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Kategorie: Rezensionen

Thomas Krämer-Badoni, Klaus Kuhm (Hg.): Die Gesellschaft und ihr Raum. Raum als Gegenstand der Soziologie. Opladen 2003 (Stadt, Raum und Gesellschaft, Band 21). 290 S.

Das Verhältnis von Raum und Gesellschaft ist kein exklusiver Forschungsgegenstand der Geographie mehr. Konnte sich die Geographie mit ihrem fachkonstitutiven Raumbezug lange Zeit hinter die Grenzen der disziplinären Arbeitsteilung zurückziehen, so sieht sie sich zunehmend auf ihrem ureigensten Terrain herausgefordert. Nach dem "cultural turn" hat mittlerweile auch der "spatial turn" das gesamte Spektrum der Sozial- und Geisteswissenschaften erfasst. Es "räumelt" allerorten, auch und besonders in der deutschsprachigen Soziologie, die diesbezüglich einen gewissen Nachholbedarf hat. Wurden Raumfragen lange Zeit an die Geographie oder die empirisch ausgerichtete Subdisziplin Stadt- und Regionalsoziologie delegiert, wird inzwischen auch aus gesellschaftstheoretischer Perspektive einige Arbeit in Sachen Raum und Gesellschaft investiert. Schon ist von einer "Soziologie des Raums" die Rede.

Dass der Raum dabei als soziale Konstruktion verstanden wird, die wiederum in ihrer sozialen Relevanz interessiert, kann kaum überraschen. Anders hingegen die Tatsache, dass maßgebliche Beiträge zu dieser Entwicklung auch aus dem Bereich der Systemtheorie Luhmann'scher Prägung stammen. Im Gegensatz zu Gesellschaftstheoretikern wie Giddens oder Bourdieu hatte Luhmann selbst seinen Ansatz noch weitgehend "unräumlich" konzipiert. In der Geographie erkannte Klüter schon früh das Potenzial der Systemtheorie auch für raumbezogene Fragestellungen. In der Soziologie kann man erst seit wenigen Jahren von einer diesbezüglichen Weiterentwicklung sprechen, dafür verläuft hier die Diskussion nun umso dynamischer. Mit verschiedenen Diskussionsbeiträgen haben sich in der jüngsten Vergangenheit neben Kuhm, einem der beiden Herausgeber des zu besprechenden Sammelbandes, gleich mehrere prominente systemtheoretische Vertreter wie Stichweh, Baecker oder Nassehi explizit der Kategorie des Raums zugewendet.
Auch der zweite Herausgeber, der Stadt- und Regionalsoziologe Krämer-Badoni, sieht im konstruktivistischen und systemtheoretischen Denken einen vielversprechenden Ausgangspunkt einer "soziologischen Bestimmung des Verhältnisses von Raum und Gesellschaft". Dass die raumsoziologische Theoriebildung außerdem vom diesbezüglichen Wissensstand anderer Disziplinen (Biologie, Psychologie, Physik, Geographie) profitieren könne, war den Herausgebern Anlass für eine interdisziplinäre Tagung am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst (2002), aus der die Mehrheit der Texte des Sammelbandes hervorgeht. Mit seinen 14 Einzelbeiträgen verspricht der Band daher Einblicke in eine hochaktuelle und fachübergreifende Forschungsfront, die für die Geographie naturgemäß von großem Interesse ist.
