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Kategorie: Rezensionen

Dieter Rink, Gerhard Hartmuth, Katja Huber (Hg.): "Raum für Nachhaltigkeit. Zur Kontextualisierung des Leitbildes". Berlin 2005. 243 S.

Der Sammelband verfolgt das Ziel, ausgewählte Ergebnisse des Helmholtz-Verbundprojektes Global zukunftsfähige Entwicklung - Perspektiven für Deutschland und von damit verknüpften Folgeprojekten für ein breiteres Fachpublikum verfügbar zu machen. Der Schwerpunkt des Buches liegt in der Darstellung von Nachhaltigkeitskonzepten und -indikatoren, deren Kontextualisierung sowie Steuerungswirkung auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen. Ein Teil der Artikel fokussiert auf spezifische Handlungsfelder wie Gesundheit, Tourismus oder Beschäftigungsförderung.

Seit Mitte der 90er Jahre wird in der Raum- und Umweltentwicklung sowie in verschiedenen Fachpolitiken die Konkretisierung und Spezifizierung des allgemein anerkannten Leitbildes der nachhaltigen Entwicklung angemahnt. Bei der Erfüllung dieser Forderung zeigen sich jedoch, vor allem bei der praxisbezogenen Umsetzung in Städten und Regionen, eine Vielzahl unterschiedlicher und komplexer Probleme. Bereits die abstrakte Leitbildfunktion von sustainable development verweist auf die Schwierigkeiten einer eindeutigen Spezifizierung. Insbesondere in den klassisch querschnittsorientierten Arbeits- und Handlungsfeldern der Raum- und Umweltentwicklung, jedoch auch in verschiedenen fachpolitischen Feldern wie Gesundheit und Tourismus, besteht ein großer inhaltlicher Interpretationsspielraum. Damit eng verknüpft sind die Probleme, einen adäquaten räumlichen Fokus zu wählen sowie die relevanten Akteurskonstellationen zu erfassen und deren Zielvorstellungen adäquat zu berücksichtigen. Sollen in den unterschiedlichen Handlungs- und Arbeitsfeldern auch für Praxis (verwendbare) Vorschläge und Empfehlungen erarbeitet werden, besteht zudem die Notwendigkeit, zwischen der theoretischen Fundierung und der Kenntnis von Ursache-Wirkungsbeziehungen einerseits und der handlungsbezogenen Anwendbarkeit und erhofften Veränderungswirkung andererseits eine Balance zu finden. Für die skizzierte komplexe Problemstellung werden im Buch unterschiedliche Antworten gesucht und - je nach Bandbeitrag differenziert - in unterschiedlicher Form und Qualität auch gefunden.
Der Band beginnt mit einer guten einführenden und überblicksartigen Darstellung von Jörissen über die konstitutiven Elemente des Nachhaltigkeitsleitbildes und dessen konzeptionelle Umsetzung. Dabei werden insbesondere zentrale Konfliktlinien im Nachhaltigkeitsdiskurs, z.B. zur Bedeutung der ökologischen Komponenten, zur Interpretation von Gerechtigkeit und starker versus schwacher Nachhaltigkeit aufgearbeitet.
Kaether beschreibt anschliessend einen interessanten Projektansatz aus Mecklenburg-Vorpommern, Nachhaltigkeitsindikatoren "von unten" zu entwickeln und dadurch gleichzeitig einen Qualifizierungsprozess zu initiieren. Anhand unterschiedlicher Beispiele aus der Mecklenburgischen Seenplatte werden in haltliche, instrumentelle, prozessuale, evaluatorische und regionale Aspekte differenziert. Dabei wird das Wechselspiel zwischen regionsinternen Handlungsmöglichkeiten und externen Unterstützungsnotwendigkeiten aufgezeigt.
 Der Beitrag von Hartmuth stellt zu Beginn in sehr ausführlicher Form und theoriefrei die Herleitung und den kommunalen Kontext einer nachhaltigen Entwicklung dar. Die Ergebnisse werden dann auf die Situation in Leipzig und Halle angewandt und Indikatoren für unterschiedliche Zielbereiche entwickelt.
Dorsch, Hoffmann, Gerstner und Wulff gehen speziell auf das Feld des Tourismus in der Region Prignitz in Brandenburg ein. Ausgehend von der Aufgabe eines zu erstellenden Berichtssystems werden zur Kontextualisierung Adressaten, Handlungs- und Informationsbedarf und ein konkreter Zielsystemvorschlag erarbeitet. Im Ergebnis werden die Methodik der deduktiven Herleitung und die Kontextualisierung dargestellt und die daraus gewonnenen Erfahrungen reflektiert. Zu Recht weisen die vier Autoren darauf hin, dass ein nur von außen induzierter Nachhaltigkeitsprozess wenig erfolgversprechend erscheint.
Süß, Glismann und Trojan stellen das Beispiel einer nachhaltigkeitsorientierten Gesundheitsberichterstattung vor. Sie verweisen auf die hohe Übereinstimmung von gesundheitspolitischen Zielen und dem Nachhaltigkeitskonzept. Mit einer "Stufenleiter der Integration" begegnen sie dem Problem der Abbildung von Wirkungszusammenhängen und zeigen auf, wie im Berichtswesen eine inhaltliche und ablaufbezogene Vernetzung schrittweise realisiert werden kann. Sie machen zugleich deutlich, welch hohe Bedeutung der lokalen Datenverfügbarkeit einerseits sowie der Praktikabilität der entwickelten Vorschläge andererseits zukommt.
