Drucken
Kategorie: Rezensionen

Michael Herbert: Kommunale Fehlentscheidungen erkennen und vermeiden. Irrationale Entscheidungsprozesse aus systemorientiert geographischer Sicht. Erlangen-Nürnberg 1998 (Nürnberger Wirtschafts- und Sozialgeographische Arbeiten, Band 52). 251 S.

Der Titel weckt Erwartungen: Wer möchte nicht gerne über ein zuverlässiges Analyseinstrumentarium verfügen, um irrationale und fehlerhafte Entscheidungen in der Kommunalpolitik eindeutig zu identifizieren? HERBERT verfolgt mit seiner Arbeit kein geringeres Ziel, als Vorschläge auszuarbeiten, wie das "Irrationale im kommunalen Entscheidungsprozeß" auszuschalten ist (S. 2).
Zu Beginn wäre notwendigerweise konzeptionell zu klären, welches Verständnis von Rationalität zugrunde gelegt werden soll, um beurteilen zu können, welche Entscheidungen falsch oder gar irrational sind. Der Autor streift zur Klärung dieser zentralen Frage kursorisch einige Theorieansätze rationaler Entscheidungen (ökonomische Handlungskonzepte wie homo oeconomicus, Theorie des beschränkten Rationalverhaltens, wohlfahrtsökonomische Ansätze, social choice, Poppers Ansatz des Inkrementalismus, die Habermas'sche Theorie des kommunikativen Handelns u. a. m.; S. 14-22), um dann zu der Schlußfolgerung zu gelangen, "dass es wohl keine allgemeingültige Definition von Rationalität geben kann" (S. 22). Schwer nachzuvollziehen ist jedoch die anschließende Distanzierung von theoriegeleiteten Begriffsklärungsversuchen. Die Folgerung, daß "die vorgestellten Theorien ... nicht nur in der Praxis scheitern" würden und sich auch "nur bedingt für wissenschaftliche Fragestellungen verwenden"
(a.a.O.) ließen, ist affirmativ und taugt wenig als Begründung.
HERBERT präsentiert dann auch eine sehr vage eigene Definition von Rationalität und Irrationalität für den Rahmen seiner Arbeit: "Kommunale Entscheidungsprozesse sind rational, wenn die Entscheidungsträger zielorientiert handeln, (also die Kommune im Hinblick auf die Bedürfnisses der Bevölkerung gestalten; d. Verf.) ... in unvollkommenen Entscheidungssituationen nach bestem Wissen handeln, mit dem uneingeschränkten Willen, ihrer Verpflichtung nachzukommen handeln. Werden eine oder mehrere der drei Bedingungen verletzt, kommt es zur Irrationalität im kommunalen Entscheidungsprozess" (a.a.O.).
HERBERT konzentriert sich im Folgenden darauf, Störfaktoren und deren Träger zu identifizieren, die auf den kommunalen Entscheidungsprozeß einwirken. Diese Störfaktoren können Quellen irrationaler Einflüsse sein, deren Wirkung es zu erklären gilt, um diese auf der Basis der gewonnenen Erkenntnis bekämpfen zu können. Zur Identifikation dieser Störfaktoren wird im Kapitel 2 (Theoretische Grundlagen für die Bearbeitung der Fragestellung; S. 26-96) der Bezug zu einer "systemorientiert geographischen Sicht" hergestellt. Dabei wird die Kommune als ein System betrachtet, das sich allgemein aus (kommunalen) Elementen, Subsystemen und Beziehungen zusammensetzt, das in eine Systemlandschaft (Systemumwelt) eingebettet ist, mit der es durch Beziehungsgeflechte verbunden ist, wodurch Rückkoppelungsrelationen und die wechselseitige Beeinflussung durch Regulatoren entstehen. Kommunale Steuerung findet nach innen im Kontext komplexer interdependenter Subsysteme und nach außen
in einem Geflecht vielfältiger Einflüsse aus der externen Systemumwelt statt, die zudem dynamischen Veränderungsprozessen unterworfen sind. Ausführlich werden unterschiedliche mögliche Perspektiven auf das Systemgeflecht diskutiert, verschiedene Kategorien von Verflechtungsbeziehungen angeführt und unterschiedliche Akteursgruppen und gesellschaftliche Subsysteme eingeführt.
