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Kategorie: Rezensionen

Günter Meyer u. Andreas Thimm: Globalisierung und Lokalisierung. Netzwerke in der Dritten Welt. Mainz 1997 (Interdisziplinärer Arbeitskreis Dritte Welt. Veröffentlichungen, Bd. 12). 148 S.

Die vorliegende Sammlung von fünf Texten, die auf eine Tagung des Interdisziplinären Arbeitskreises Dritte Welt zurückgehen, stellt den Begriff des Netzwerkes und die damit verbundene Perspektive in die Betrachtung transnationaler Beziehungen vor dem Hintergrund der Golbalisierungsprozesse ein. Die in den einzelnen Texten betrachteten Netzwerke sind dabei von sehr unterschiedlicher Art. Unter dem Titel Globalisierung und die Krise des Fordismus (11-42) gibt W. Hein zunächst einen allgemeinen Überblick aus regulationstheoretischer Sicht. Demzufolge erweisen sich nationalstaatlich-fordistische Formen der Regulation als untauglich für die mit den Globalisierungsprozessen entstandenen Aufgaben und Probleme, ja sie erscheinen auf Dauer als nachteilig oder gar konfliktverschärfend. Dem entgegen setzt er Netzwerke als angemessene Form der postfordistischen Regulation. Als erste Anfänge solcher Netzwerkregulation sieht er die Rolle transnational vernetzter Nichtregierungsorganisationen auf dem Weg zu einer global governance in Zusammenarbeit mit der UN.
Als Internationale Netzwerke im asiatisch-pazifischen Raum (42-67) beschreiben J. Dosch und J. Faust Strukturen wie internationale Unternehmensstrukturen und ASEAN. Das Funktionieren solcher Strukturen als Netzwerke unterschiedlicher Organisationsformen jenseits nationalstaatlich institutionalisierter Regierungspolitik und vor allem deren Verflochtenheit auf personaler wie auf institutioneller Ebene werden als besonders wichtig für deren friedensstiftende und konfliktentschärfende Rolle dargestellt.
In bezug auf Chinesen im Entwicklungsprozeß Südostasiens (69-87) verweist H. Buchholt zwar auf die historische Bedeutsamkeit von chinesischen Netzwerken auf der Grundlage gemeinsamer ethnischer Herkunft und gemeinsamer Werthaltungen für den andauernden ökonomischen Erfolg von Chinesen in Südostasien, doch warnt er zugleich vor überzogenen Verallgemeinerungen und einer Überschätzung der "Multifunktionalität und Omnipotenz chinesischer Netzwerke" (82) im heutigen Kontext. Sowohl das soziale, politische und ökonomische Umfeld als auch das eigene Verhältnis der Akteure und Akteurinnen zu den Werthaltungen ihrer Gruppe sind Faktoren, die kontextspezifisch darüber entscheiden, wie bei der Bildung von Netzwerken auf ethnische und ethische Kategorien Bezug genommen und ob überhaupt auf vorhandene Netzwerke für ökonomische Tätigkeiten zurückgegriffen wird.
In seinem Aufsatz A World Wide Web: Das religiöse Netzwerk der Familie Niass (Senegal) (89-113) betrachtet R. Loimeier die Entstehung und Geschichte eines Netzwerkes, welches auf einen senegalesischen Sufi-Gelehrten zurückgeht. Religiös motiviert erstreckt sich dieses Netzwerk inzwischen über große Teile Westafrikas, der arabischen Welt und der USA. Loimeier erklärt die besondere Dynamik dadurch, daß sich das Netzwerk nicht bloß auf den Bereich des Religiösen beschränkt, sondern daß es zugleich wichtige soziale, politische und ökonomische Dimensionen hat. Das ideologische Gerüst bilden dabei die Interpretationen der Sufi-Traditionen, in deren Rahmen die Akteure und Akteurinnen ihre Position finden und eine gemeinsame corporate identity ausbilden können.
Der Text von A. Escher über Syrische Netzwerke in Venezuela (114-137) behandelt nicht nur Netzwerke in Venezuela, sondern auch deren Verbindung zu den Herkunftsregionen der Migranten und Migrantinnen in Syrien. Besondere Formen der Organistation wie z. B. Clubs und andere 'Netzknoten' spielen hier eine ebenso wichtige Rolle wie die Aufrechterhaltung enger personaler und ökonomischer Beziehungen über Heiraten, Besuche und Investitionen im Herkunftsland, welche die Herkunftsorte zu räumlichen Fixpunkten globaler Netzwerke machen. Dabei wird den Globalisierungsprozessen eine stabilisierende Funktion für die Netzwerke zugeschrieben, die sich in der mehr als 100jährigen Migrationsgeschichte von Syrern in Venezuela bildeten und die im Laufe dieser Zeit je nach politischen, ökonomischen und kommunikativen Möglichkeiten von unterschiedlicher Dichte und Intensität waren.
