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Kategorie: Rezensionen

Hans-Dieter Haas und Simon-Martin Neumair: Wirtschaftsgeographie. Darmstadt 2007. 136 S.

Die neue Reihe der wissenschaftlichen Buchgesellschaft will die grundlegenden Begriffe der Teildisziplinen der Geographie und ihrer Nachbarwissenschaften verständlich geschrieben für Studierende, Lehrende und geowissenschaftlich Interessierte publizieren. Der Herausgeber dieser Reihe legt nun mit seinem Co-Autor und Mitarbeiter NEUMAIR die Wirtschaftsgeographie als weiteren Band der Reihe vor. Von den Autoren selbst als Lehrbuch eingestuft, gibt es in der Tat einen guten und aktuellen Überblick über den Stand der Diskussion innerhalb der Fachdisziplin, insofern wird es auch seinem eigenen Anspruch mehr als gerecht. Aus fachwissenschaftliche Perspektive interessieren natürlich mehr die gewählte Systematik der Darstellung, die daraus resultierende Organisation der Inhalte und die Einordnung aktueller Diskussionen, da hieraus auch im Vergleich mit bereits publizierten Lehrbüchern Rückschlüsse auf den fachwissenschaftlichen Diskussionsstand gezogen werden können.
Grundsätzlich bieten neue Lehrbücher die Option, die mehr inkrementalen jüngeren Beiträge der fachwissenschaftlichen Diskussion in das Lehr- und Theoriegebäude der Fachdisziplin zu inkooperieren bzw. letzteres selbst zu reorganisieren. Die Autoren verzichten jedoch auf die große Option und wählen für ihr Lehrbuch eine moderierende Perspektive der Darstellung bekannter Ansätze. Diese wird in 4 großen Kapiteln organisiert. Kurz und prägnant werden im ersten Kapitel (Wirtschaftsgeographie als wissenschaftliche Disziplin) Begriff, Forschungsgegenstände, Entwicklungstendenzen und Gliederungen der Wirtschaftsgeographie vorgestellt.
Kapitel 2 ist den methodischen Grundlagen gewidmet und setzt sich zunächst mit zentralen Begriffen wie Standort und Raum sowie der Standortwahl und den damit in Zusammenhang stehenden Standortfaktoren in gut gegliederter und übersichtlicher Weise auseinander. Interessanter ist allerdings die nachfolgende Darstellung der Forschungsansätze: Hier wird unterschieden nach
-    Struktur- und funktionsräumlichen Ansätzen,
-    dem raumwirtschaftlichen Ansatz,
-    den verhaltens- und entscheidungsorientierten Ansätzen,
-    dem relationalen Ansatz und einem nicht näher (Literaturhinweise)
-    spezifizierten Wohlfahrtsansatz.
Insbesondere für Studienanfänger ist die Charakterisierung der Ansätze gut gelungen, da mit der Hervorhebung des Trennenden das Lernen erleichtert wird. Spannend wäre aber natürlich auch eine stärkere Herausarbeitung der
Gemeinsamkeiten gewesen, um die daraus sich ergebende fachwissenschaftliche Resultierende zu identifizieren.
In Kapitel 3 (Analyse und Erklärung räumlicher Strukturen und Prozesse) werden zunächst betriebliche, strukturelle und verhaltenswissenschaftliche Standorttheorien, sodann regionale Wachstums- und Entwicklungstheorien vorgestellt. Durch die moderierende Darstellung gelingt hier nicht eine eigenständige Konstruktion des fachwissenschaftlichen Theoriegebäudes, sondern es bleibt größtenteils bei einer personenbezogenen Darstellung der einzelnen Ansätze, ohne dass eine Inkooperation in ein einheitliches System gelingt. Natürlich reflektiert dies mehr eine Schwäche der fachwissenschaftlichen Diskussion insgesamt als die der Autoren und signalisiert