In seinem Einleitungsartikel skizziert Kuhm den programmatischen Rahmen des Vorhabens. Das größte Hindernis für eine "zeitgemäße" Soziologie des Raums sieht er in der Gewohnheit, am Alltagserleben orientierte, ontologisierende Raumvorstellungen zu pflegen, die die Beobachtungsabhängigkeit der Realität und damit auch dessen, was mit Raum bezeichnet wird, unterschlagen. Daher empfiehlt Kuhm der Soziologie die Anwendung einer Erkenntnistheorie, die unter Bezeichnungen wie "radikaler" oder "operativer Konstruktivismus" in Disziplinen wie der Biologie oder Psychologie entwickelt und in Wissenschaftsprogrammen wie der Kybernetik und der Systemtheorie ausgearbeitet wurde. Sie schärfe den Blick für die Differenz von lebenden Systemen (Zellen, Immunsystemen, Nervensystemen), Bewusstseinssystemen und sozialen Systemen, die alle ausschließlich eigenen Konstruktionen folgten und operativ keinen "direkten" Umweltkontakt herstellen könnten. (Die unterschiedlichen Operationsweisen dieser Systeme lassen Kuhm auch den Handlungsbegriff als Grundlage sozialwissenschaftlicher Theoriebildung ablehnen, da mit ihm unzulässigerweise Körper, Geist und Person zu einer Handlungseinheit zusammengezogen würden.) Trotz operativer Geschlossenheit bleibe jedes System in eine Umwelt anderer Systeme eingebettet und von ihr abhängig, wenn es seine Operationen fortsetzen will. Die kommunikative Konstruktion von Raumformen (in der Gesellschaft als dem alle Kommunikationen umfassenden Sozialsystem oder in den in ihr gebildeten interaktiven oder organisierten Teilsystemen) sei zwar auf neuronale und bewusste Aktivitäten des Errechnens und Vorstellens von Raum angewiesen, immer seien es jedoch ihre Unterscheidungen, die "den Raum zu dem machen, was er sozial ist". Der soziologische Beobachter, der sich für den Umgang der Gesellschaft mit dem Wahrnehmungs- und Kommunikationsmedium Raum interessiert, habe folglich - als Beobachter zweiter Ordnung - Kommunikationen bzw. soziale Systeme daraufhin zu beobachten, wie und wozu sie räumliche Unterscheidungen (hier/dort, nah/fern usw.) verwenden, d. h. Raum beobachten oder konstruieren. Sichtbar wird auf diese Weise z. B. die soziale Funktion des Raums als Externalisierungsreferenz. So können soziale Systeme durch die Konstruktion externer, scheinbar objektiver räumlicher Relevanzen (Raumgrenzen, metrische Distanzen, materielle Umwelt) Ordnungsmöglichkeiten für interne Kommunikationsprozesse gewinnen.
Diesem Programm - der Abhängigkeit des Raums von systemspezifisch variierenden Modi seiner Konstruktion - scheint auch die Gliederung des Sammelbandes zu entsprechen. Im ersten Teil ("Raumwahrnehmung, Raumbewusstsein, Körperraum") werden Raumkonstruktionen im Kontext des Gehirns, des Bewusstseins und des Körpers erörtert. Der zweite Teil widmet sich dem Zusammenhang von "Raum und sozialen Systemen". Und im dritten Teil ("Der Raum der Moderne") bildet das globale System der Gegenwartsgesellschaft den Hintergrund, vor dem charakteristische raumbezogene Strukturen und Wissensformen untersucht werden. Erst der zweite Blick zeigt, dass sich hinter diesem Aufbau ein weit heterogeneres Feld verbirgt, als Kuhms Einleitung erwarten lässt. Genau genommen zerfällt der Band beim Lesen - quer zu seiner Gliederung - in zwei Bücher. Das eine umfasst dezidiert konstruktivistisch- systemtheoretische Beiträge, das zweite raum- und regionsbezogene Beobachtungen und Interpretationen der modernen Gesellschaft, die teilweise nur einen sehr lockeren systemtheoretischen Bezug aufweisen oder gar für andere Theorieoptionen plädieren.
"Buch 1" beginnt mit zwei Beiträgen aus der Hirn- und Kognitionsforschung, die als Bestätigung der operativen Geschlossenheit von Gehirn und Bewusstsein verstanden werden können. Roth demonstriert aus neurobiologischer Sicht anschaulich, wie das Gehirn als intern höchst differenziertes System aus einer Vielzahl von Informationen den homogenen Raum der Alltagsvorstellung errechnet. Ebenso wie das Ich und sein Körper erweist sich auch die räumliche Erlebniswelt als "labiles Konstrukt", als "schöne und nützliche Illusion". An Krankheiten und Schädigungen des Gehirns kann man lernen, wie voraussetzungsvoll die alltäglich unbemerkt bleibenden räumlichen Wirklichkeitskonstruktionen sind. Dagegen untersuchen Jahn/Knauff die bewusste Konstruktion räumlicher Modelle beim Lesen und Verstehen von Texten, die ihrerseits räumliche Informationen enthalten. Ihre Beobachtungen legen u. a. die Vermutung nahe, dass das Gehirn in der Lage ist, mit der Konstruktion räumlicher Repräsentationen eine tatsächlich nicht stattgefundene visuelle Wahrnehmung mental zu simulieren.
Der systemspezifischen Eigenlogik von Raumkonstruktionen gehen auch die vier Beiträge nach, die auf soziale Systeme referieren. Stichweh behandelt die Frage, wie soziale Systeme mit der dem Raum (wie der Zeit) unterstellten Äußerlichkeit gegenüber der Gesellschaft umgehen. Seine Antwort lautet, dass soziale Systeme sich den Raum verfügbar machen, indem sie ihn mit Hilfe beobachtungsleitender Unterscheidungen wie nah/fern, innen/außen, offen/geschlossen domestizieren, invisibilisieren und überlagern. Mit fortschreitender soziokultureller Evolution bildeten sich auf diese Weise zunehmend künstliche und gegen Wahrnehmung abgesetzte Formen sozialer Räumlichkeit heraus. Der wahrgenommene Verlust der Exteriorität des Raums resultiere wie der Verlust seiner Beunruhigungsqualität folglich nicht aus seiner Zerstörung oder seinem Irrelevantwerden, sondern aus der zunehmend souveränen Kontrolle durch die Gesellschaft.
