Drucken
Kategorie: Rezensionen

David Harvey: Spaces of Hope. Edinburgh 2000. 293 S.

Das Buch bietet zunächst eine Analyse der gegenwärtigen Formen und Tendenzen regionaler Ungleichheit und berücksichtigt dazu nicht nur die Disparitäten zur Zeit des Kommunistischen Manifests als Vergleich mit der Vergangenheit, sondern auch die Entwicklungsformen der Globalisierung; diese beruhen nach Harveys Ansicht darauf, dass auch unter den Bedingungen des späten und von Konzernen beherrschten Kapitalismus die Bourgeoisie weltweit auf der Jagd nach neuen Märkten bleibt. Im Gegensatz zu vielen früheren Publikationen wendet sich der Autor subjektiven und individuellen Fragen zu. Das ist wohl eine Folge seiner anhaltenden Rezeption des englischen Kulturtheoretikers und äußerst eloquenten Marxisten Raymond Williams. Er hat von diesem viel gelernt und dabei seine jahrzehntelange Bindung an allzu abgehobene und strukturalistisch verengte Kategorien weitgehend überwunden, wie es scheint.

Auf dieser Folie einer neuen Zuwendung zum Individuum erscheint es logisch, dass sich die Studien auf die Menschenrechte, den Körper, utopische Räume und Politiken sowie eine Pluralität von Handlungsalternativen beziehen, ohne allerdings die Marxsche als die einzig tragfähige Referenztheorie aufzugeben. Den Ausklang bildet der Entwurf eines völlig anderen Systems von Gesellschaft und Raum, in dem ein reales Goldenes Zeitalter gesichert ist, das für alle in ihm Lebenden Schluss macht mit Angst, Spannungen, Ärger, Überarbeitung und dadurch verursachten schlaflosen Nächten (S. 281)!
Dieses Modell von Zukunft, nicht einfach als Utopie abqualifizierbar, greift Gehalte früherer Utopien auf, bezieht diese aber auf Probleme der heutigen Welt - und zwar so, dass seine Realisierbarkeit keineswegs ausgeschlossen ist. Anknüpfungspunkt sind die krassen sozialen und regionalen Disparitäten auf der Erde, die sich bis in die Zentren und Ränder der großen  Städte fortsetzen und die weder mit den Menschenrechten noch mit den Verfassungen der meisten Länder vereinbar sind.
Erstmals setzt Harvey den Gesetzmäßigkeiten und Tendenzen des Kapitalismus als Gesellschafts- und Raumsystem einen durchaus machbaren Traum von Veränderung entgegen, der offenbar die Konsequenz aus seinen eigenen Kampferfahrungen in konkreten Auseinandersetzungen um städtebauliche Vorhaben, politische Konflikte und gewerkschaftliche, unternehmensbezogene Vorhaben - wie etwa gerechte Löhne - darstellt. Ansatzpunkt ist auch dafür die Zusicherung, dass utopische Konzeptionen sich nicht nur mit der sozialen Wirklichkeit vermitteln lassen, sondern unter den Bedingungen zunehmender Handlungs- und Wahlfreiheiten für die Zukunftsgestaltung schlicht notwendig sind.
Harveys Utopia ist weit entfernt von Huxleys und Orwells alptraumhaften Szenarien und steht voll im politischen und geographischen Kontext unserer Zeit. Ausgangspunkt ist eine international organisierte Revolte der Mehrheit der Weltbevölkerung, die sich gegen die Verwerfungen einer von zahlreichen Kriegen, Massenarbeitslosigkeit und totalem Überwachungsstaat instabil gewordenen Gesellschaft richtet. Sie ist deshalb erfolgreich, weil sie sich weltweit und zugleich auch regional wie lokal als Netzwerk zur Überwindung der nicht mehr haltbaren und äußerst ungerechten Zustände organisiert und als internationales Kollektiv gezielt vorgeht.
Die von diesem Netzwerk neu gestaltete Gesellschaft strukturiert sich auf sechs räumlichen Stufen, wobei die Familie und das vertraglich geregelte Miteinander der Geschlechter ebenso überwunden wird wie unbegrenzter Handel, Unterprivilegierungen der Frauen, Umweltschädigungen, Großunternehmen, relevantes Privateigentum, Geldwirtschaft, Bürokratien, Militärapparate, Gefängnisse und lange Arbeitszeiten. Eine derart revolutionierte Lebensweise ist nur möglich, wenn die Menschen vor allem eine Tätigkeit in den Vordergrund stellen: Zusammenarbeit, so direkt und so positiv wie überhaupt nur denkbar.
Das Leben wird getragen von der Kooperation auf allen Ebenen, von der kleinsten sozialen Einheit bis zum globalen Zusammenhang durchsetzt von demokratischen Regeln und Absichten. Alles ist einem Zweck untergeordnet: Jeder Mensch führt ein Leben, in dem er sich selbst, die anderen Menschen und die Natur schont und von Belastungen freihält. Da die Gesellschaft die neuen Technologien nicht ablehnt, sondern mit Verve fördert und überall einsetzt, kommen alle in den Genuss umfangreicher Arbeitszeitverkürzungen. Gesundheitswesen, Ernährung, Bildung stehen ausschließlich im Dienst der Individuen und sollen ihnen helfen, ein freies, genussreiches und kulturell sinnvolles Leben zu führen. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind völlig frei und ohne staatliche Aufsicht geregelt - jedenfalls im Bereich der Erwachsenen.
Harvey hat hier, wie man unschwer erkennen kann, eine Synthese aus allen menschenfreundlichen Utopien gebildet, die bekannt sind. Er bedient sich dafür bei Morus, Campanella, Bacon, Platon und Marx; er kennt Ökotopia, das postmoderne Heterotopia, Cyberspace und die Stadt der Frauen. Und so schreibt er eigentlich, ohne es zu sagen, ein Bild dessen, was früher einmal mit dem Begriff Kommunismus belegt war: eine freie, vielfältige, offene, individuell gestaltete, plurale Welt, in der freundliche Interaktion vor allem anderen rangiert und das Reich der Notwendigkeiten klein, das der Freiheiten groß ist.
Wirklich kritisch zu sehen ist aber ein ganz anderes Feld dieses Zukunftsmodells, gegen das kaum Einwände möglich sind. Der politische Weg, die politischen Methoden, die Übergänge und Maßnahmen, die ein solches Muster von Raum und Gesellschaft wahr machen könnten, bleiben undeutlich. Damit bleibt eine Lücke in seinem Konzept, die letztlich doch wieder typisch ist für geographisches Denken. Die Konzeption selbst ist höchst politisch, denn sie beinhaltet die Befreiung der Menschheit von zentralen Problemen. Aber die politischen Subjekte, die Handelnden in den gegenwärtigen Strukturen und Verhältnissen eines entfesselten und maßlos gewordenen Kapitals und seiner in jeder Hinsicht grenzenlosen Elite finden wenig Hinweise, wie sie dieses höchst erstrebenswerte Ziel erreichen können. Auch kritische Geographie bleibt grundlegend von politischer Blindheit oder zumindest Naivität gekennzeichnet. Sie kann eine wunderschöne, ferne Welt beschreiben, aber der Weg dahin bleibt dunkel.
Autor: Heinz Arnold

Quelle: geographische revue, 6. Jahrgang, 2004, Heft 1, S. 77-79