, kommt Deutschland ins Blickfeld: »Am alarmierendsten war der Plan, der in Deutschland heranreifte. Niederlage, Arbeitslosigkeit und finanzieller Zusammenbruch hatten bei den Erben von Goethe und Kant so tiefe Wunden gerissen, dass sie bereit waren, selbst einem Verrückten ihr Ohr zu leihen, der alle Schuld den Juden gab und mit dem Allheilmittel der Eroberung hausieren ging« (513). Weltgeschichtliche Entwicklungen so flapsig zu verkürzen und zu suggerieren, die deutsche Katastrophe sei mit dem historischen Auftritt eines Verrückten namens Hitler erklärbar, beleidigt sowohl die Opfer der Nazis als auch die zahlreichen Historiker und Sozialwissenschaftler, die sich sorgfältig mit der deutschen Geschichte befasst haben. Morris’ Leidenschaft, geschichtliche Entwicklungen zu personalisieren, zieht sich durch den gesamten Text. Am Ende nimmt sich Verf. dann gegen diesen Vorwurf in Schutz: »Ich habe das ganze Buch hindurch den Gedanken vertreten, dass große Männer oder Frauen ebenso wenig wie große Stümper und Idioten die entscheidende Rolle gespielt haben, die zu spielen sie glaubten« (588). Es war wohl geboten, einen ganz anderen Eindruck zu korrigieren. Flugs kommt aber die nächste Korrektur: »Seit 1945 jedoch ist das anders. Jetzt haben die politischen Führer die reale Möglichkeit, tief in die Geschichte einzugreifen. […] Das erste Mal in der Geschichte kommt es wirklich auf die Führung an« (ebd.). Verf. zufolge liegen dem »Geschichtsverlauf […] Muster zugrunde«, die als beschleunigte oder gebremste »Prozesse« sichtbar werden (588 u.ö.). So mag es sein und sofort lässt sich dabei auch an die große Masse der arbeitenden Menschen, an Ausbeutung, Elend, Vernichtung usw. denken. Doch das alles gelangt nur sporadisch in den Blick – etwa als kurze, selbstverständlich kritische Bezugnahme auf Marx und Engels (486f). In Wirklichkeit scheint es eben doch so, dass der Herrscher X Kriege führt und der Herrscher Y dafür sorgt, dass die geschichtlichen Prozesse beschleunigt oder gebremst werden. Manchmal sind es auch Philosophen oder andere Kulturheroen, die der Geschichte einen Drall geben. Doch die breiten Massen sind einfach nur da. Von Klassenverhältnissen und Klassenkämpfen wird weitgehend geschwiegen.

Um Morris’ prognostischen Nutzen seiner weltgeschichtlichen Übersicht zu illustrieren, mag wieder ein Zitat genügen: »Kurzfristig betrachtet, legen die Muster, die sich in der Vergangenheit herausgebildet haben, nahe, dass der Wechsel von Macht und Wohlstand von Westen nach Osten unausweichlich ist. Wahrscheinlich um 2030, so gut wie sicher um 2040 wird Chinas Bruttoinlandsprodukt das der USA übertreffen. Irgendwann im Verlauf dieses Jahrhunderts wird China die Vorteile der Rückständigkeit aufgezehrt haben, doch auch dann wird das Weltzentrum der wirtschaftlichen Schwerkraft im Osten verbleiben und nun auch Süd- und Südostasien mit umfassen« (588). Warten wir’s ab.
Karl Georg Zinn (Wiesbaden)

Quelle: Das Argument, 54. Jahrgang, 2012, S. 306-308