Konkreter werden die beiden Analysen zur Raumrelevanz in Organisationen und Interaktionen. Drepper zeigt am Beispiel von Wirtschaftsorganisationen und auf der Basis umfangreicher empirischer Beobachtungen, dass der Raum in den Entscheidungen und Entscheidungsprämissen der Organisation relevant wird (z. B. Programmfragen, Personalangelegenheiten, Standortstrategien). Räumliche Unterscheidungen (hier/dort, oben/unten, vertikal/horizontal, steil/flach) können sowohl zur Symbolisierung, Regelung und Stabilisierung der hierarchischen Ordnung ihrer internen Kommunikationswege als auch zur Strukturierung des interaktionsbasierten Arbeitsalltags genutzt werden, sei es in traditionellen Büros oder beim projektförmigen Arbeiten in variabel zugeordneten Räumen. Raumbezogene Semantiken und Verortungen können außerdem der Selbstsymbolisierung der Kollektividentität sowie der notwendigen Adressier- und Unterscheidbarkeit von Organisationen dienen. Ziemann diskutiert, in enger Anlehnung an Luhmanns Interaktionstheorie, die Rolle des Raums als perzeptiv fundiertes und kommunikativ konstruiertes "Interaktionssubstrat". Unter der Bedingung wechselseitiger Anwesenheit und Wahrnehmung werde der Raum der Interaktion als "Eigenwert" durch Relationierungen von Körpern, Bewegungen und Objekten erzeugt. Veranschaulicht wird die Bedeutung von Raum für einfache Sozialsysteme an den beiden interaktionsförmig operierenden Funktionssystemen Erziehung und Familie. Die hierbei sichtbar werdenden Ordnungs-, Strukturierungs- und Atmosphären generierenden Funktionen des Raummediums ließen sich, entgegen Ziemanns Einschätzung, wohl auch problemlos für andere Bereiche der modernen Gesellschaft nachweisen, die sich durch einen ähnlich hohen Interaktionsaufwand auszeichnen - wie z. B. der Sport, das Gesundheitssystem, die Soziale Arbeit oder der Tourismus.
Kuhm schließlich präsentiert in seinem zweiten Buchbeitrag einen anspruchsvollen theoretischen Entwurf zur Bestimmung von Regionen. Er deutet Regionen als parasitäre Strukturen der Weltgesellschaft, die erst als Folge der operativen Trennung und wechselseitigen Abhängigkeit von Funktionssystemen entstehen und auf ihren wachsenden Orientierungs- und Ordnungsbedarf reagieren. Als sekundäre gesellschaftliche Strukturbildungen dienten sie einerseits einzelnen Funktionssystemen als Externalisierungsreferenzen, die zu ihrer Selbstfestlegung und Stabilisierung beitrügen. Andererseits fungierten Regionen als eine Form der strukturellen Kopplung zwischen verschiedenen Funktionssystemen.
Gegenüber diesen im engeren Sinne systemtheoretischen Beiträgen umfasst "Buch 2" sechs empirisch gesättigte Aufsätze, die dem beobachtungstheoretischen Programm unterschiedlich strikt folgen. Im Kontext der mit dem Sammelband verfolgten Theoretisierungsbemühungen des Verhältnisses von Raum und Gesellschaft macht sie dies gleichwohl nicht weniger interessant. Sie liefern eine ganze Fülle von (nicht immer neuen) raumbezogenen Erkenntnissen, indem sie: den historischen Wandel und die gegenseitige Beeinflussung von Raum- und Körpersemantiken untersuchen und dabei auf das Wechselspiel von Grenzauflösung und Grenzaufbau aufmerksam werden (Schroer); das raumbezogene Wissen der modernen Physik (relativistisches RaumZeit-Konzept, Diskontinuität des Raums, Beobachtungsabhängigkeit von Raum und Zeit) im Hinblick auf seine Übertragbarkeit auf die Soziologie rekonstruieren (Sturm); den Prozess der Suburbanisierung vor dem Hintergrund der Disprivilegierung räumlicher Nähe in gesellschaftlicher Kommunikation (durch moderne Verkehrs- und Kommunikationstechniken) als Teil einer Entwicklung deuten, die auf die Erosion der Stadt/Land-Differenz hinausläuft (Bahrenberg); tendenziell "verwahrloste" und "sozial leere" "öffentliche Zwischenräume" (Koenen) oder innere und äußere "Ränder" der Städte (Ipsen) als "Randzonen" der Gesellschaft mit (oft übersehenen) kreativen Potenzialen beobachten; einen hermeneutischen Raumforschungsansatz formulieren, der vom "globalen Lebensraum" bis zum "Körperraum" acht Dimensionen der Raumentwicklung unterscheidet (Matthiesen).
