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Kategorie: Rezensionen

Hans-Jürgen Bieling u. Jochen Steinhilber (Hg.): Die Konfiguration Europas. Dimensionen einer kritischen Integrationstheorie. Münster 2000. 351 S.

Das Buch bietet eine anspruchsvolle und vielfältige Übersicht zum Stand der kritischen Europaforschung. Theoretischer Leitfaden der meisten Beiträge ist die modernisierte Regulationstheorie im Sinne Gramscis, in der Form der Amsterdamer Schule und aus der Perspektive, die von der Marburger Forschungsgruppe um Frank Deppe entwickelt wurde.
Einige Stichworte verdeutlichen das Spektrum der Analysen, die allesamt von einer widersprüchlichen Situation der aktuellen europäische Integration ausgehen und grundlegende sozialökonomische mit zivilgesellschaftlichen und politischen Strukturen und Tendenzen verknüpfen: Veränderung europäischer Staatlichkeit, hegemoniale Projekte der Integration, Geschlechterpolitik, Steuerharmonisierung, transnationale Klassen und europäisches Regieren, Einbindung der Gewerkschaften in die neoliberale Restrukturierung Europas, Dynamik des sozialdemokratischen Neoliberalismus, EU-Integration und Osterweiterung, Wandel kritischer Integrationstheorien.
Methodologisch wird damit eine Forschungslücke geschlossen, die für die kritische Theorie der europäischen Integration bisher bestand. Denn es liegen durchaus beachtliche Programme und politische Alternativvorschläge für die Gestaltung und Veränderung der Europäischen Union bzw. der europäischen Politik vor, aber es gibt nur wenige und zumeist auch nur fachbezogene Untersuchungen, die sich diesem Thema mit komplexer analytischer Zielsetzung widmen und dabei grundlegend gesellschafts- und politiktheoretisch orientiert sind. Diese Studien liefern also erst die theoretisch-analytischen Grundlagen für Programme, die den aktuellen Weg der funktionalistischen und neoliberal-marktfetischistischen Europäisierung in Frage stellen und "ein anderes Europa" anstreben: sie stellen das kritische Europaprojekt vom (utopischen) Kopf auf die (materiellen und ideellen) Füße, ohne gleich dem vorherrschenden und letztlich resignativen "Realismus" der regierenden Europapolitik zu verfallen.
Im Rahmen dieses Beitrags möchte ich drei Aspekte hervorheben, die der hier angewandte Ansatz besonders interessant und weiterführend bearbeitet: 1. die Frage nach dem "historischen Block" aus sozialen Klassen, politischen Gruppierungen, sozialen Gruppen, Kapitalfraktionen und sozialökonomischen Segmenten in der europäischen Gesellschaft, der das dominante Konzept der Wirtschafts- und Währungsunion trägt; 2. die Rolle der entsprechend handelnden und argumentierenden herrschenden Klasse in ihrer transnationalen Ausprägung, am Beispiel des European Round Table of Industrialists (ERT) und 3. die Probleme einer EU-Osterweiterung unter den von globaler Wettbewerbsfähigkeit und interner Kapitalisierung (nahezu) aller Lebensbereiche selbstgesetzten Bedingungen.
1. Der "historische Block" der Wirtschafts- und Währungsunion Europas
Die Thematik wird in mehreren Darstellungen dieses Buches aufgegriffen; Stephen Gill bringt sie in einer Anmerkung auf den Punkt. Danach sind es vor allem die Interessen der großen Finanzhäuser und Unternehmen, der Regierungsbürokratien und der EU-Organisationen sowie der deutschen und der französischen Regierung, die hierbei entscheidend wirken. Zu dem umfassenden historischen Block, der mit den mächtigen Kapitalgesellschaften in Verbindung zu sehen ist, gehören weiterhin viele andere Interessen und Identitäten, z. B. privilegierte Beschäftigte, Akademiker, kleine Geschäftsleute, aber auch internationale und nationale Firmen im Rechnungswesen, in der Rechts- und Unternehmensberatung, der Werbung, der Öffentlichkeitsarbeit, der Computertechnik und dem Aktienhandel; zusätzlich zählen dazu Unternehmer im Bildungsbereich, Architekten, Stadtplaner, Designer und Top-Sport-Stars als Vermarkter von Unternehmensinteressen. Der Block wird nach Gills Einschätzung von den größten und international mobilsten transnationalen Konzernen dominiert, umfasst aber gleichzeitig die allgemeinen Interessen von Kapital und Arbeit sowie Elemente des Staatsapparates.
Mit dieser Macht- und Herrschaftsanalyse grenzt sich der neogramscianische Ansatz deutlich von den flachen pluralistischen Politiktheorien ab, die Europa als eine Vielheit konstruieren, in der fast alle sozialen und ökonomischen Gruppierungen eine gleichberechtigte Rolle spielen und am gesellschaftlichen Geschehen in gleichem Ausmaß partizipieren. Zugleich wird eine markante Trennungslinie gezogen gegenüber dominant ökonomischen Analysen von Sozial- und Klassenstruktur, die sich mit Hilfe von scheinbar rein objektiven Kriterien komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen und Entwicklungen widmen und dabei die seit Max Weber einfach nicht mehr zu übersehenden subjektiven und mentalen Verkettungen von Strukturen und Tendenzen weitgehend ignorieren.
