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Kategorie: Rezensionen

Bernhard Stratmann: Stadtentwicklung in globalen Zeiten. Lokale Strategien, städtische Lebensqualität und Globalisierung. Basel, Boston, Berlin 1999 (Stadtforschung aktuell, Bd. 75).

Stadtentwicklung in globalen Zeiten ist ein anspruchsvoller Titel, und die "Buzzwords" im Untertitel deuten auf einen sehr weit gefaßten Kontext der Studie hin. Worum es sich dabei inhaltlich im Kern dreht ist folgendes: Im Angesicht von veränderten und sich verändernden Ausgangsbedingungen der Stadtentwicklung wird der Frage nachgegangen, wie Städte als Institutionen bzw. als politisch-administrative Systeme mit eben diesen Ausgangsbedingungen umgehen, welche Strategien der Stadtentwicklung sie dabei verfolgen und welche davon Erfolg versprechen.

Das Buch von Bernhard Stratmann ist der Text seiner 1998 in Marburg eingereichten Dissertation im Fach Soziologie. Diese Feststellung ist per se natürlich weder Lob noch Tadel, gleichwohl lassen sich aus diesem Tatbestand einige der Charakteristika erklären, die dieses Buch auszeichnen, sowohl Schwächen als auch Stärken. Soviel aber vorab: die Stärken überwiegen. Für Geographen, die sich mit aktuellen Fragen und Problemen der Stadtforschung beschäftigen und daher glücklicherweise und gezwungenermaßen die brüchigen Linien disziplinarer Zuordnungen und Abgrenzungen weitgehend vergessen dürfen und müssen, finden sich in diesem Buch eine Vielzahl (und eine Vielfalt) von Anregungen und Informationen, weshalb sich das Lesen bzw. Durcharbeiten lohnt.
Wem die immerhin 361 Textseiten (ohne Literaturliste und Anhang) eher zu viel sind, der kann auch eine "pick and choose"-Strategie verfolgen. Die klare Ordnung ermöglicht eine abschnittweise Lektüre, bei der die Leser ihren Neigungen und Hauptinteressen folgen können, einerlei welche der vielen Inhalte sie nun gerade besonders ansprechen. Bernhard Stratmann diskutiert Stadtentwicklungstheorien, er beschäftigt sich mit städtischen Entwicklungsstrategien, liefert Informationen über Australien und sein Städtesystem, kommt auf die Olympischen Spiele 2000 in Sydney zu sprechen, und er diskutiert methodische Fragen der Stadtentwicklungsforschung. Eine große Bandbreite, doch die gute Strukturierung führt dazu, daß den Lesern der Überblick nicht verloren geht.
Der Text gliedert sich in eine kurze Einleitung, fünf große Kapitel und ein ebenso knappes Fazit. Es folgen 26 Seiten (!) Literaturliste und ein Anhang, in dem Interviewleitfäden, Delphi-Fragebögen sowie eine Zusammenschau von Antworten aus der ersten Runde der Delphi-Befragung abgedruckt sind.
Kapitel 1 behandelt auf über 80 Seiten verschiedene Theorien der Stadtentwicklung. Hier wird der soziologische Hintergrund des Autors deutlich, da die Theoriebildung und -geschichte im wesentlichen aus der Innensicht der Soziologie erfolgt (ein erster Hinweis auf den Entstehungszusammenhang des Buches). Nach Darlegung einiger grundsätzlicher Ausgangspunkte macht die Vorstellung von vier hauptsächlichen Theorieansätzen den Großteil dieses Kapitels aus. Diese vier Ansätze sind die Sozialökologie, die New Urban Sociology, die Gemeindeforschung und die Theorie der Rational Choice (inkl. Public Choice). Diese Theoriediskussion erscheint gerade für Geographen wichtig und hilfreich zugleich. Denn während die deutsche Stadtgeographie die Theorieansätze der Sozialökologie auf breiter Front rezipiert und aufgegriffen hat, ist das bei der New Urban Sociology schon weniger der Fall, und mit der Gemeindeforschung und den Rational-Choice-Ansätzen werden Ansätze vorgestellt, die für viele deutsche Stadtgeographen weitgehendes theoretisches Neuland darstellen dürften. Herauszuheben ist, daß diese Theorieansätze jeweils in ihren Grundzügen und ihre Weiterentwicklung dargestellt und kritisch reflektiert werden, bevor in einem Unterkapitel stringent ihre jeweilige Bedeutung für die vorliegende Arbeit herausgestellt wird.
