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Kategorie: Rezensionen

Gerhard Sommerhoff und Christian Weber: Mexiko: Geographie - Geschichte - Wirtschaft - Politik. Darmstadt 1999. 396 S.

Mexiko, das zu den reichsten Bergbau- und Erdölländern der Welt gehört und enge wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen zu Deutschland unterhält, befindet sich im Übergang vom Schwellen- zum aufstrebenden Industrieland. Der Beitritt Mexikos zur Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) hat die weltwirtschaftliche Öffnung des Landes verstärkt, wodurch der Strukturwandel erheblich beschleunigt wurde.

Die Hindernisse, die noch zu überwinden sind, bis Mexiko den Status einer modernen Industrienation erreicht, werden in der Länderkunde "Mexiko", mit den Schwerpunkten Geschichte, Wirtschaft und Politik von GERHARD SOMMERHOFF und CHRISTIAN WEBER in überzeugender Weise herausgearbeitet.
Im ersten Kapitel werden die vielen Gesichter Mexikos aber auch die das gesamte Land trotz seiner Vielfalt vereinheitlichenden Strukturen vorgestellt. Auf der Basis des verfügbaren statistischen Materials, dessen Aussagewert einer kritischen Bewertung unterzogen wird, erfolgt eine erste, recht generelle landeskundliche Gliederung. Im zweiten Kapitel wird eine naturräumliche Gliederung Mexikos unter Berücksichtigung der geologisch-geomorphologischen, der klimatischen und der vegetationsgeographischen Gegebenheiten versucht. Dieses Kapitel ist vergleichsweise kurz gehalten, gewinnt aber durch die vielen sehr guten Karten, Profile und Diagramme an Anschaulichkeit.
Unter der Überschrift "Land der drei Kulturen" wird detailgenau bei gleichzeitiger Herausarbeitung der großen Linien ein profunder Überblick über die historische Entwicklung Mexikos unter Berücksichtigung der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse gegeben. Das folgende Kapitel beschreibt, aufbauend auf den historischen Gegebenheiten, die politische Entwicklung Mexikos zwischen Souveränität und Dependenz von den Vereinigten Staaten. Ein angemessener Raum wird der Schuldenkrise und deren Konsequenzen für die mexikanische Volkswirtschaft gewidmet. Die Möglichkeiten und Grenzen der Gesellschafts- und Bildungspolitik werden auf dem Hintergrund der begrenzten finanziellen Ressourcen diskutiert. Die statistischen Auswertungen zeigen, dass die indigene Bevölkerung (Abgrenzung nach sprachlichen Kriterien), trotz ihres hohen Stellenwertes im nationalen Selbstverständnis Mexikos, in den Bereichen Wohlstand, Wohnen und Bildung zunehmend hinter der nicht-indigenen Bevölkerung zurückbleibt. Die Möglichkeiten der Politik, Änderungen herbeizuführen, werden durch die Bedeutung der "informellen Vorgänge", die die formellen in allen Bevölkerungsschichten weit überwiegen, erheblich relativiert. Die Autoren sehen die mexikanische Gesellschaft deshalb in einen bürgerlich-demokratischen, einen korporatistisch-klientelistischen und einen informell-solidarischen Anteil differenziert. Einen Ausgleich zwischen den gruppenspezifischen, sektoralen und regionalen Interessen herzustellen, wird als Hauptaufgabe der Politik in Mexiko herausge-
stellt.
Im fünften Kapitel wird die demographische Herausforderung diskutiert, die insbesondere darin besteht, dass sich die mexikanischen Bevölkerung in den letzten 25 Jahren verdoppelte, wodurch gegenwärtig fast 50% der Einwohner des Landes jünger als 20 Jahre sind. Infolge der begrenzten Erwerbsmöglichkeiten auf dem Land, erfolgt eine dramatische Landflucht, die zur Entleerung der peripheren und zur weit über das natürliche Bevölkerungswachstum hinausgehende Übervölkerung der städtischen sowie der an die USA angrenzenden Räume führt. Im städtischen Raum werden zwar auch nicht genügend Arbeitsplätze für die Migranten angeboten, der informelle Sektor der Städte bietet aber in der Regel eine bessere Überlebenschance als das ländliche Umfeld. Fast 500.000 gar nicht oder allenfalls geringfügig ausgebildete Menschen verlassen jährlich Mexiko und reisen illegal, trotz aller Grenzsicherung, in die USA ein.
