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Kategorie: Rezensionen

Eike W. Schamp (Hg.): Handbuch des Geographieunterrichts Band 9: Globale Verflechtungen. Köln 2008. 369 S.

Mit dem vorliegenden Band des Handbuchs für den Geographieunterricht nähert sich ein höchst ambitioniertes Projekt langsam seinem Abschluss, auch wenn von den insgesamt 15 geplanten Bänden, einschließlich der Teilbände, noch immer zwei auf ihre Publikation harren. In den 1980er Jahren konzipiert, sollte das Handbuch sowohl eine umfassende und wissenschaftlich fundierte Darstellung des aktuellen geographischen Wissens liefern wie auch die Umsetzung dieses Wissensstandes in konkrete Handreichungen für den Unterricht in der Sekundarstufe I und II anbieten.

Mit dieser Doppelfunktion der fachwissenschaftlichen Grundlegung sowie der didaktischen und unterrichtspraktischen Aufbereitung sollte das Handbuch zu einem – wie es in der Verlagsbeschreibung heißt – „unentbehrlichen Ratgeber und umfassenden Standardwerk der Schulgeographie“ werden. Dieser ambitionierten Zielsetzung entsprechend versammelt das Gesamtwerk als Mitarbeiter nicht nur eine imponierende Zahl von ausgewiesenen Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftlern, sondern auch zahlreiche erfahrene Autorinnen und Autoren aus der Schulpraxis.

Abgesehen von dem ersten bereits im Jahre 1986 erschienenen Band „Grundlagen des Geographieunterrichts“ sind die übrigen Bände jeweils thematischen Schwerpunkten gewidmet, die zwar nicht immer streng den einzelnen Teildisziplinen der Geographie folgen, diesen aber weitgehend zugeordnet werden können. Dies gilt auch für den Themenbereich des vorliegenden Bandes, der inhaltlich in erster Linie der „Wirtschaftsgeographie“ verpflichtet ist. Die Gliederung des Bandes folgt dem verpflichtenden Schema, das allerdings im Detail durchaus unterschiedliche Gewichtungen zulässt. Einem „einführenden Teil“ von knapp 40 Seiten folgen im „allgemeingeographischen Teil“ eine systematische Darstellung der Thematik (ca. 120 S.) sowie im anschließenden „regionalgeographischen Teil“ auf 80 Seiten insgesamt sechs regionale Fallstudien. Demgegenüber tritt der abschließende „unterrichtspraktische Teil“ mit seinen konkreten Handreichungen für den Schulunterricht im Umfang von 100 Seiten deutlich im Gewicht zurück. Angesichts dieses Verhältnisses zwischen fachwissenschaftlichen und didaktisch ausgerichteten Textanteilen darf durchaus die Frage gestellt werden, ob der vorliegende Band des Handbuches – und dies gilt auch für die übrigen Bände – in ausreichendem Maße die Zielgruppe der Schulgeographen zu erreichen und anzusprechen vermag. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis mit annährend 700 Titeln sowie ein ausführliches und nützliches Glossar von Fachbegriffen nebst einem Schlagwortregister runden den Band ab.

Betrachtet man sowohl die komplexe Struktur des inhaltlichen Programms wie auch die Zahl von 20 Autoren so erscheint es, wie der Rezensent aus eigener Erfahrung als Mitarbeiter eines Bandes urteilen kann, eigentlich zuviel verlangt, eine durchgehend konsistente, d.h. in allen Teilen und Aspekten inhaltlich aufeinander abgestimmte und durch ausreichende Querbezüge geprägte Gesamtdarstellung des Themenkomplexes „globale Verflechtungen“ zu erwarten. So muss doch bei manchem Teilkapitel offen bleiben, welchen Stellenwert sein im Detail durchaus interessanter und materialreicher Inhalt im Gesamtzusammenhang des Bandes einnimmt.

Im „einführenden Teil“ versucht zunächst der verantwortliche Herausgeber (E. W. Schamp) in knapper Form eine Explikation des Begriffs „globale Verflechtungen“ vorzunehmen und die damit verbundene Thematik in den Kontext geographischer Forschung einzuordnen. Dabei erscheinen die „globalen Verflechtungen“ als weitgehend synonymer Begriff zu dem populäreren Terminus der „Globalisierung“. Als Defizit der geographischen Analysen, vor allem auch derjenigen deutschsprachiger Provenienz, wird angemahnt, dass sich diese zwar sehr eingehend mit dem Komplex der sozialen Verflechtungen etwa in Form der internationalen Arbeitswanderung sowie den ökonomischen Vernetzungen von international agierenden Untenehmen beschäftigt haben, dass demgegenüber aber bisher „kaum die politischen und institutionellen Veränderungen diskutiert [wurden], die das gegenwärtige Zeitalter der Globalisierung ausmachen“ (S. 7). Dementsprechend gerate die Behandlung des Themas „leicht in das Fahrwasser einer funktionalen Betrachtung, die eine normative Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Krisen im Weltmaßstab scheut“ (S. 5). Dieses Monitum wirkt angesichts der seit Erscheinen des Buches virulent gewordenen aktuellen globalen Finanzkrise nur allzu berechtigt.

Weit über die primär wirtschaftsgeographisch orientierten fachwissenschaftlichen Ansätze hinaus geht das von E. Kroß im Teilkapitel 1.2 „Globalisierung als Thema des Geographieunterrichts“ vorgestellte und später im „unterrichtspraktischen Teil“ weiter vertiefte Konzept des „globalen Lernens“. Es ist konzipiert als ein umfassendes Programm und „übergreifendes Unterrichtsprinzip“ (S. 13), das über das „rein Ökonomische hinaus Aspekte des  Sozialen, Ökologischen und Politischen“ (S. 233) einbezieht.