anhaltenden Entwicklungsbedarf in der Disziplin. Ähnliches gilt auch für die nachfolgenden regionalen Wachstums- und Entwicklungstheorien, allerdings treten hier auch einige Inkonsistenzen auf. Es ist wiederum der moderierenden Perspektive des Buches geschuldet, dass z.B. die Exportbasistheorie nicht als nachfrageorientierter und damit postkeynesianischer Ansatz sondern als selbstständiger Ansatz vorgestellt wird. Bedauerlicher ist jedoch, dass im Kapitel 3.2.5. (Entwicklung versus Unterentwicklung aus theoretischer Sicht) ein Diskussionsstand der 70er Jahre diskutiert wird und neuere Ansätze, wie z.B. die Theorie der fragmentierten Raumentwicklung von SCHOLZ keine Erwähnung finden. Der Hinweis darauf erfolgt erst in Kapitel 4.3. Hier wurde die fachwissenschaftliche Perspektive wohl zu eng definiert. Trotz dieser Kritik muss man auch dem Kapitel 3 eine ansonsten umfang- und detailreiche sowie insgesamt gute Darstellung der behandelten Themenbereiche bescheinigen.
Während Kapitel 3 ganz wesentlich eine komprimierte Fassung des raumwirtschaftlichen Ansatzes darstellte, folgt Kapitel 4 (Raumentwicklung und Organisation) den Spuren der relationalen Wirtschaftsgeographie. Leider macht sich auch hier für den fortgeschrittenen und damit erwartungshungrigen Leser wieder die moderierende Perspektive der Autoren negativ bemerkbar. Ausgangspunkt der Betrachtung bildet der wirtschaftliche Strukturwandel, der mit FOURASTIE, KONDRATIEFF und STORPER/WALKER erklärt wird. Es folgt eine Kurzdarstellung des Regulationsansatzes mit nachfolgenden Erläuterungen zum Fordismus/Postfordismus sowie zu flexiblen Organisations- und Produktionsstrukturen, die von sehr formal gehaltenen Ausführungen zu räumlichen Innovations- und Diffusionsmodellen abgeschlossen werden. Insgesamt wird die angekündigte evolutionäre Perspektive des Kapitels nicht ganz deutlich. Gerade für Anfänger hätte man sich hier eine kurze Einführung in die Unterschiede einer evolutionären im Gegensatz zur historischen oder prozessualen Betrachtungsweise gewünscht.
Im nachfolgendem Abschnitt werden die räumlichen Erscheinungsformen von Unternehmenskooperation und Organisation (regionale Unternehmenskonzentration und Netzwerke/Unternehmenscluster/Industriedistrikte/kreative Milieus) als regionale Raumsysteme kurz beschrieben. Abschließend erfolgen Ausführungen zur Globalisierung der Wirtschaft.
In der Summe ergibt sich in der Tat eine sehr kompakte und umfassende Darstellung der traditionellen und aktuellen Themenfelder und Forschungsansätze der Wirtschaftsgeographie, die für die beschriebene Zielgruppe der interessierten Einsteiger eine ausgezeichnete Einführung bietet. Die angesprochenen Kritikpunkte betreffen den allgemeinen fachwissenschaftlichen Diskussionsstand. Zwar liefert der Band hier keine großen Lösungen, aber ohne Zweifel einen interessanten und spannenden Münchener Beitrag zur Interpretation des aktuellen Zustandes des wirtschaftsgeographischen Theorie- und Praxisgebäudes bzw. der gleichnamigen Baustelle. In diesem Sinne verspricht die Lektüre den interessierten Einsteigern eine umfassende Information und den interessierten Kollegen/innen nicht nur jede Menge "déjà vu's", sondern durchaus auch einen mit Lerneffekten verbundenen, interessanten Einblick in die Münchener Sicht der Dinge.    
Autor: Walter Thomi

Quelle: Erdkunde, 61. Jahrgang, 2007, Heft 4, S. 381-382