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Kategorie: Rezensionen

Boris Michel: Stadt und Gouvernementalität. Münster (Einstiege 15) 2005. 154 S.

 
In der deutschsprachigen (Stadt-)Geographie erfreuen sich zur Analyse gegenwärtiger Machtverhältnisse seit einigen Jahren die an Foucault anschließenden Governmentality Studies größerer Beliebtheit. In dem Band „Stadt und Gouvernementalität“, welcher 2005 in der Reihe „Einstiege“ im Verlag „Westfälisches Dampfboot“ erschienen ist, geht Boris Michel aus einer eben solchen Perspektive der Frage nach, inwiefern sich im Postfordismus Programme urbanen Regierens entwickelt haben, die sich signifikant von der fordistisch-modernen Rationalität der umfassenden Planbarkeit und Einheitlichkeit der Großstadt unterscheiden. Exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit betrachtet er dazu Diskurse, Maßnahmenbündel und Architekturen aus dem Bereich städtischer Kriminal- und Sozialpolitiken sowie aus dem Feld des New Urbanism. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass mit Prozessen der Fragmentierung, fortschreitenden Ausgrenzung und sozialen Segregation Veränderungen in den Vorstellungen von Subjektivität und Sozialem einhergehen, welche das Bild vom autonomen Subjekt reaktivieren, eine zunehmende Raumorientierung sozialer Kontrolle hervorbringen sowie kleinräumige homogene Gemeinschaften erfinden.

 

Um die grundlegende Reorganisation urbaner Räume gesellschaftlich einbetten zu können, lenkt Boris Michel zu Beginn seines Buches den Blick auf die „makrogesellschaftlichen Strukturveränderungen der Metropolen“ (30) im Zuge der letzten zwanzig Jahre. Dadurch wird es ihm möglich, gegenwärtige Entwicklungen auf der städtischen Ebene im Verhältnis zum neoliberalen Umbau der ökonomischen und politischen Verhältnisse zu diskutieren. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass zum Verständnis der Stadt im Postfordismus erstens die Deindustrialisierung und der damit verbundene Bedeutungszuwachs des Dienstleistungssektors, zweitens eine neue sozialräumliche Polarisierung als Ausdruck einer Zunahme von Armut und prekären Arbeitsverhältnissen sowie drittens die Entstehung einer unternehmerischen Form neoliberaler (Standort-)Politik von besonderem Interesse sind. Als Ausdruck einer generellen Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse bedingen diese drei Tendenzen eine verstärkte soziale Desintegration, Spaltung und Fragmentierung der Stadt.

Das Besondere postfordistischer Stadtentwicklung ist nun gemäß Michel, dass die Auflösung städtischer Integrationskräfte mit einer grundlegenden Reorganisation städtischer Räume einhergeht. In Kontrast zu dem fordistischen Verwaltungsdenken einer umfassenden und flächendenkenden sozialtechnologischen Planbarkeit von Gesellschaft erzeugt die zunehmende Fragmentierung der Stadt ein Spannungsverhältnis, wobei nun durch kleinteilige Abgrenzungs- und Ausschlussprozesse Ordnung erzeugt und Ambivalenzen bekämpft werden sollen. Die Vielzahl der darunter zu fassenden Entwicklungen differenziert Michel in zwei Stränge, indem er den Zwangscharakter sozialer Ausschließung von der freiwilligen Selbstausgrenzung der Mittel- und Oberschichten unterscheidet. Bezogen auf die fortgeschrittene Ausgegrenztheit marginalisierter Gruppen diskutiert er zuerst die Herausbildung der „strafenden Stadt“ (63), wonach gemäß der broken windows-Theorie eine repressive Sicherheitspolitik implementiert, die sozialen Ursachen von Kriminalität negiert, zunehmend präventiv statt reaktiv agiert sowie nicht am Individuum angesetzt, sondern eine raumorientierte soziale Kontrolle ausgeübt wird. Exemplarisch drückt sich dieser stadtpolitische Wandel hin zu einem Kampf gegen die Armen (und nicht gegen die Armut) etwa in der Verrechtlichung, Privatisierung und technischen Überwachung öffentlicher Räume sowie in einer Diskreditierung und Kriminalisierung von abweichendem Verhalten aus. Verbunden ist das Programm der strafenden Stadt mit einer ebenso territorial ausgerichteten aktivierenden Sozialpolitik, welche sich – in Deutschland etwa in Gestalt des Programms „Soziale Stadt“ – durch eine lokale Fixierung und aktivierende Quartiersbezogenheit auszeichnet sowie statt einer Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums an die Selbstverantwortlichkeit und Autonomie der Marginalisierten appelliert.

Der zunehmend räumlich organisierten Ausgrenzung der Marginalisierten stellt Michel Phänomene städtischer Entwicklung entgegen, welche die wahrgenommene Fragmentierung – dem Ideal der homogenen Gemeinschaft folgend – qua Selbstausschluss durch die Schaffung neuer, überschaubarer Räume bzw. durch „Tendenzen der Vereinheitlichung, (Neu-)Ordnung und Sicherung“ (75) aufheben wollen. Am Beispiel der kommunitaristischen Stadtplanungsbewegung des New Urbanism sowie den architektonischen Gebilden der Gated Communities und der Shopping Malls kann er jedoch überzeugend zeigen, dass derartige Entwicklungen als Reterritorialisierungsversuche zu beschreiben sind, welche die Fragmentierung des städtischen Raumes letztlich nur verstärken und daher „keine Gegenbewegungen zum neoliberalen Individualisierungsdiskurs“ (115) darstellen, sondern selbst zu den treibenden Momenten der Desintegration gehören. Demgemäß führt der Versuch, der Fragmentierung und Desintegration durch eine kleinräumige Reterritorialisierung zu entkommen, zu einer segregierten Homogenität, welche die Konflikte um die postfordistische Stadt nicht löst, sondern lediglich soziale Ungleichheit optisch nivelliert und dabei deren Ursachen unbeachtet lässt.