Eine ebenfalls sehr komplexe, weit über wirtschaftsgeographische Ansätze im engeren Sinne hinausgehende Auseinandersetzung mit Begriff und Konzept der Globalisierung liefert schließlich der dritte Beitrag des einführenden Teils von J. Oßenbrügge zum Thema „Entgrenzung, Regionalisierung und Raumentwicklung im Diskurs der Moderne“. Die dicht formulierten, kenntnisreichen und theoretisch anspruchsvollen Ausführungen bilden zweifellos einen der interessantesten Beiträge des Bandes.

Die systematische Aufbereitung der Thematik im „allgemeingeographischen Teil“ beginnt mit einer Diskussion theoretischer Ansätze zur Erklärung internationaler Arbeitsmigration (H.-J. Bürkner, W. Heller), gefolgt von der Darstellung der „Systeme globaler Kommunikation“ anhand der Beispiele des Verkehrs (H. Nuhn), der IuK-Vernetzungen (P. Gräf), der Finanzmärkte (E. W. Schamp) sowie der transnationalen NGOs (R. Bläser, D. Soyez). Es schließen sich an die „Systeme globaler Ströme von Waren und Dienstleistungen“, exemplifiziert anhand des Handels mit Waren und Dienstleistungen (W. Gaebe) sowie des internationalen Tourismus (K. Vorlaufer). Dezidiert theoretisch ausgerichtet sind die folgenden Ausführungen zur Globalisierungsdiskussion im Spiegel der Außenwirtschaftstheorie (M. Dunn) sowie zu den Auslandstätigkeiten von transnationalen Unternehmen (W. Gaebe), während die Darstellung des Global City-Ansatzes (S. Krätke) den allgemeingeographischen Teil beschließt. All die genannten Themenbereiche stellen zweifellos zentrale Aspekte des Globalisierungskomplexes dar. Doch auch andere wären denkbar gewesen, und so stellt sich die Frage, warum gerade diese ins Zentrum der Betrachtung gestellt wurden. Hier hätte man sich eine nähere Begründung für die inhaltliche Auswahl gewünscht. Weiterhin ist auffallend, dass die vom Herausgeber angemahnten inhaltlichen Defizite der geographischen Globalisierungsdebatte – von wenigen Ansätzen abgesehen – auch in den Beiträgen dieses Bandes nicht ausgeräumt werden konnten. So fehlen nach meiner Auffassung vor allem die politisch-soziologischen Erklärungsansätze von Globalisierungsprozessen sowie ihrer krisenhaften Ausprägungen.

Ebenfalls etwas „unmotiviert“, d.h. in der Auswahl unbegründet und damit isoliert bzw. hinsichtlich ihres jeweiligen Stellenwertes fraglich, bleiben die im einzelnen materialreichen und durchaus lesenswerten sechs Fallbeispiele des „regionalgeographischen Teils“, die von der Arbeitsmigration zwischen Mexiko und den USA (H.-J. Bürkner) über die Familiennetzwerke syrischer Familien in der Karibik (A. Escher), die internationale Tourismuswirtschaft (K. Vorlaufer), die exportorientierte Bekleidungsindustrie Indonesiens (M. Hassler) bis hin zur Funktion international vernetzter Hochschulen als Ausgangspunkt technologischer Innovationsprozesse am Beispiel Costa Ricas (A. Stamm) sowie der Rolle von NGOs im Streit um den Erhalt der Küstenwälder in British Columbia (D. Soyez) reichen.

Recht isoliert von den vorangegangenen fachwissenschaftlich orientierten Darstellungen und in der Auswahl wenig begründet erscheinen schließlich auch die Ausführungen im abschließenden „unterrichtspraktischen Teil“. Nach einer kurzen Einführung in das didaktische Konzept des „globalen Lernens“ (E. Kroß), die Gedanken der Einleitung wieder aufnimmt, folgen vier Entwürfe für Unterrichtsreihen zu den Themen „Das Internet – Globale Kommunikation und ihre Wirkungen“ (R. Klawik), „Air Cargo – ein Baustein der Globalisierung“ (R. Lübbecke), „Die globale Banane“ (J. Hampel) und „Globalisierung am ‘Rande der Welt’: Modernisierung und Integration West Samoas in den Weltmarkt“ (W. Hennings). Ob es von Vorteil oder Nachteil ist, dass die Darstellungen unterschiedlich strukturiert und didaktisch aufbereitet sind, mag offen bleiben. Eindrucksvoll ist zweifellos die Fülle des präsentierten Materials. Gleichwohl können die Beispiele nur Anregungen für den Unterricht geben, da die Materialien zum Zeitpunkt des Erscheinens bereits zwangsläufig mehr oder weniger veraltet waren.

Insgesamt kann jedoch der vorliegende Band trotz aller Defizite im Detail als eine umfassende, materialreiche und inhaltlich anspruchsvolle Einführung in den Themenkomplex der Globalisierung und der globalen Vernetzungen betrachtet werden, die in der Fülle der angesprochenen Aspekte meines Wissens über die in deutscher Sprache vorliegenden geographisch orientierten Darstellungen hinausragt. So gehört der Band nicht nur in jede Schul-, sondern auch in jede Institutsbibliothek.
Hans Dieter Laux

Quelle: Erdkunde, 66. Jahrgang, 2012, Heft 2, S. 263-264