Unter der Überschrift "Die mexikanische Stadt: Magnet und Moloch" werden die Folgen der Binnenmigration diskutiert. Diese äußern sich in einem Ausufern der Elendsquartiere, im zunehmenden Wassermangel und in der gesundheitsgefährdenden Luftschadstoffbelastung im Bereich der Ballungsräume. Die Effekte wirken sich inzwischen ökologisch und ökonomisch limitierend auf die Entwicklung der industriellen Produktion aus. Dekonzentrationsprozesse sind deshalb unumgänglich notwendig. Infolge der Unterschiede zwischen den Lebens- und Arbeitsbedingungen im ländlichen Raum und in den Ballungsgebieten verschärft sich aber der Konzentrationsprozess trotz des Gegensteuerns der mexikanischen Regierung. Lösungen zeichnen sich nach den statistischen Analysen der Autoren allenfalls für den Bereich von Mexiko Stadt ab.
Im siebten und achten Kapitel werden die Konflikte diskutiert, die den ländlichen Raum kennzeichnen. Genossenschaftliches Ejido-Land und privates Grundeigentum stehen sich konkurrierend gegenüber. Bestimmend für die Agrarproduktion sind die privatwirtschaftlich betriebenen Großbetriebe. Als einziger Arbeitgeber im ländlichen Raum steht ein erheblicher Teil der ländlichen Bevölkerung in einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis zu diesen Betrieben. Freihandel und der damit verbundene internationale Wettbewerb, besonders mit den Agrarprodukten aus den USA, erzwingen gegenwärtig einen drastischen Strukturwandel zur Steigerung der Produktion, der sozialpolitisch mangels finanzieller Mittel nicht abzufedern ist. Die vor 75 Jahren begonnene Agrarreform wurde 1992 beendet. Zur Steigerung der Agrarproduktion ist dadurch das Privateigentum gegenüber dem Gemeineigentum begünstigt. Die Benachteiligten reagieren gegenwärtig mit politischen Unruhen in Chiapas und anderen peripheren Agrarregionen.
Im Mittelpunkt des vorletzten Kapitels steht die Wirtschaft Mexikos, die trotz Kapitalmangel sowie struktureller und technischer Defizite in vielen Bereichen Entwicklungsrückstände aufholen konnte. Die Industrie basiert auf den reichen Erdöl- und Bodenschätzen sowie auf den landwirtschaftlichen Grundstoffen. Durch die NAFTA-Zugehörigkeit und die Öffnung gegenüber dem Weltmarkt steht die Wirtschaft vor einer völligen Neuorientierung. Bisher reichen die Wachstumsraten der Volkswirtschaft nicht aus, um Handelsbilanzdefizite zu vermeiden und die jährlich ins Erwerbsalter kommenden Jugendlichen vor der Arbeitslosigkeit zu bewahren. Höchste Wachstumsraten erzielen die Tourismus- und die Exportindustrie. Im statistischen Mittel bleiben aber die Einkommen der Bevölkerung noch so gering, dass keine nennenswerte nationale Vermögensbildung erfolgt. Die reichen Familien investieren ihr Geld vorzugsweise im Ausland. Zur Deckung des immensen Investitionsbedarfs der Wirtschaft sind deshalb Auslandinvestitionen und Anleihen auf den internationalen Kapitalmärkten erforderlich. Dadurch wird die mexikanische Wirtschaft in hohem Maße abhängig von der Dollarkurs- und Zinsentwicklung auf den Kapitalmärkten, wie die Wirtschaftskrisen der achtziger und neunziger Jahre zeigen.
Das letzte Kapitel widmen die Autoren der Raumentwicklung. Der politische Zentralismus begünstigt die Konzentration der Arbeitsplätze und Infrastruktureinrichtungen in den Ballungsräumen. Mit wachsender Distanz von den Ballungszentren und von der US-Grenze verschlechtern sich die Lebensbedingungen der Menschen. Dekonzentrationsprozesse werden durch die Begünstigung einiger ausgewählter Entwicklungspole nur teilweise erfolgreich. In Zukunft, so können die Autoren überzeugend herausarbeiten, liegt in der Vielfalt der Ressourcen und der Regionen Mexikos eine große Entwicklungschance.
In einem wenige Seiten umfassenden Anhang werden sehr instruktive "Einblicke" in die nationale Befindlichkeit gegeben. Angesprochen werden das Empfinden der Menschen zur nationalen Identität, zur Freude am Leben, zur Bewertung des Todes und zur Haltung gegenüber dem übermächtigen Nachbarn USA.
Insgesamt gelingt es den Autoren in ihrer landeskundlichen Darstellung die kontrastreiche physisch- und anthropogeographischen Wirklichkeit Mexikos kenntnisreich und wegen der durchgängig problemorientierten Darstellungsform auch sehr interessant zu vermitteln. Trotz aller Vielfalt der geschichtlichen, politischen und wirtschaftlichen Dynamik gelingt es den Autoren einheitliche Entwicklungslinien in gut nachvollziehbarer Weise herauszuarbeiten. Die Länderkunde ist deshalb nicht nur für Geographen, sondern auch für Investoren, Politiker und Touristen sowie für alle, die ihre Kenntnisse über Mexiko erweitern möchten, sehr zu empfehlen.    
Autor: Dieter Klaus

Quelle: Erdkunde, 56. Jahrgang, 2002, Heft 4, S. 424-425