Aus allen diesen Elementen lassen sich schließlich eine Fülle von möglichen Einfluß- und Störfaktoren auf den kommunalen Entscheidungsprozeß ableiten, die in Kapitel 3 der Arbeit (Potentielle Störfaktoren rationaler Entscheidungsprozesse) kompilatorisch aufgelistet werden. Solche Störfaktoren können bspw. entstehen durch die Systemdynamik im Übergang in eine neue Wirtschaftsstufe, wie es der aktuelle Übergang vom Fordismus zum Postfordismus darstellt (S. 97ff).
Irrationalitäten im Entscheidungsprozeß entstehen dann durch eine zögerliche Haltung der Kommunen gegenüber Neuem, welches auf das fehlende Bewußtsein der Entscheidungsträger zurückzuführen ist, die nicht selten aufgrund ihrer Ehrenamtlichkeit ebenso wie die Verwaltung "aus Mangel an Zeit, Wissen, Innovationskraft und Managementfähigkeit" hinsichtlich der Herausforderungen des gegenwärtigen Systemumbruchs überfordert sind (S. 98).
Weitere Quellen für Störfaktoren werden vorgeführt: Das Spektrum reicht von falsch gewählten Entwicklungspfaden über den Widerstand korporativer Akteure im Erneuerungsprozeß, (Unternehmen wie Gewerkschaften) zu Politikern, die zu sehr aus Eigeninteresse ihren Machterhalt im Sinn haben, bis zu Parteien, die ihre partialen Interessen verfolgen und gesellschaftliche Subsysteme, die interessengeleitet Einfluß nehmen usw. Wichtige Ursachen für Irrationalität sind weiterhin externe Effekte, die aus der Systemlandschaft eingetragen werden, z. B. über den interkommunalen Wettbewerb um Investoren oder aber auch durch interkommunale Kooperationen entstehen können.
HERBERT präsentiert zahlreiche mögliche Störfaktoren. Auffällig ist allerdings, daß eine Gewichtung der einzelnen Faktoren unterbleibt. Es bleibt unklar, welches potentielle Störmoment welche Wirkung zeitigt und deshalb verstärkt angegangen werden sollte. Hier vermißt der Leser einzelne Fallstudien, die irrationale Entscheidungsprozesse rekonstruieren und dadurch das Verständnis verbessern könnten. Mit eigenen empirischen Erhebungen wartet HERBERT erst in Kapitel 3.8 (Mangelnde Beachtung interkommunaler Verflechtungen - ein empirisch ermittelter Störfaktor; S. 170-182) auf. Auf der Basis der Berichterstattung im Schweinfurter Tagblatt geht er der These nach, daß interkommunale Verflechtungen bei der Diskussion von Maßnahmen der Stadt Schweinfurt nur eine unbedeutende Rolle einnehmen. Die These sieht er als bestätigt an, da der Anteil der Berichte, in denen verflechtungsrelevante Aspekte der Diskussion wiedergegeben werden, an der Anzahl der insgesamt ausgewählten relevanten Berichte sehr gering ist. Da für rationale Entscheidungen aber externe Effekte und mögliche Rückkoppelung anderer Gemeinden die Basis der Entscheidungsfindung sein müssen, treten hier folglich Störfaktoren auf.