Diese Methodologie ermöglicht eine tiefergehende Betrachtung von Globalisierung und Europäisierung der bedeutendsten sozialen Sphären. Sie kulminiert in der Feststellung, daß sowohl die eurokapitalistische Regulation als auch die transnationale Globalisierung keine ehernen Gesetze darstellen, sondern von präzise bestimmbaren Gruppierungen dominiert und vorangetrieben werden, die sich innerhalb des entsprechenden historischen Blocks eine ausreichende Basis für ihre spezifischen Interessen und Strategien sichern können (vgl. auch Röttger 1997). Für die EU wird dieser Zusammenhang am Beispiel der sog. Stabilitätskriterien deutlich gemacht, deren Träger und Nutznießer ganz offensichtlich die genannten Gruppen und Segmente bilden; in der globalen politischen Ökonomie setzt sich die Spitze des Machtkartells aus den Eliten der G-7-Staaten und den Kapitalfraktionen der stärksten Sektoren des internationalen Investments, der Produktion, des Finanzsektors sowie der virtuellen Akkumulation zusammen, wobei die USA politisch und ökonomisch eine herausragende Funktion innehaben.
2. Die Rolle des European Round Table of Industrialists (ERT) als Beispiel für transnationale Klassenverhältnisse im europäischen Kontext
Das Verfahren der Synthese eines Machtblocks impliziert stets das Herausfiltern eines "harten Kerns" im Zentrum; dieser kann am ERT, einem 1983 in Brüssel gegründeten und dort bis heute ansässigen politisch-lobbyistischen Verbund von 45 der größten und am stärksten trans-nationalisierten Industriekonzerne Europas, verortet werden. Der ERT hat im Lauf der Jahre ein transnationales Eliten-Netzwerk entwickelt und verfügt über direkte Einflussmöglichkeiten auf die EU-Kommission, den Europäischen Rat und die Brüsseler Organe und Politiken; er stößt genau in diejenigen offenen Räume, welche die EU-Institutionen einem gezielten Konzernlobbyismus anbieten (König 1999). Er hat schrittweise den Weg der großen europäischen Unternehmen und der europäischen Politik von einem europäisichen Protektionismus zum neoliberalen Globalismus mitgetragen und gefördert und bildet spätestens seit der Zustimmung zur Währungsunion eine der entscheidenden Säulen für die Politik der Deregulierung, der Arbeitsmarktflexibilität, der Verkleinerung des öffentlichen Sektors durch Privatisierung, also für jene Sozialökonomie, die auch als "disziplinierender Neoliberalismus" definiert werden kann, d. h. eine Wirtschaftspolitik, die nur noch dann positive materielle und ideelle Sanktionen erteilt, wenn diese Maximen befolgt werden. Im System der EU kann dieser Prozess einer politischökonomischen Durchsetzung von oben an der Kontroverse zwischen der siegreichen Strategie "Wettbewerbsfähigkeit" und den gescheiterten Versuchen einer europäischen Sozialunion oder wenigstens Sozialpolitik anschaulich gemacht werden. Spätestens seit 1993 hat sich auch in den offiziellen Dokumenten der EU die Freiheit der Märkte und des Kapitals durchgesetzt, während die Mobilität der Arbeitskräfte dahinter deutlich zurückbleiben muss. Eine Besonderheit des ERT sieht einer der Autoren darin, dass hier - in verständlichem Rückbezug auf die europäischen Strukturen - durchaus noch Elemente einer europäischen Ordnungspolitik, im Sinne eines "rheinischen Kapitalismus", vorgebracht werden, die eher den Interessen des industriellen Kapitals als der Finanzunternehmen nahekommen, weil in der Industrie reale gesellschaftliche Beziehungen eine größere Bedeutung behalten als in virtuellen oder rein monetären Sektoren.
Eine Systematik, die den ERT mit europäischen Klassenverhältnissen gleichsetzt bzw. diesen als eine herrschende Klasse ansieht - und dieser Eindruck entsteht im Text - muss kritisch hinterfragt werden. Denn es werden weder deutliche Kriterien für eine Klassenanalyse benannt, noch wird eine europäisch-transnationale Klasse in ihrer Zusammensetzung oder ihrer Genese beschrieben. Der ERT könnte evtl. als ein Sinnbild für eine bestimmte, aber auch in manchen Zügen nur partielle Klassenpolitik begriffen werden, die sich im Europa der EU spezifisch abzeichnet. So gesehen ist hier noch einiges vom eigenen Anspruch her zu erbringen, und es ist keineswegs sicher, ob es gelingen wird. In diesem Punkt wird das Vorgehen den Vorgaben einer gramscianischen Komplexität nicht gerecht.