Insgesamt bietet die Textsammlung einen schlaglichtartigen Einblick in ein breites Spektrum von Netzwerken, ihre Entwicklungen und Transformationen, ihre Funktionen in den Prozessen von Globalisierung und Lokalisierung sowie ihre zugrundeliegenden Prinzipien.
Die wichtigsten Ergebnisse werden thesenhaft im kurzen Vorwort (7-9) zusammengefasst und können wie folgt bilanziert werden:
–  Netzwerke werden als Form der Strukturierung aufgefaßt, die der durch die Prozesse der Globalisierung stark erhöhten Komplexität gerecht werden können.
–  Globale Akteure gibt es nicht nur im Bereich der Ökonomie, sondern auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen. - Migration bedeutet nicht notwendigerweise Akkulturation, sondern erlaubt einerseits die Intensivierung kultureller Kontakte und andererseits, dank der heutigen Kommunikations- und Transportmöglichkeiten, engen Kontakt mit den Herkunftsgesellschaften.
–  Angesichts der Globalisierung ist der Spielraum nationaler Wirtschafts- und Sozialpolitik eingeschränkt und die Industrienationen können dem Wettbewerb mit ehemals unterentwickelten Ländern nicht ausweichen.
–  Verstärkter Migrationsdruck wird auch als Teilhabe der wirtschaftlich zurückgebliebenen Länder an den gesellschaftlichen Globalisierungsprozessen gesehen.
Über diese Schlußfolgerungen hinaus ergeben sich aus den Texten jedoch weitere wichtige Aspekte, die als Anforderungen an die Aufgabenstellungen für zukünftige Forschungen formuliert werden müssen. Auf die drei wohl wichtigsten Punkte soll deshalb hier noch hingewiesen werden. Zum einen sind dies die Prozesse der Lokalisierung unter den Bedingungen der Globalisierung und die Rolle von Netzwerken darin. Dabei sind vor allem die Intensivierung lokaler Integration als lokaler Standortvorteil im Rahmen einer globalen Ökonomie (Hein), das Bemühen um lokale überschaubare Lebenswelten (Buchholt) und die Ortsgebundenheit von Migranten an Netzknoten genauso wie an Herkunftsorte, die zu räumlichen Fixpunkten von Netzwerken werden (Escher), zu nennen. Ein weiterer Punkt ist die Begründung und Aufrechterhaltung von Netzwerken nicht nur durch soziale, politische und ökonomische Beziehungen und Interessen, sondern durch den Bezug auf Ethos, Ethnos, Nation, Religion und anderere kulturelle Formen. Insbesondere die drei Fallstudien von Buchholt, Loimeier und Escher verweisen auf das komplizierte Verhältnis von Netzwerkbildungen zu diesem Bereich. Der schlichte Verweis auf "kompatible Werte- und Einstellungsmuster" (Dosch/Faust, 56) reicht zum Verstehen der Netzwerke und ihrer Dynamik nicht aus, sondern muß durch die detaillierte Untersuchung der praktischen Umsetzung und Transformation kultureller Formen in den Netzwerken und durch sie belegt und ergänzt werden. Die Betrachtung der Rolle kultureller Formen führt zu einem letzten interessanten Punkt. An einigen Stellen der Texte findet sich der Verweis auf Huntingtons These vom 'Kampf der Kulturen', ohne allerdings systematisch zum Gegenstand der Erörterung zu werden. Mag dieser Bezug vielleicht ein unterschwelliges Motiv der Tagung gewesen sein, so verdient diese These m. E. im Rahmen der Netzwerkforschung größere Beachtung. Die Hinwendung zum "Gewinnstreben von Menschen in Netzwerken und Netzwerkorganisationen [...], die zwischen den Kulturen und interkulturell agieren" (135), wie sie Escher fordert, reicht hier nicht aus. Denn die Akteure und Akteurinnen in den Netzwerken agieren nicht nur 'zwischen Kulturen', sondern es sind kulturelle Formen Medium und Gegenstand strategischen Handelns und Manipulierens in Netzwerken und werden erst hierdurch zu reifizierten 'Kulturen', die als Ressource eingesetzt werden können - und als solche können sie auch in 'interkulturellen' Netzwerken eine enorme Sprengkraft erhalten.
Autor: Michael Dickhardt

Quelle: Quelle: geographische revue, 2. Jahrgang, 2000, Heft 1, S. 85-88