Die bisherige Beschreibung und gesellschaftliche Einbettung von Prozessen der kleinräumigen Zwangs- und Selbstausgrenzung ist selbstverständlich an sich nicht neu, sondern in der Stadtforschung bereits vielfach diskutiert worden. Das Besondere an der Arbeit von Boris Michel ist allerdings, dass es ihm aufgrund seiner gouvernementalitätstheoretischen Perspektive gelingt, die Reorganisation städtischer Räume im Postfordismus nicht nur und auch nicht primär in negativen Begriffen „als Verlust von Demokratie, Öffentlichkeit und sozialer Gerechtigkeit“ (104) zu begreifen. Vielmehr macht die Betonung des produktiven Charakters von Programmen städtischen Regierens in vielerlei Hinsicht deutlich, wie Realitäten und Subjektpositionen sowie Vorstellungen von Urbanität „im Kontext sich verändernder Weisen des Denkens über Subjektivität und Sozialität“ (105) gesellschaftlich neu hergestellt werden. So ist laut Michel beispielsweise gegenwärtig nicht der Verlust bzw. „das Ende des öffentlichen Raumes“ (102) zu beklagen, sondern eine Auflösung der klaren Unterscheidung von privaten und öffentlichen Räumen zu diagnostizieren. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine veränderte Beziehung zwischen sozialen Ängsten und öffentlichen Räumen feststellen, da paradoxerweise durch die Implementierung neuer Sicherheitsstrategien die subjektive Unsicherheit eher zunimmt, wodurch der öffentliche Raum an gesellschaftlicher Integrationskraft verliert. Gleichermaßen beschreibt auch der sozialpolitische Wandel von welfare zu workfare kein Ende des Sozialstaates, wohl aber eine grundlegende Transformation der Sozialpolitik, welche gegenwärtig ganz anderen Rationalitäten der aktivierenden Nahraumorientierung statt flächendeckender Umverteilung folgt. Durch die Betonung des produktiven Charakters ist es ihm darüber hinaus möglich, die sämtlichen beschriebenen Programmen städtischen Regierens zugrunde liegende Verschränkung der Vorstellung eines autonomen Subjekts mit der Wiedergeburt der homogenen Gemeinschaft sichtbar zu machen. Hervor tritt dadurch eine Rationalität des Regierens, welche Individuen einerseits als selbstverantwortliche Unternehmer anruft, welche „ihre sozialen Beziehungen als auch ihre Selbstpraktiken nach der Logik der Verwertbarkeit“ (116) zu managen haben, selbige aber andererseits angesichts der scheinbaren Problemlösungsfähigkeit kleinräumiger Einheiten zugleich zu homogenen Gemeinschaften zusammenfasst. Indem Michel solche Rationalitäten denaturalisiert und danach fragt, warum sie „in der Gegenwart von solcher Bedeutung sind“, eröffnet er Wege, der neoliberalen „Atomisierung der Gesellschaft“ nicht homogene Gemeinschaften, sondern eine heterogene und klassenübergreifende sowie konflikt- und prozesshafte Vorstellung von „Solidarität auf der Grundlage von Toleranz“ (124) entgegenzusetzen.

Grundlegend sind abschließend m. E. drei zentrale Aspekte hervorzuheben, welche die Arbeit auch Jahre nach ihrem Erscheinen lesenswert machen. Erstens hat sie durch die frühe Verbindung von Themen der Stadtforschung mit Ansätzen Foucaults dazu beigetragen, die Governmentality Studies als fruchtbare Perspektive in der deutschsprachigen Stadtgeographie zu etablieren und zeugt daher von einem hohen innovativen Potenzial. Zu bedenken ist jedoch, dass die erst 2004 veröffentlichten Vorlesungen zur „Geschichte der Gouvernementalität“ und die daran anschließende Intensivierung der Debatte noch nicht berücksichtigt werden konnten. Davon abgesehen wird zwar der damalige Forschungsstand zu den Governmentality Studies pointiert in groben Zügen skizziert und deren Stärken als Analyseinstrument gegenwärtiger Programme neoliberalen Regierens herausgearbeitet, jedoch sollte man trotz der Veröffentlichung in einer „Einstiege“-Reihe keine allgemeinverständliche Einführung zur Gouvernementalität bei Foucault erwarten. Im Gegensatz zu den recht knappen Ausführungen zur Gouvernementalität liefert Michel aber zweitens über das gesamte Buch hinweg en passant eine breite, kenntnisreiche und gut lesbare Auseinandersetzung mit zentralen Debatten der Stadtforschung, welche von Georg Simmel und Walter Benjamin über Jane Jacobs bis hin zu Mike Davis bzw. von der Chicagoer Schule bis zur LA-School reichen. Erfreulich ist drittens, dass der Autor nicht bei der Analyse von Regierungsweisen, Machttechniken und Diskursen stehen bleibt, sondern selbige stets konsequent in ihrem Verhältnis zu Transformationsprozessen kapitalistischer Gesellschaften situiert, was – entgegen seiner selbstironischen Einschätzung – keineswegs als „ökonomistisch“ (20) zu bezeichnen ist, sondern sowohl das Erklärungs- als auch Kritikpotenzial deutlich vertieft.

Sebastian Schipper, Frankfurt a. M.

Quelle: Geographische Zeitschrift, 100. Jg. 2012, Heft 4, S. 248-250

 

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