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Kategorie: Rezensionen

Anne Vogelpohl 2014: Gespaltene Stadtgesellschaft – Zur Aktualität einer Grundfrage der Stadtforschung

Martin Kronauer, Walter Siebel (Hg.): Polarisierte Städte – Soziale Ungleichheit als Herausforderung für die Stadtpolitik. Frankfurt a.M.,New York 2013.

Hartmut Häußermann, der Stadtsoziologe, der nicht nur sein eigenes Fach, sondern die gesamte sozialwissenschaftliche Stadtforschung im deutschsprachigen Raum ebenso wie praktische Stadt- und Quartierspolitiken prägte, ist im Herbst 2011 verstorben. Ihm zum Gedenken wurde das Buch „Polarisierte Städte – Soziale Ungleichheit als Herausforderung für die Stadtpolitik“ von zwei seiner engen Kollegen, Martin Kronauer und Walter Siebel, herausgegeben. Eine zentrale Absicht des Sammelbandes ist entsprechend, die Forschungen und Ambitionen Häußermanns zu würdigen und zugleich weiterzutragen. Und wer könnte dies besser tun als Häußermanns eigenen Kolleginnen und Kollegen und ehemaligen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen? Eine Auswahl seiner akademischen Wegbegleiter_innen sind hier versammelt und greifen jene Themen auf, denen Häußermann immer wieder seine Hauptaufmerksamkeit schenkte: soziale Ungleichheit und ihre Manifestation im städtischen Raum, die Bedeutung städtischer Politiken für die Dynamik sozialer Ungleichheit sowie letztlich auch die Möglichkeiten, die verräumlichten Ungleichheiten zu reduzieren. In diese drei Bereiche ist der Sammelband eingeteilt: „Polarisierungen“ (Kap. 2-6), „Potenziale“ (Kap. 7-10) und „Politiken“ (Kap. 11-15) sind die Titel der drei abgehandelten thematischen Blöcke.

Dem ehrenwerten Vorhaben einer Gedenkschrift zum Trotz muss sich das Buch jedoch auch daran beurteilen lassen können, welchen Beitrag es zu der Ungleichheitsdebatte liefert, die die Stadtforschung seit Beginn begleitet und die seit inzwischen mehreren Jahrzehnten auch mit Polarisierungsdiagnosen verknüpft ist. Deswegen möchte ich die Rezension um zwei Fragen herum entwickeln, die die gesetzten Kernthemen der Herausgeber aufnehmen und sie mit aktuellen Herausforderungen verbinden, von denen ich glaube, dass sie potenzielle Lesende zum Blick in das Buch antreiben könnten: Was sind polarisierte Städte, was sind ihre Triebfedern und welchen Dynamiken unterliegt der Prozess der Polarisierung aktuell? Inwiefern ist die Polarisierung der Städte problematisch und was wären sinnvolle Wege ihrer Reduktion?

Was sind polarisierte Städte, was sind ihre Triebfedern und welchen Dynamiken unterliegt der Prozess der Polarisierung aktuell?

An zwei Stellen des Buches wird eine Definition des Begriffes Polarisierung gegeben: Zum einen klären Martin Gornig und Jan Goebel in ihren auf quantitativen Daten basierenden Ausführungen über entsprechende Entwicklungen in deutschen Stadtregionen den Begriff
in Abgrenzung zu „Ungleichheit“, die zunächst die reine Abweichung vom globalen Mittelwert einer Verteilung beschreibe; Polarisierung hingegen thematisiere „das Maß der Clusterung um lokale Mittelwerte“ (in Anlehnung an Amiel, Cowell und Ramos, S. 59; Kap. 3). Zum anderen definieren Martin Kronauer, Walter Siebel und Uwe-Jens Walther Polarisierung in ihrem Abschlusskapitel (Kap. 16) – ebenfalls in Gegenüberstellung mit dem Begriff der Ungleichheit als das quantitative Auseinanderrücken von Oben und Unten – als grundsätzlichen Wandel der Sozialstruktur, der nicht nur die sich wandelnden Unterschiede zwischen Oben und Unten, sondern auch die Verteilung und somit das Schrumpfen der Mittelschicht einbezieht (S. 331f).