Dieser Teil eignet sich in vielerlei Hinsicht auch als eine Art Theorielehrbuch für Hauptseminare zur Stadtforschung. Vielen (Geographie-) Studierenden dürfte die Klarheit, die Übersichtlichkeit und die Einordnung wichtiger Autoren der jeweiligen Theorieansätze sehr willkommen sein, um einen gewissen Überblick über das zunehmend diffuse Feld der Theorien in der Stadtforschung zu bekommen.
Kapitel 2 hat das Ziel, "die veränderten Rahmenbedingungen der Stadtentwicklung im ‚Globalisierungszeitalter' aufzuzeigen" und setzt sich daher mit dem Begriff und der theoretischen Einordnung der Globalisierung auseinander. Es ist also ein zweites, knapp 40 Seiten langes Theoriekapitel, da die in Kapitel 1 dargestellten Ansätze breitere gesellschaftliche und ökonomische Prozesse kaum in den Blick nehmen, welche aber für ein wissenschaftliches Verständnis der Stadtentwicklung trotzdem unumgänglich sind. Dieser Punkt ist wichtig, wenn auch für Geographen nicht neu. Jedenfalls sollte die Betrachtung von Prozessen und Kräften, die auf unterschiedlichen Ebenen (Maßstabs- und anderen) ablaufen, eigentlich gerade geographische Stadtforschung auszeichnen. Bernhard Stratmann entwickelt aus der Diskussion um die Globalisierung der Stadtentwicklung eine Heuristik, die Stadtentwicklungsfaktoren mit dem Konzept der Flüsse ("flows") von Kapital, Gütern, Menschen und Ideen zusammenbringt, das Lash und Urry von Castells übernommen und weiterentwickelt haben. So illustrierend das auf der einen Seite auch ist, auf der anderen Seite kommt die Diskussion über diese Heuristik kaum hinaus. Die Frage nach der Konvergenz oder Divergenz der Stadtentwicklung und die Schlußfolgerungen zu lokalen Handlungsspielräumen bleiben für die Leser im wesentlichen offen. Zu abstrakt erscheint das Konzept der Globalisierung, um daraus leicht eine stringente Operationalisierung von empirischen Arbeiten zur Stadtentwicklung zu entwickeln.
Der Versuch, von der abstrakteren theoretischen Ebene zu einer lokalen empirischen Ebene der Untersuchung zu gelangen, wird in Kapitel 3 eingeleitet. Es enthält eine Übersicht über vier hauptsächliche Stadtentwicklungsstrategien, mit denen Städte (in erster Linie der "entwickelten" westlichen Welt) versuchen, ihre ökonomische und soziale Position zu verbessern. Diese vier Strategien sind a) neue Steuerungsmodelle für die Kommunalverwaltung, b) PPPs, c) Festivalisierung und d) Stadtmarketing. Sie werden in ihrer Entwicklung und z. T. konkreten Ausprägungen vorgestellt, bevor als Ausblick und mögliche Weiterentwicklung die Formierung von Städtenetzen als möglicher fünfter Ansatz angesprochen wird. Diese Inhalte sind an sich nicht neu, und es wird auch nicht erläutert, weshalb gerade diese vier bzw. fünf Ansätze als die hauptsächlichen aktuellen Strategien bezeichnet werden, unter die alles andere subsumiert wird. Das Kapitel fungiert als Bindeglied zu den folgenden Kapiteln 4 und 5, die den eigenständigen empirischen Kern der Arbeit bilden. Es liefert also Hintergrund zum konkreten Untersuchungsobjekt der lokalen Stadtentwicklungsstrategien und gleichzeitig Material für Thesen und Hypothesen, die in den empirischen Kapiteln aufgegriffen und näher beleuchtet werden.
