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Kategorie: Rezensionen

Kirsten Einfeldt: Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Material und nationale Identität. Bielefeld 2010. 462 S.

Beton mag heute vielleicht Undurchdringlichkeit symbolisieren und in der Stadtplanung nicht gerade dem Stand der ökologischen Ansprüche genügen. Der Werkstoff war aber auch mal Ausdruck der Moderne, zumindest in Mexiko. Der Literaturwissenschaftler Rubén Gallo hatte dem Material bzw. seinem Gehilfsstoff, dem Zement, ein ganzes Kapitel in seiner Auseinandersetzung mit der mexikanischen Moderne gewidmet (Mexican Modernity. The Avant-Garde and the Technological Revolution, 2005). Beschäftigt man sich heute mit moderner Kunst in Mexiko, das legt nun auch diese neue Studie nahe, ist an der gemischten Härte des Betons kein Vorbeikommen.

 

Als im Rahmen des Kulturprogramms für die Olympischen Sommerspiele 1968 ein groß angelegtes Skulpturenprojekt verwirklicht werden sollte, war für die Ausführung der eingereichten Arbeiten, so Kirsten Einfeldt, "Beton verpflichtend." (269) Denn das Material erfülle beide Funktionen, die die politischen Machthaber mit dem vom Künstler Mathias Goeritz betreuten Skulpturenprojekt bezweckten: Es sollte zugleich den internationalen Standard der zeitgenössischen Skulptur und die nationale Besonderheit der mexikanischen Kunst zum Ausdruck bringen. Nicht so ganz nebenbei war auch noch die Zement-und Stahlindustrie der Hauptsponsor des sportlichen Groß ereignisses. Während die Spiele heute wohl eher mit den gereckten Black-Power-Fäusten der schwarzen Sprinter Thommie Smith und John Wesley Carlos und mit dem Massaker an demonstrierenden StudentInnen im Stadtteil Tlatelolco zwei Wochen vor der Eröffnung assoziiert werden, erinnert Einfeldt an einen anderen Zusammenhang: Das sportliche Ereignis war Teil einer nationalen Image-Kampagne, die nicht nur von kulturellen Events begleitet wurde, sondern der eine lange und intensive Stadtplanungs- und Bauphase vorausging.

Diese urbanistisch umtriebige Epoche wiederum stand im Kontext kulturpolitischer Formierungen, die die mexikanische Politik seit dem Ende der Revolution von 1920 geprägt hatten. Bemalten damals Künstler wie Diego Rivera, José Clemente Orozco und David Alfaro Siqueiros im Staatsauftrag die Innen-und Außenwände von Regierungs- und anderen Gebäuden im historischen Kern der Hauptstadt, wurde seit den späten 1940er Jahren die Repräsentation der Nation deutlich wuchtiger angegangen. Ganze Stadtteile und Siedlungen wurden errichtet, beispielsweise die damals noch außerhalb Mexiko-Stadts geplante Universitätsstadt. Hierhin, in die Peripherie, verlagerten sich schließlich auch der Muralismus, die Wandmalerei, und seine plastischen Ausläufer.

Das Bild des "neuen Mexiko", traditionsbewusst und zugleich technologisch wie sozial auf der Höhe der Industrienationen, wurde auch mittels der Pavillons auf den Weltausstellungen und in Museumsneubauten wie dem des Anthropologischen Museums gepflegt. Die erneuerte nationale Identität, unter Präsident Miguel Alemán (1946-1952) orientiert an technologischem Fortschritt und begleitet von ökonomischen und politischen Annäherungen an die USA, ging allerdings mit einer Aufkündigung dessen einher, was Einfeldt treffend den "Revolutionskanon" (67) nennt. Die realistischen Formsprachen, die dem nationalen Mythos einer ethnisch gemischten und sozial gleichgestellten Gesellschaftlichkeit verpflichtet waren, verloren rapide an Einfluss. Die Skulpturen zu den Olympischen Spielen beispielsweise waren nicht nur aus Beton, sondern auch durch abstrakte Formen geprägt. Dass die Statue Alemáns, die auf dem Uni-Campus stand, seit 1960 im Rahmen von Studierendenproteste mehrfach beschädigt worden war, unter anderem mit Sprengstoff, war so gesehen symbolpolitisch nur konsequent. Denn wenn es den Studierenden auch weniger um einen Kanon ging, stand die Revolution und das Anknüpfen an ihre nicht eingelösten Versprechen doch lange Zeit hoch im Kurs, besonders um 1968, in mancher Protestbewegung bis heute.