Der Prozess wird quer durch das Buch als in den 1970er Jahren einsetzend aufgefasst, als Folge der Doppelentwicklung von Deindustrialisierung und Tertiärisierung gekoppelt an den damit einsetzenden Rückbau des sozialen Wohlfahrtsstaates. Letzterer habe zu massiven Kürzungen in der Wohnung- und Arbeitsmarktpolitik (Holm/Lebuhn, Kap. 10) bzw. der Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik (Hunger, Kap. 13) geführt. Die sozial ungleichen Folgen dieser Entwicklung wurde u.a. durch verstärkte, EU-gesteuerte Subsidiaritätspolitiken (Kazepov, Kap.11) intensiviert: Der lokale Staat hat prinzipiell an Verantwortung gegenüber dem Nationalstaat gewonnen, kann aber aufgrund von Finanzierungsproblemen nicht alle Aufgaben in Hinblick auf soziale Gerechtigkeit ausfüllen. Edmond Préteceille (Kap. 2) beschreibt diesen Übergang ausführlich als einen Prozess der Neoliberalisierung, die die Grundprinzipien der Europäischen Stadt, v.a. den sozialen Wohlfahrtsstaat, bedrohe. Während sich Neoliberalisierung seit den 1970er Jahren in erster Linie in einer Reorientierung von sozialen auf Wettbewerbspolitiken gezeigt und eher zu einer Vernachlässigung von z.B. Wohnungspolitiken geführt habe, sei aktuell insbesondere die Rolle des anlagesuchenden Finanzkapitals entscheidend, das aktiv die Wohnungssituation in europäischen Städten spaltet (S. 42ff).

Erst in den 1990er Jahren allerdings hat sich der Polarisierungsprozess verfestigt und auch zunehmend in Städten manifestiert. Diese Diagnose stellen zumindest viele der Sammelbandbeiträge. Polarisierte Städte werden im Sammelband als räumliche Manifestation gesellschaftlicher Umbrüche verstanden, die auch als Segregation bezeichnet wird: das Auseinanderdriften von Enklaven der Wohlsituierten hier und Nachbarschaften der Ausgegrenzten da. Beispielhaft dafür nimmt Susanne Frank neue Familienenklaven in den Innenstädten in den Blick, die eine innere Suburbanisierung im Sinne enger sozialer Netzwerke und starken Sicherheitsvorkehrungen etablieren  würden, aber auch mit einer für urbane Räume eigentlich untypischen Privatheit und sozialen Disktinktion einhergeht (Kap. 4). Neben den Begriffen Ungleichheit und Polarisierung kommt hier somit Exklusion bzw. Ausgrenzung als dritte qualitative Entwicklung zum Ausdruck, die sich ebenfalls als Problemstellung durch das Buch zieht.

Das Kapitel, das am deutlichsten versucht, nicht nur Begriff und Bedingungen polarisierter Städte zu erörtern, sondern auch aktuelle Dynamiken zu erkennen, ist das bereits erwähnte von Gornig und Goebel. Auf Basis des Sozioökonomisches Panels (SOEP) errechnen sie den Polarisierungsindex nach Marta Reynal-Querol und weisen in dem Zuge auf zwei bemerkenswerte Entwicklungen hin: Während grundsätzlich in der Debatte um polarisierte Städte von sehr disparaten Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland ausgegangen wird, zeigen Gornig und Goebel auf, dass zwischen 2000 und 2006 die Polarisierungstendenzen v.a. in Ostdeutschland stark waren, zwischen 2006 und 2010 die Polarisierung dort jedoch nahezu zum Erliegen kommt, während in westdeutschen Stadtregionen eine vergleichsweise langsamere, aber stetige Polarisierung anhält (S. 59ff).

Städte bilden die Polarisierung allerdings nicht nur ab, sondern können diese auch verstärken bzw. abschwächen (vgl. Kronauer/Siebel, S. 9). Gerade letztere These wird von vielen Autorinnen und Autoren aufgegriffen, weil Häußermann eine Stadt als „Integrationsmaschine“ verstand, die Polarisierungstendenzen prinzipiell wesentlich abmildern kann – eine Funktion, die allerdings aufgrund zunehmend ungleicher Arbeits- und Lebensbedingungen aber auch brüchig wird.