Mit ihren rund 160 Seiten bilden Kapitel 4 und 5 den Kern des Buches, in dem Stratmann seine in Deutschland und Australien durchgeführten empirischen Studien vorstellt und deren Ergebnisse diskutiert. In Kapitel 4 wird eine Leitfadenbefragung vorgestellt, in deren Verlauf Stratmann Interviews mit 24 Schlüsselpersonen aus dem Bereich Stadtentwicklung in 20 deutschen Kommunen durchführte. Gemäß dem explorativen Charakter dieser Leitfadeninterviews dienen sie vorwiegend der Generierung bzw. Differenzierung von Hypothesen zu den aktuellen Entwicklungen in den Städten. Wie Stratmann klar und präzise erläutert, erheben diese Interviews und die dadurch gewonnenen Ergebnisse demnach keinen Anspruch auf Repräsentativität, obwohl die 20 Kommunen über fünf Bundesländer (davon vier westdeutsche) verteilt worden sind.
In Kapitel 5 wechselt Stratmann dann den Kontinent und stellt die Ergebnisse einer Delphi-Befragung vor, die er vor den Olympischen Spielen in Sydney mit 27 (in der zweiten Welle 23) australischen Experten durchgeführt hat. Einleitend werden dazu nicht nur einige Ausführungen zu der Entwicklung des australischen Städtesystems voranschickt, sondern Stratmann stellt auch die Methode der Delphi-Befragung ausführlich vor. So wird die Methode selbst (einschließlich ihres theoretischen Hintergrunds) erläutert, und ihre Stärken und Schwächen werden herausgearbeitet. Dies erscheint angebracht, da diese Methode - insbesondere, aber nicht nur - in geographischen Forschungsarbeiten bisher noch keine breite Anwendung erfahren hat, und Stratmann begründet methodologisch sehr sauber, warum er sich dieses Instrumentes bedient. Diese methodischen Ausführungen sind sehr präzise und ausgezeichnet argumentiert. Sie sind für alle diejenigen ein Gewinn, die bisher wenig oder nichts über die Methode der Delphi-Befragung wissen. Nach 45 Seiten Auswertungsergebnissen schließt er nochmals eine Reflexionsphase an, in der er den Nutzen der Methode für Stadtforschung und Planungspraxis diskutiert. In einem zehnseitigen Fazit faßt Bernhard Stratmann die wichtigen theoretischen und inhaltlichen Befunde seiner Arbeit zusammen.
Diese ausführliche Inhaltsdarstellung deutet es an: das Buch ist ein umfangreiches und, wie schon gesagt, ein thematisch und theoretisch sehr breites. Hier sehe ich sowohl die Schwächen als auch die Stärken des Buches begründet, gleichzeitig auch den deutlichsten Hinweis auf den Entstehungszusammenhang Dissertation. In mancherlei Hinsicht hat Bernhard Stratmann mehr als ein Buch geschrieben, denn leicht könnte man den Großteil der theoretischen Kapitel von den empirischen Studien trennen. Auch wenn er sich große Mühe macht, immer wieder die Bedeutung von Theoriefeldern und abstrakten Diskussionen auf die Themen der empirischen Studien zu beziehen, so wird doch ein gewisses Ungleichgewicht zwischen der Tiefe der Theoriediskussion einerseits und den materiellen Erkenntnissen der Befragungen andererseits deutlich. Kapitel 1 und 2 bilden - z. T. in Verbindung mit Kapitel 3 - einen schönen einführenden Text in soziologische Theorien der aktuellen Stadt(entwicklungs)forschung. Vielleicht ist es immer noch unumgänglich (?), im Rahmen einer Dissertation auf diese Art die eigene theoretische und intellektuelle Kompetenz zu demonstrieren, aber für die Leser erfolgt ein deutlicher Bruch, wenn es dann im folgenden um die Umsetzung auf der operationalen Ebene geht.