Leider findet eine kritische Auseinandersetzung mit der Methodik der Untersuchung und der Validität der Daten kaum statt (Warum gibt die Zeitung welche Inhalte wie wieder und welche nicht? Welche Rückschlüsse auf Entscheidungsprozesse sind auf der Basis von Zeitungsberichten überhaupt möglich?). Zudem stellt sich hier die Frage - wie bei vielen anderen Beispielen auch - ob der Bezug zur gewählten Definition von rationalen Entscheidungsprozessen als Maßstab der Bewertung überhaupt stimmig ist. Die Definition setzt an den Handlungen der Entscheidungsträger an (s. o.). Diese werden aber in den einzelnen Beispielen kaum untersucht. Gerade in der Situation der krisengeschüttelten Stadt Schweinfurt ist es möglicherweise seitens der Entscheidungsträger sehr wohl rational, eine Ansiedlungspolitik zu verfolgen, die primär der eigenen Stadt nutzt und die externe Effekte auf andere Kommunen für die Entscheidung zum Wohle der eigenen Bürger unberücksichtigt läßt. Hier kommt quasi zwischen den Zeilen ein Rationalitätsverständnis des Autors hervor, das er aber selbst nirgends expliziert: nämlich, daß die Steigerung des kollektiven Gesamtnutzens der Systemlandschaft Ziel und Maßstab rationalen Handelns ist.
Im Kapitel 4 (Grobkonzepte und Ideen für die Ausschaltung des Irrationalen; S. 183-209) wird eingangs konstatiert, daß die "Störfaktoren rationaler Entscheidungsprozesse ... eine Vielzahl von Ursachen (haben) und unterschiedlichste Ausprägungen (zeigen)." HERBERT versucht daher, gemeinsame Ursachen zu identifizieren. "Dabei zeigte sich, daß irrationale Entscheidungsprozesse vor allem auf Informationsdefizite der am Entscheidungsprozeß Beteiligten, die Durchsetzung von Interessen einzelner Individuen und Gruppen, eine fehlende Handlungsorientierung der kommunalen Steuerung, die Inflexibilität des kommunalen Systems, die fehlende Professionalität und Qualifikation der Entscheidungsträger zurückzuführen sind ..." (S. 183). Die anschließenden Handlungsempfehlungen lesen sich wie ein Kompendium guter und bekannter Ratschläge an die Kommunalpolitik: Schulungen für Entscheidungsträger, besseres internes und externes Berichtssystem, Einführung von Stadtmarketing, Einsatz von Szenariotechniken, Zielsystemen, Mediations- und Moderationstechniken, mehrÖffentlichkeitsarbeit, veränderte Aufgabenverteilung zwischen Politik und Verwaltung, interkommunale Kooperation, Kooperation mit der Wirtschaft, Einführung einer "postfordistischen Entwicklungsplanung", Ausbau des Public-Private-Partnership, Konzentration auf Kernaufgaben. Auch mit Empfehlungen an den Gesetzgeber wird nicht gespart: Einführung einer
erfolgsabhängigen Besoldung, bessere Rahmenbedingungen für interkommunale Kooperation, Gebietsreform (sic!), andere Förderpraxis ...
Bei den Maßnahmen springt der Autor scheinbar beliebig zwischen unterschiedlichen Kategorien hin und her und verzichtet darauf, Schwerpunkte und prioritäre Ansätze kenntlich zu machen. Eine schlüssige Begründung der Empfehlungen aus der vorherigen Arbeit ist nicht immer ableitbar, eine kritische Auseinandersetzung darüber, welche der Maßnahmen in welcher Weise zielführend ist, findet nicht statt. Das Ziel der Arbeit, in Inhalt und Ergebnissen eine Orientierungshilfe für die verschiedenen Ebenen der Raumordnung zu sein (S. 5), ist meines Erachtens nicht erreicht worden. Vielmehr bleiben wichtige inhaltliche, theoretische und methodische Fragen offen.    
Autor: Manfred Miosga

Quelle: Erdkunde, 54. Jahrgang, 2000, Heft 3, S. 279-280