Inwiefern ist die Polarisierung der Städte problematisch und was wären sinnvolle Wege ihrer Reduktion?

Mit den Foki des Bandes Polarisierung, Potenziale und Politik wird implizit davon ausgegangen, dass polarisierte Städte ein Problem sind. Im Grunde fragen sie: Was ist Polarisierung? Welche Potenziale der Überwindung gibt es? Welche Politiken sind in diesem
Kontext relevant? Die stellenweise aufflimmernde Diskussion um Nachbarschaftseffekte und die umstrittene Frage, inwiefern eine Konzentration von Schichten und Klassen in räumlicher Nähe von Nach- oder gerade von Vorteil sein könnte, kommt den Überlegungen
am nächsten, inwiefern polarisierte Städte nun ein Problem sind (z.B. Hillmann, Kap. 8, S. 158; Güntner/Walther, Kap. 14, S. 300). Welcher Art die Probleme sind, wann wer auf welche Weise durch eine räumliche Struktur (zusätzlich) benachteiligt wird, bleibt en Gros allerdings unbeantwortet in diesem Buch. Offenbar mag es ausreichen, sich prinzipiell auf Polarisierung als ungleich und ungerecht zu einigen, um nach Möglichkeiten und Maßnahmen der Überwindung suchen zu können.

Überlegungen zu derartigen Möglichkeiten und Maßnahmen spielen in allen drei thematischen Blöcken eine Rolle: begonnen mit Analysen zur Rolle der Schul- und Bildungspolitik (Baur, Kap. 5; Hamnett, Kap. 6) über Chancen einer ökonomischen Rückbesinnung
auf den produktiven Sektor in neuer Weise (Läpple, Kap. 7) oder einer neuen Wertschätzung migrantischer Ökonomien im Sinne einer vielfaltsbasierten marginalen Urbanität (Hillmann) bis hin zur Forderung einer verstärkten Mietenpolitik (Hunger) und verstärkt integrierter sozialer Stadtpolitik in Bezug auf Ressorts, Scales und Akteure (Holm/Lebuhn; Güntner/Walther). Das zentrale stadtpolitische Programm zur Milderung der Probleme in sog. benachteiligten Quartieren, das Bund-Länder-Programm Soziale Stadt, diskutieren Simon Güntner und Uwe-Jens Walther am ausführlichsten. Auch wenn das Programm in anderen Kapiteln Erwähnung findet (z.B. schlagen Andrej Holm und Henrik Lebuhn vor, soziale Bewegungen und Migrant_innen stärker in derartige Programme einzubeziehen), erörtern Güntner und Walther den Entstehungskontext sowie aktuelle Bedingungen des Programms am klarsten
und können damit nachvollziehbar die Probleme des Programms herausarbeiten: die städtebauliche Schwerpunktsetzung, die Gebietsbezogenheit, die Fokussierung auf Partizipation statt auf soziale Absicherung. Zugleich gelingt es auf Basis dieser Analyse, dezidiert Ideen zur Verbesserung zu entwickeln, die auf jene Problemlagen antworten (S. 305). So wird vorgeschlagen, Partizipation und Daseinsvorsorge expliziter als zwei separate Aufgaben der Stadtentwicklung sowie soziale Stadtentwicklung stärker als lernenden Prozess in Kooperation mit lokalen Gruppierungen zu begreifen, um den Limitierungen der gebietsbezogenen Herangehensweise an soziale Benachteiligung ein Stück weit zu begegnen.