Schreiber und Bieszcz-Kaiser führen Probleme der nachhaltigkeitsorientierten Berichterstattung und der Bewertung von öffentlich geförderten Beschäftigungsmaßnahmen aus. Dabei wird dem Leser auch am Text selbst verdeutlicht, welch große Schwierigkeiten ein Teil der an der Arbeitsmarktpolitik beteiligten Akteure mit der Kontextualisierung von Nachhaltigkeit hat.
Rink und Huber stellen Ergebnisse einer Befragung im Rahmen des BMBF-Förderschwerpunktes "Problemorientierte regionale Berichtssysteme" zur Integration des Nachhaltigkeitsleitbildes vor. Sie stellen - nicht wirklich überraschend, wenngleich nun empirisch erfasst - fest, dass der Nachhaltigkeitsbegriff zum einen zum Schlüsselwort von Antragsgenerierungen mutiert. Zum anderen wird er auf lokaler Ebene vielfach als akzeptiertes Schlüsselwort benutzt, dessen Operationalisierung und Implementation jedoch große Schwierigkeiten bereitet und oftmals lokale Praxisanforderungen die Diskussion beherrschen.
Döring und Heiland beschreiben auf der Grundlage der Auswertung von 44 Indikatorensystemen Strategien zur Kontextualisierung und somit verstärkten Nutzung von Nachhaltigkeitsindikatorensystemen. Die gewonnenen Ergebnisse, wenngleich, wie von den Autoren eingeräumt, nicht repräsentativ, sind wenig ermutigend. Sie zeigen, dass Indikatorensysteme bislang weder ihrer Informationsfunktion voll nachkommen, noch wesentliche Steuerungs- und Vernetzungswirkungen entfalten. Vorgeschlagen werden deshalb eine stärkere Spezifizierung, Regions- und Akteursbindung sowie Anknüpfung an bestehende Planungsinstrumente und Verwaltungsstrukturen.
Gehrlein stellt mit der Frage "Wie weiter" die Implementierung und Steuerungswirkung von Indikatoren- und Berichtssystemen in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Er weist darauf hin, dass nach eigenen Erhebungen bislang lediglich Agenda-Büros sowie teilweise die Stadt- und Landschaftsplanung auf die Nachhaltigkeitsindikatorensysteme und -berichte zurückgreifen. Dies reflektierend, führt er zur Erklärung institutionell-instrumentelle, inhaltlich-konzeptionelle, kapazitäre, motivatorische und prozessuale Probleme und Hemmnisse an. Im Anschluss daran werden Gestaltungskriterien für Nachhaltigkeitsindikatorensysteme benannt. Betont werden z. B. der modulare Aufbau und die Einbindung in die lokalpolitischen Diskussionen.
Zum Abschluss des Sammelbandes stellt Rothgang mit dem Nachhaltigkeitsberichtssystem der Stadt Wuppertal einen weiteren kommunalen Ansatz vor. Der Autor teilt trotz detaillierter Indikatorenentwicklung die auch schon zuvor geäußerte Skepsis bezüglich der Veränderungswirkung von Indikatoren- und Berichtssystemen.
Der Band beinhaltet insbesondere in den Artikeln von Kaether, Jörrissen, Döring/Heiland und Gehrlein interessante Aspekte, die für die zukünftige Weiterentwicklung von nachhaltigkeitsorientierten Zielvorstellungen und Konzepten von Bedeutung sind.
Dies beginnt mit der Differenzierung möglicher Problemfelder der Umsetzung (institutionell-instrumentell, inhaltlich-konzeptionell, kapazitär, motivatorisch und prozessual). Bedeutsam für die Kontextualisierung und Konkretisierung des Nachhaltigkeitsleitbildes sind zudem die Hinweise zum modulartige Aufbau von Indikatoresystemen mit spezifischem Themen-, Akteurs- und Regionsbezug sowie der prozessuale Ansatz, Indikatorenentwicklung von unten als Teil eines Qualifizierungsprozesses zu verstehen. Dennoch bleibt auch weiterhin in jedem "Anwendungsfall" das Spannungsfeld von Spezifizierung als notwendige Interpretation einerseits und gewünschter Uminterpretation zur Legitimation längst feststehender Ziele und etablierter Handlungsroutinen andereseits. Ebenso besteht jeweils aufs Neue die Gefahr, Praktikabilität als Argument für Beliebigkeit mit Anspruch auf Nachhaltigkeitsbezug auszunutzen.
In seiner Gesamtheit beinhaltet das Buch wichtige Hinweise für den Nachhaltigkeitsdiskurs. Es weist jedoch nicht nur das für Sammelbände nahezu unvermeidliche Problem von nur loser Verknüpfung der Einzelartikel auf. Einzelne Autoren neigen zur Langatmigkeit und ausschweifender Darstellung des bisherigen Kenntnisstandes. Zudem wird für einen Teil der Artikel selbst konstatiert, dass Textpassagen aus anderen Publikationen übernommen wurden. Dies fördert nicht die Lesefreude.
Der im Buch selbst formulierte Anspruch, das Leitbild der Nachhaltigkeit mit Inhalt zu füllen, gelingt mit dem Sammelband nur teilweise. Dies liegt zum einen an der projektbedingten thematischen Ausschnitthaftigkeit. Zum anderen hätte ein integrativer und pointierter Schlussartikel die notwendigen wissenschaftlichen wie praktischen Konsequenzen - über die Indikatoren- und Berichtsentwicklung hinaus - aus den doch ernüchternden Teilergebnissen formulieren können. Neben der Unterstützung der zukünftige Umsetzung des Nachhaltigkeitsleitbildes wäre dies die passende Abrundung des überwiegend lesenwerten Buches gewesen.
Autor: Thomas Weith

Quelle: geographische revue, 9. Jahrgang, 2007, Heft 1/2, S. 81-84