Hier knüpft Einfeldt im letzten Kapitel ihres Buches an, dessen Schwerpunkt eindeutig den 1950er Jahren gewidmet ist. Seit den frühen 1970er Jahren nämlich kam in Mexiko eine neue Bewegung von Künstlerinnen und Künstlern auf, die in ihrem sozialpolitischen Anspruch durchaus den revolutionären Traditionen verbunden war, jedoch deutlich mit ihren kunst- und kulturpolitischen Vorläufern brach. Die Kunstgeschichte kennt sie mittlerweile als Los Grupos, die Gruppen, weil sie "das Kollektiv als Arbeitsform" (300) reaktivierte. Und anders als das Gros der sonst das mexikanische Kunstleben des 20. Jh. prägenden Persönlichkeiten, Gruppen und Projekte, die im Buch geschildert werden, befanden sich Los Grupos in deutlicher Opposition zur staatlichen Macht. Die Anerkennung der Gruppen und ihrer neuen Medien und Methoden im Kunstfeld widersprach dem nicht.

Mit der Einbeziehung von BetrachterInnen und der Betonung des Prozesses gegenüber dem Produkt des Schaffens, knüpften diese Gruppen auch an die seit den 1960er Jahren praktizierten, konzeptuellen Künste in anderen Regionen der Welt an. Schablonen-Grafiti (Grupo Suma) oder PassantInnen involvierende Wortspiele (Grupo Marco) setzten methodisch auch weniger auf Beständigkeit und Pathos als der Muralismus, von der Dauerhaftigkeit der modernistischen Wohnblocks in Tlatelolco gar nicht zu reden. Diese wurde erst durch das Erdbeben von 1985 im unmittelbaren Sinne des Wortes erschüttert.

Dass überhaupt so unterschiedliche Dinge wie langlebige Stadtkonzeptionen auf der einen und flüchtige Performances auf der anderen Seite gemeinsam diskutiert werden, bringt der Gegenstand mit sich: Kunstgeschichte heißt im Kontext Mexikos auch Geschichte der Gestaltung des öffentlichen Raumes. Insofern hat Einfeldt eine adäquate Zusammenführung betrieben und diese detail- wie materialreich beschrieben. Die Arbeit ist aber auch in anderer Hinsicht vor allem eine kunsthistorische. Sie nimmt auf die ganze kultur- und sozialtheoretische Debatte um die (mexikanische) Moderne kaum Bezug. Trotz thematisch extremer Nähe kommt beispielsweise der mehrfach ausgezeichnete Klassiker des Kulturtheoretikers Néstor García Canclini, Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad (1990) in Einfeldts Studie gar nicht vor. Auch die Debatte um nationale Identität, die in Estudios Culturales Latinoamericanos und Cultural Studies die Sammelbände dreier Jahrzehnte füllt und zum Teil auch prägt, findet sich im Buch nicht wieder, obwohl der Untertitel derlei Erwartungen ja wecken könnte. So macht Einfeldt beispielsweise weniger politische Maßnahmen, soziale Kräfteverhältnisse, Diskurse von Ein- und Ausgrenzung oder Kämpfe um Definitionsmacht als Quelle für die Formierung "des Mexikanischen" aus, sondern vielmehr die "lokale Natur und Topographie sowie 'internationale' Bauformen" (331). In Bezug auf den selbst formulierten Anspruch allerdings, "insbesondere ikonographische und materialikonographische" (329) Tendenzen und Transformationen aufzuzeigen, ist die Studie mehr als nur gelungen. Denn über diese Spezifik hinaus ermöglicht sie ein Verständnis auch kunst- und kulturpolitischer Entwicklungen in Mexiko von der Revolution bis heute.

Dass die Abkehr vom nationalen Diskurs seit den 1970er Jahren auch mit einer Abwendung von bestimmten Materialien im Kunst- und Kulturschaffen einherging, dürfte selbst vielen versierten politischen BeobachterInnen neu sein. Die Hinwendung zu Typographie, Film und ephemeren Arbeiten war zugleich das Ende eines anderen Werk- und, wie zu erfahren war, Wirkstoffes: Beton.
Jens Kastner

PERIPHERIE Nr. 124, 31. Jg. 2011, S. 536-538