Auch wenn Bernhard Stratmann die empirischen Studien als explorativ herausstellt - und seine Methodenwahl angemessen und kompetent begründet -, so kommt man doch kaum umhin zu fragen, ob man für die folgenden explorativen Befragungen dermaßen differenzierte und ausgeklügelte Theoriediskussionen als Vorlauf benötigt. Hier scheint der Zwang der Dissertation (bzw. ihrer "internen" Erwartungen) stärker gewesen zu sein als der Drang, ein Buch aus einem Guß zu schreiben.
Die materiellen Erkenntnisse der empirischen Studien in Kapitel 4 und 5 liegen auch auf einem anderen, weniger hohen Anspruchsniveau, was angesichts des beträchtlichen Arbeitsaufwands von qualitativen Befragungen auch nicht verwundern kann, denn hier ist ja kein vielköpfiges Forscherteam am Werk gewesen. Gegenüber den theoretischen Reflexionen im ersten Teil des Buches wirken die empirischen Erkenntnisse daher etwas schmalbrüstig.
Abgesehen davon, daß es etwas zweifelhaft erscheint, ob man zur Thesen- oder Hypothesengenerierung im Bereich aktueller Stadtentwicklungsstrategien (speziell zum Stadtmarketing) noch eine explorative Leitfadenbefragung in Deutschland vornehmen muß (Kapitel 4), kann man nach der Ergebnisdarstellung auch gewisse Zweifel bekommen, zu welchem Grade sich die Ergebnisse aus der Strukturierung und den Kategorien der Befragung selbst ergeben. Jedenfalls scheinen die Interviewleitfäden schon eine sehr enge thematische Interviewführung nahezulegen, die für eine wirklich explorative Studie etwas überzogen wirkt.
Auf mich wirken auch die Ergebnisse der in Australien durchgeführten Delphi-Befragung (Kapitel 5) nicht gerade bahnbrechend. Liegt es daran, daß über Großereignisse und Olympische Spiele (bzw. die in Sydney) zum Zeitpunkt der Befragungsrunden schon viel und sehr breit diskutiert worden ist, oder liegt es vielleicht an der Zusammensetzung der Expertengruppe? Die Meinungen und Deutungen dieser Experten scheinen jedoch wenig Überraschendes zu Tage gefördert zu haben. Hier wurden auch primär Experten befragt, was sie von einigen Hypothesen über die Auswirkungen der Olympischen Spiele halten. Neue Erkenntnisse oder das Aufspüren neuer Hypothesen bleiben da eher im Hintergrund. Insofern zweifele ich doch ein wenig an dem Erkenntnisgewinn, den die Delphi-Befragung im Kontext dieser Studie erzeugt. Aber die kontrollierte Erprobung relativ neuer Forschungsinstrumente ist sicherlich legitimes Forschungsinteresse im Rahmen einer Dissertation, und in dieser Hinsicht ist die Studie geradezu vorbildhaft.
Über diesen Kritikpunkten sollte nicht aus dem Auge geraten, daß Bernhard Stratmann ein lesbares, informatives und intellektuell anspruchsvolles Buch geschrieben hat. Es ist für Stadtforscher, Praktiker und auch für Studierende der Soziologie oder der Geographie ein interessantes und lehrreiches Buch, das sowohl auf theoretischer als auch auf methodischer und inhaltlicher Ebene vieles zu bieten hat und einen breiten Leserkreis verdient.
Autor: Ludger Basten

Quelle: Geographische Zeitschrift, 89. Jahrgang, 2001, Heft 2 u. 3, Seite 181-183