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Kategorie: Rezensionen

Christoph Dittrich: Bangalore. Globalisierung und Überlebenssicherung in Indiens Hightech-Kapitale. Saarbrücken 2004 (Studien zur geographischen Entwicklungsforschung 25). 451 S.

Innerhalb der kontrovers geführten Globalisierungsdebatte wird einigen städtischen Zentren der Welt eine Schlüsselstellung zugeschrieben; diese "Global Cities" gelten als die entscheidenden Macht- und Kontrollzentren der Weltwirtschaft und Knotenpunkte für Waren-, Finanz- und Informationsflüsse. Einige der wachsenden Millionenstädte in Entwicklungsländern werden von dieser globalen Dynamik erfasst.
Die südindische Metropole Bangalore (ca. 5,7 Mio. Einwohner) zählt zu den am schnellsten wachsenden Agglomerationen und gilt weltweit als Zentrum der Software-Entwicklung. Ihre Einbindung in das globale Netzwerk ökonomischer Aktivitäten induziert tiefgreifende räumliche und gesellschaftliche Restrukturierungen. Aufgrund dieser äußerst dynamisch verlaufenden Prozesse und der räumlichen Konzentration von Entwicklungsproblemen ist Bangalore ein spannendes und zugleich sehr herausforderndes Untersuchungsbeispiel.
Der Autor geht zunächst auf Zugänge zur Globalisierung und Urbanisierung ein und diskutiert dann einige der gängigen entwicklungstheoretischen Ansätze hinsichtlich ihrer Eignung, den Zusammenhang zwischen Globalisierung, lokaler Reorganisation und Reproduktion existenzgefährdeter urbaner Bevölkerungsgruppen zu erfassen und zu erklären. Der Sustainable Livelihood-Ansatz und die damit gut verknüpfbaren Verwundbarkeitskonzepte, mit denen bislang vor allem im Zusammenhang mit ländlichen Armutsgruppen gearbeitet wurde, übersetzt DITTRICH in urbane Verhältnisse; ohne Frage eine sinnvolle Erweiterung dieser Ansätze! Ein umfassendes Kapitel beleuchtet die Stellung Indiens im Globalisierungskontext. In einer Längsschnittanalyse werden die Strukturen und Veränderungen der Rahmenbedingungen seit der Unabhängigkeit nachgezeichnet. Ausführlich werden die sozio-ökonomischen und regionalen Konsequenzen der indischen Reformpolitik analysiert. Überzeugend kann DITTRICH darlegen, dass unter dem neuen wirtschaftspolitischen Paradigma weder die Kräfte des Marktes noch der Staat wirksam regionale und gesellschaftliche Disparitäten bekämpfen konnten, ja dass vielmehr ein Anstieg der Einkommensdisparitäten konstatiert werden muss.
Die zweite Hälfte des Buches ist dem Fallbeispiel Bangalore gewidmet. Zunächst werden die Phasen der Entwicklung von der Stadtgründung bis zum Aufstieg der Stadt zum global integrierten Electronics Capital of India dargestellt. Klar herausgearbeitet (und auf Karten sehr gut veranschaulicht) wird die damit verbundene sozio-ökonomische Fragmentierung des Stadtraumes, die Entstehung eines Patchworks von Stadtfragmenten aus ungleich entwickelten Standorten mit einer - ohnehin für die indische Gesellschaft typischen - sozialen Segmentierung. Auf engstem Raum existieren heute in einer engen funktional-räumlichen Verzahnung global integrierte Stadtfragmente, quasi-integrierte Ergänzungsräume, binnenmarktorientierte Fragmente und gänzlich abgekoppelte, marginale Gebiete mit starker lokaler Verankerung. Eine heillose Überforderung der Infrastruktur, eine neue Dimension der Umweltbelastung begleiten das massive Wachstum von Bangalore.
Im Weiteren wird der Fokus auf die Handlungsspielräume der existenzgefährdeten Bevölkerungsgruppen gerichtet. Den behördlich anerkannten Slum Ambedkarnagar (ca. 5.500 Einwohner, Einwohnerdichte 90.000 pro km2) und ein benachbartes BBC-Quarter (sozialer Wohnungsbau mit ca. 1.500 Einraumwohnungen) hat DITTRICH für seine empirischen Untersuchungen ausgewählt. Beide Quartiere liegen im Stadtteil Koramangala, der gleichzeitig begehrte Wohnquartiere mit horrenden Mietpreisen beherbergt. Das Ergebnis dieser Primärdatenerhebung ist ein umfassender Einblick in die Lebenswelt, Handlungsspielräume und bestimmenden Strukturen von Bewohnern marginaler Quartiere, der Bereiche wie Versorgungsstrategien, Wohnverhältnisse, Bildung bzw. Bildungsdefizite, Ernährungslage, Fragen der Rechtsunsicherheit, der hierarchischen Ordnung, der bestehenden sozialen Netzwerke usw. aufgreift. Abgerundet wird dieses Bild von Fallbeispielen, die zwischen den laufenden Text gestellt sind.
Abschließend werden die Ergebnisse zusammenfassend bewertet und entwicklungspraktische Implikationen abgeleitet, die zu einer Verbesserung der Lebenssituation marginaler Bevölkerungsgruppen beitragen könnten. Auf verschiedenen Maßstabs- und Handlungsebenen konnte gezeigt werden, dass die gegenwärtige Globalisierung und der damit verbundene Wettbewerb eines globalisierten Kapitalismus selektiv wirkt und zu einer schnellen Restrukturierung des Wirtschafts- und Sozialraumes sowie der Heterogenisierung sozio-ökonomischer Strukturmuster führte. Die "Restwelt", die durch diese Prozesse ausgesondert wird, ist mit einer Erhöhung des Risikopotentials und der Einschränkung von Handlungsspielräumen konfrontiert.
Insgesamt zeichnet sich die Publikation durch eine profunde Kenntnis der aktuellen entwicklungspolitischen Debatten und den Ansätzen einer modernen Stadtforschung aus, die mit einer großen regionalen Kompetenz kombiniert ist. Sie setzt das Strukturelle mit dem Konkreten, das Globale mit dem Lokalen in Beziehung, und verleiht der abgekoppelten "Restwelt" ein Gesicht.     
Autorin: Ulrike Müller-Böker

Quelle: Erdkunde, 58. Jahrgang, 2004, Heft 3