3. Problematik der EU-Osterweiterung
Bei der Lektüre der ursprünglichen Idee eines Vereinigten Europa, wie sie aus den europäischen Widerstandsbewegungen gegen den Faschismus und teilweise aus den Konzentrationslagern hervorgegangen ist - d. h. einer Idee, die nach 1945 direkt auf einen europäischen Bundesstaat abzielte und die Rekonstituierung der Nationalstaaten verhindern wollte, weil diese im 20. Jahrhundert zwei Mal (1914 und 1933/39) grundsätzlich versagt und ihre Existenzberechtigung verloren hatten - kann die Struktur und Genese der überaus zähen, widersprüchlichen, wirtschaftlich dominierten und kaum demokratisch beeinflussten Entwicklung der europäischen Einigung eigentlich nur als Realität gewordene Negativvision gelesen werden, die sich die klassischen Föderalisten so niemals vorgestellt hatten (Niess 2001).
Eine Steigerung dieses Szenarios des Negativen scheint aber nicht ausgeschlossen. Das zeigt zumindest die auch für Geographinnen und Geographen höchst interessante Betrachtung der Probleme einer Osterweiterung unter den Bedingungen der EU-Gegenwart. Nach Ansicht von D. Bohle steht diese unter dem Vorzeichen, sie nur dann zuzulassen, wenn sie die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Wirtschaftsraums der EU in der Triade, d. h. auf dem Weltmarkt stärkt. Demgemäß geht es hier offenbar um eine sehr selektive Einbindung von Sektoren der osteuropäischen Wirtschaft und Kultur, die insgesamt einen gleichberechtigten Marktzugang ebenso verhindert wie angemessene Übergangsfristen oder Transferleistungen; das bedeutet, dass die osteuropäischen Regionen erneut in eine Situation geführt werden, in der sie im 19. und 20. Jahrhundert schon immer waren: in die Peripherisierung. Diese unterminiert langfristig die gesamteuropäische Stabilität im Sinne einer Friedensperspektive und verschlechtert die Chancen für eine gleichberechtige Einigung der Staaten oder Regionen Europas.
Im Zusammenhang mit der bereits über Westeuropa geführten geopolitischen Debatte über ein "Kerneuropa" innerhalb der EU-15 müsste dann bezüglich Osteuropa die Frage gestellt werden, ob hier nicht tatsächlich eine Mitgliedschaft zweiter Klasse projiziert wird, die von Anfang an aus den wesentlichen Integrationsbereichen ausgeschlossen bleibt. Wenn dann noch zusätzlich betont wird, dass Deutschland für die Erweiterung eine besonders hohe Verantwortung hat (Kühnhardt/Pöttering 1998), kann auch die Frage nach einer erneuten Kolonialisierung unter großmachtchauvinistischen Axiomen aufgeworfen werden. Eine Lehre des abgelaufenen Jahrhunderts müsste für alle Europäer sein, dass gerade diese Großmacht "in der Mitte Europas" in Osteuropa verheerend gewirkt hat und sich hier größte Zurückhaltung geziemen würde.
Als Fazit der hier vorgelegten kritischen Studien zur Integration Europas kann angenommen werden, daß sie vom theoretischen Niveau und der Erklärungskraft für die politische Ökonomie des aktuellen Europa im Zeichen des Neoliberalismus den funktionalistischen und institutionalistischen Ansätzen überlegen sind. Es bleiben aber Defizite bei der Bearbeitung gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge und bei der Berücksichtigung kultureller Phänomene, die weithin unterschätzt werden, für die europäische Entwicklung aber eine zunehmende Bedeutung bekommen. Einen möglichen Rahmen dafür könnte das Konzept einer Union europäischer Staaten bilden, das von den Widersprüchen Selbstorganisation versus Politik, Wettbewerb versus Gerechtigkeit sowie Macht- versus Werteliten (Schwengel 1999) durchsetzt ist; das ist zwar ein anderes Thema, aber es könnte mit einem kulturell erweiterten und erst dann gesamtgesellschaftlichen Ansatz in der Tradition Gramscis kompatibel sein.
Literatur
König, J.-G.1999: Alle Macht den Konzernen. Das neue Europa im Griff der Lobbyisten. Reinbek.
Kühnhardt, L., H.-G. Pöttering 1998: Kontinent Europa. Kern, Übergänge, Grenzen. Osnabrück.
Niess, F. 2001: Die europäische Idee - aus dem Geist des Widerstands. Frankfurt/Main.
Röttger, B. 1997: Neoliberale Globalisierung und eurokapitalistische Regulation. Die politische Konstitution des Marktes. Münster.
Schwengel, H. 1999: Globalisierung mit europäischem Gesicht. Der Kampf um die politische Form der Zukunft. Berlin.
Autor: Heinz Arnold

Quelle: geographische revue, 3. Jahrgang, 2001, Heft 1, S. 88-92