Die innere Zweiteilung des Sammelbandes erkennt selbstkritisch auch Krämer-Badoni an. In seinem "verwunderten Nachwort zu einem großen Thema" kommt er mit Blick auf die "Dialogschwierigkeiten" zwischen Systemtheoretikern und Nicht-Systemtheoretikern allerdings zu dem überraschenden Fazit, dass die raumbezogene Sozialwissenschaft eigentlich gar keiner gesellschaftstheoretischen Reflexion der Raumkategorie bedürfe. Am Beispiel der Stadtsoziologie führt er vor, dass die empirische Raumforschung auch ohne einen konstruktivistisch-systemtheoretisch fundierten Raumbegriff erfolgreich arbeiten kann, z. B. bei der Analyse behälterförmiger Stadtquartiere, die als Handlungsrahmen für Soziales vorgestellt werden. Zugegeben: Ein vergleichbares Argument könnte man auch mit Bezug auf entsprechende Artikel und Passagen in "Buch 2" oder mit Bezug auf viele geographische Arbeiten führen. Allein, darum geht es nicht. Die mit dem Band aufgeworfene Frage ist nicht, ob die raumbezogene Forschung auch ohne systemtheoretische Erkenntnisprogramme auskommen kann, sondern vielmehr, welche Beschreibungs- und Deutungsalternativen sie gewinnen kann.
Dass die Arbeit an dieser Frage erst am Anfang steht, dokumentieren nicht zuletzt die systemtheoretischen Beiträge. Zu unterschiedlich sind ihre Einschätzungen der Relevanz der Raumkategorie in der modernen Gesellschaft, als dass bereits von einer konsistenten raumbezogenen Ausarbeitung dieser Gesellschaftstheorie gesprochen werden könnte. Gleichwohl liefern sie dazu wichtige Bausteine. Vor allem aber machen sie unmissverständlich klar, worin die größte systemtheoretische Herausforderung der raumbezogenen Sozialforschung liegt: in der These der Beobachtungsabhängigkeit und Systemrelativität des Raums! Folgt man ihr, zwingt sie die Analyse geradezu zur Berücksichtigung der Systemreferenzen der empirischen Beobachtungen.
In diesem Sinne generiert der Band gleich eine ganze Reihe von Anschlussfragen. Die Unterscheidung einzelner Funktionssysteme, Organisationstypen, Netzwerke oder anderer Strukturen der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft legt (vergleichende) Untersuchungen zur Raumrelevanz, also zu den strukturbildenden Funktionen räumlicher Unterscheidungen in der Wirtschaft, der Religion, dem Tourismus usw. nahe. Daneben bleibt z. B. fraglich, ob sich die Existenz der von Koenen oder Ipsen beschriebenen Zwischen- oder Randräume nur den Beobachtungen der Autoren bzw. der Wissenschaft verdankt oder ob diese Räume und ihre Grenzen auch in anderen Systemen erzeugt werden. Und wenn ja: In welchen Systemen und mit welchen Folgen für welche Kontexte? Der angebotene Verweis auf ihre Funktion für die Stadt reicht nicht aus, ist die Stadt doch kein soziales System, sondern, nach Kuhm, eher als parasitäre regionale Struktur zu begreifen, die selbst verschiedenen Funktionssystemen (und auch Organisationen?) zur Komplexitätssteigerung und Kopplung dient. Entsprechend wäre zu untersuchen, in welchen gesellschaftlichen Kontexten die von Matthiesen konstatierten Raumentwicklungsdimensionen konstruiert werden und in welchen Systemen sie dann welche Folgewirkungen entfalten. Dem von ihm selbst vorgebrachten Hinweis auf den politisch-planerischen Kontext wäre nun auch empirisch nachzugehen, was u. a. die derzeit lebhaft diskutierte Frage von Macht und Raum ins Spiel bringt. Und so weiter.
Dass der Band zu solchen Überlegungen anregt, ist neben seinen theoretischen Angeboten und vielfältigen Interpretationen der Raumbezogenheit der modernen Gesellschaft das größte Verdienst. Als ausgesprochen dichte, nicht immer leichte, aber fast durchgängig mit Gewinn zu lesende Aufsatzsammlung wird er sich auch für andere an konzeptionellen Raum- und Gesellschaftsfragen interessierte Geograph(inn)en als wertvolle Lektüre erweisen.
Autor: Andreas Pott

Quelle: geographische revue, 6. Jahrgang, 2004, Heft 2, S. 81-86