Hat der Sammelband „Polarisierte Städte“ nun einen Lesenswert für stadtforschungs- und politisch Interessierte? Solange Polarisierungstendenzen in Städten weiterhin zu beobachten sind und so lange diese zu ökonomischen, sozialen und kulturellen Ausgrenzungen von Betroffenen führen, so lange bleibt ein Buch über das „alte Thema“ Polarisierungen wichtig, wenn es neuere Entwicklungen und möglicherweise veränderte Rahmenbedingungen aufzeigen kann. Beides leistet dieser Band in mehrfacher Hinsicht. Denn erstens arbeiten die Beiträge mit sehr aktuellen Daten bzw. beschäftigen sich mit Phänomenen, die erst in den letzten Jahren zu beobachten waren. Aktuell ist das Buch damit zweifellos. Zweitens beziehen sehr viele Kapitel internationale, insbesondere intereuropäische Vergleiche in die Zustandsbeschreibung polarisierter Städte ein. Damit hat der Band einen ausdifferenzierten Charakter und beweist eine gute Sensibilität für Gemeinsamkeiten und Unterschiede in lokalen Polarisierungsprozessen. Und drittens ist der Band durch eine große inhaltliche Bandbreite von Themen und Perspektiven gekennzeichnet, so dass sich ein
Blick in das Buch für fast alle Stadtinteressierten lohnen müsste.

Dennoch begleiten den Band einige Schwierigkeiten und offene Fragen. Die schöne Idee, Wegbegleiter_innen Häußermanns zu Beiträgen zusammenzubringen, muss notwendigerweise mit thematischen Einschränkungen einhergehen. Bisher vernachlässigte
Themen, die für städtische Polarisierungsprozesse auch relevant sind, können in diesem Band kaum Platz finden. Eine geschlechtersensible Perspektive auf sozialräumliche Ungleichheit bleibt bspw. ebenso unthematisiert wie Fragen der Informalität oder Illegalität urbaner Tätigkeiten. Umgekehrt scheint die Auswahl der Autorinnen und Autoren sowie die Zuordnung ihrer Kapitel zu den thematischen Blöcken manchmal eher der Symmetrie des Bandes als inhaltlichen Überlegungen geschuldet zu sein. Denn was Rekommunalisierungen (Wollmann, Kap. 12) oder die Subsidiaritätspolitik der EU (Kazepov) mit polarisierten Städten im engeren Sinne zu tun haben, mag erfahrenen Leserinnen und Lesern vielleicht schnell einleuchten; explizit hergestellt werden die Zusammenhänge allerdings nicht. Und weshalb John Mollenkopfs (wenn auch sehr spannend zu lesende) Beitrag über die gescheiterten städtischen Armutspolitiken in den USA (Kap. 15) ein Teil des Buches ist, ein Kapitel über gut funktionierende zivilgesellschaftliche soziale Projekte jedoch fehlt, ist nicht wirklich einsichtig.

Die Herausgebenden scheinen sich dieser Lücken zumindest teilweise bewusst zu sein, denn sie enden das Buch in ihrem resümierenden Kapitel mit knapp zehn Forschungsdesideraten, deren Bearbeitung sie in Zukunft für die sozialwissenschaftliche Stadtforschung für relevant erachten. Diese reichen von Überlegungen zur Stellung von Städten in einer internationalen urbanen Hierarchie über die Forderung, nicht nur zu fragen, was Städte spaltet, sondern auch was sie zusammenhält, bis hin zur Betonung der Notwendigkeit sinnvoller Evaluationen städtischer Politiken. Gekoppelt an die oben genannten Stärken des Buches stellen die anschließend erwähnten Defizite also insgesamt keine fundamentale Kritik am Inhalt und Aufbau des Buches, sondern eher Anreize für weitere relevante Forschungsvorhaben in Kontext des sich ständig wandelnden, aber nicht verringernden Problems der polarisierten Städte dar – zumal z.B. das Programm Soziale Stadt nach Erscheinen des Sammelbandes bereits grundlegend überarbeitet und aufgestockt wurde.

Ein kleiner praktischer Tipp an potenzielle Leserinnen und Leser zum Schluss: Es lohnt sich, mit dem letzten Kapitel von Kronauer, Siebel und Walther zu beginnen, denn hier werden die zentralen Begriffe des Bandes – Ungleichheit, Polarisierung und Ausgrenzung – eingehend erläutert und im Zusammenhang mit aktuellen Herausforderungen der Stadtentwicklung diskutiert.

 

Quelle: geographische revue, 16. Jahrgang, 2014, Heft 2, S. 64-68

 

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