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Kategorie: Rezensionen

Thomas Krafft: Von Shâhjahânâbâd zu Old Delhi: Zur Persistenz islamischer Strukturelemente in der nordindischen Stadt. St. Augustin 1999 (Bonner Geographische Abhandlungen, Heft 100). 217 S.

Bei der insbesondere in den vergangenen 40 Jahren erdrückend angewachsenen Literaturmenge (auch) zur Stadtgeographie - und die vorliegende Untersuchung enthält wiederum 36 Seiten Literatur - sind Leser wie Rezensent gleichermaßen geneigt, sich mit der "Zusammenfassung der Ergebnisse" zu begnügen. In diesem Fall wäre dies geradezu eine Sünde, denn a) gehört Shâhjahânâbâd/Old Delhi zu den spannendsten Kapiteln nicht nur der Stadt- sondern der Kulturgeschichte überhaupt und b) ist der Autor dieser so wichtigen Aufgabenstellung durchaus gerecht geworden: die Arbeit ist ein beachtlicher, ja unverzichtbarer Diskussionsbeitrag zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung über das Konzept der "islamisch-orientalischen Stadt". - Der erste Hauptteil (6ff.) enthält eine instruktive Analyse der Forschungsgeschichte der Thematik. Daran anschließend wird die über 3000 Jahre alte Siedlungsgeschichte Delhis bis zur Gegenwart dargestellt (44ff.). Die islamischen Struktur- und Funktionselemente des (erst) um 1650 vom Erbauer/Auftraggeber des Taj Mahal angelegten S. werden in einem weiteren Hauptkapitel (68ff.) eindrucksvoll belegt; Herzstück der (gesamten) Untersuchung ist die ausgezeichente Kartenrekonstruktion von S. um 1850, eine Leistung von herausragendem wissenschaftlichen Interesse und Bedeutung. Zweihundert Jahre nach der Stadtgründung bildet der "mutiny"-Aufstand von 1857 für die imperial angelegte Stadt die erste wesentliche Zäsur: ein Drittel der bebauten Fläche wurde abgerissen; die allen bisherigen Cantonment-Planungen der Briten widersprechende Anlage des Großbahnhofes belegt die paranoide Haltung der Kolonialmacht gegenüber Old Delhi. Die Teilung des indischen Subkontinents bildet die zweite und im Verlauf der nachfolgenden Jahrzehnte noch schärfere Zäsur: es kam a) zum Umbruch der Bevölkerungsstruktur, in vielen Quartieren der Stadt sogar zu einem fast vollständigen Austausch der Bevölkerung, b) zur "Verslumung" weiter Teile der (jetzigen) Altstadt - mit Bevölkerungsdichten von tw. über 200000 E/km2 eine permanente Zeitbombe als auch - gleichzeitig - c) zur Kommerzialisierung und damit Verdrängung der Wohnbevölkerung in weiten Teilen von Old Delhi. An Hand detaillierter Fallstudien geht der Vf. seiner Leitfrage  nach der Persistenz der islamisch-orientalischen Stadt nach: Über alle historischen Brüche hinweg haben sich in Teilen der Altstadt in den muslimischen mahallas sowie infolge der damit verbundenen sozialen und religiösen Institutionen (waqf) zentrale Elemente der islamischen Kultur bis heute erhalten - traditionelle Strukturen, die allerdings durch die fortschreitende kommerzielle Überformung der "Altstadt" (der heutigen Megastadt Delhi) zunehmend gefährdet sind.
Eine gut lesbare, lesenswerte, eine wichtige Arbeit.
Autor: Dirk Bronger

Quelle: Erdkunde, 54. Jahrgang, 2000, Heft 4, S. 382