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Kategorie: Rezensionen

Carsten Würmann, Martina Schuegraf, Sandra Smykalla und Angela Poppitz (Hg.): Welt. Raum. Körper. Transformationen und Entgrenzungen von Körper und Raum. Bielefeld 2007. 298 S.

Der Sammelband "Welt. Raum. Körper" fasst Beiträge der Tagung "Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! - Globalisierung, Technisierung, Sexualisierung von Raum und Körper" zusammen, die 2004 von Promovierenden der Hans-Böckler-Stiftung veranstaltet wurde. Schon das stilistische Mittel der Aneinanderreihung zentraler Begriffe im Buchtitel lässt eine kulturwissenschaftliche Perspektive der Publikation erkennen. Der interdisziplinär angelegte Band setzt sich mit der kulturellen Konstruktion von Raumidentitäten und Körperformationen im Kontext von Globalisierungsprozessen auseinander. Der Sammelband ist erschienen im Transcript-Verlag, der sich in den letzten Jahren verdient gemacht hat mit interdisziplinär angelegten Publikationen im weiten Feld der cultural studies, die sich mit geographischen Kernthemen wie Stadtforschung, Raumidentitäten oder Globalisierung beschäftigen.

Der Sammelband vereint Beiträge von AutorInnen aus den Bereichen Literaturwissenschaft, Philosophie, Politikwissenschaft, Geschichte, Psychologie, Soziologie sowie Kunstschaffende. Es sei gleich vorweg angemerkt: Diese Vielfalt an Wissenshintergründen und Fachtraditionen macht einerseits den Reiz der Lektüre aus, fordert andererseits das Interesse der LeserIn heraus, sich auf diese Breite einzulassen.
Die Verbindung der drei Begriffe Welt, Raum, Körper erschließt sich nicht automatisch. "Als ein Wort klingt [Welt.Raum.Körper] visionär, die einzelnen Begriffe verweisen jedoch auf aktuelle Debatten über Globalisierung, Präkarisierung und Gender/Geschlecht" (S. 169). Sind sie also nur Platzhalter für die genannten Debatten oder geht es auch um eine konzeptionelle Reflektion der Titelbegriffe?
 Die Gemeinsamkeit der Beiträge ist ihr Ziel, kulturelle Transformationsprozesse zu identifizieren und mit deren Raumwirkung und Raumeinbettung in Bezug zu setzen. Als Träger und Angriffsfläche kultureller Transformationsprozesse wird die Bedeutung von Kommunikationsmedien, Transportmedien, internationaler Migration, regionaler Identität, Gentechnologien, Literatur, Fotografie und des Individuums untersucht. Die Beiträge zeichnen auf diese Weise die aktuelle Dynamik raumgebundener Identität und die Erfindung neuer Räume mit überzeugenden Beispielen nach.
Das Unterfangen wäre umso spannender, würden die AutorInnen darlegen, mit welchen Raumbegriffen sie jeweils argumentieren. Die cultural studies haben Raum in den 1980er Jahren als analytische Kategorie entdeckt. Die Kritik an einem Containerraumdenken hat sich in den Kulturwissenschaften mittlerweile etabliert. Diese Perspektive des spatial turn setzen die Herausgeber entsprechend als Konsens des Sammelbandes. Der Blick auf die "Bedeutung von sich wandelnden, sich verschiebenden, sich entgrenzenden, gar verschwindenden oder auch sich neu formierenden Räumen sind in den letzten Jahren zunehmend ins Interesse der Forschung gerückt" (S. 9). Die Herausgeber stellen ihre Publikation zusätzlich in die aktuell weitverbreitete Perspektive eines performative turn. Die Darstellung performativer Inszenierungen findet sich jedoch nur in einzelnen Beiträgen, die sich mit Körpern und deren Präsentationen beschäftigen, und wird leider nicht auf eine performative Inszenierung von Raumidentitäten ausgeweitet.
Markus Schroer setzt sich in seinem Beitrag am explizitesten mit der aktuellen Raumdebatte auseinander. Anhand von global cities belegt er seine These, "dass wir es aktuell mit einer Verschränkung von Enträumlichungs- und Verräumlichungsprozessen, mit Entgrenzung und Begrenzung, Deterritorialisierung und Reterritorialisierung" (S. 15) zu tun haben. Er diskutiert die Problematik der gleichzeitigen Gültigkeit eines absolutistischen Raummodells und eines relationalen Raummodells für Theorie und Praxis und stellt fest, dass "ein epistemologischer Wandel nicht automatisch einen empirischen Wandel" (S. 16) nach sich zieht. Genau dieses Problem zieht sich auch durch die Beiträge des Sammelbandes. Schroer stellt fest, dass Migration nicht mehr als "Umfüllung einiger Menschen von einem Container in den anderen" vorzustellen ist (S. 21), dennoch argumentiert u.a. Manfred Sing in seinem Beitrag zur "sexuellen Geographie in der Kopftuch-Debatte" (S. 179) mit religiös-kulturell manifestierten Räumen der Herkunft und der Zuwanderung. Gerade in den Beiträgen zu kultureller Identität wird ein ontologisch-dualistisches Verständnis von eigenen und fremden Kulturräumen sichtbar, das zwar intrakulturelle Differenz deutlich macht, aber interkulturelle Differenz reproduziert.
Angela Poppitz vollzieht am konsistentesten eine getrennte Betrachtung eines absolutistischen und relationalen Raummodells und der parallelen Prozesse einer Enträumlichung und Verräumlichung in ihrem Beitrag zu neuen Organisationsformen der Arbeit. Sie untersucht auf Basis von Interviews mit Zugreisenden die zunehmende Nutzung der Bahnreisezeit als Arbeitszeit und beschreibt die Umdeutung des Zugabteils von einem Zwischenort des Reisens in einen öffentlichen Arbeitsort. Durch diese Neubewertung können die veränderten Anforderungen an Erwerbsarbeit und Mobilität verbunden und eine Entgrenzung des Arbeitsplatzes ermöglicht werden (S. 69).
Die Auseinandersetzung von GeographInnen mit der "Raumfalle des spatial turn" wird im Sammelband nicht aufgegriffen. Lippuner/Lossau haben diese prägnant kritisiert, indem sie deutlich machen, dass der Verweis auf einen spatial turn zum einen den Eindruck erweckt, als sei die räumliche Dimension sozialer Wirklichkeit zuvor nicht problematisiert worden und zum anderen, es gäbe nun keine raumvergessene Sozialwissenschaft mehr. "Auch die aktuelle Diskussion von Raumfragen neigt dazu, Gesellschaft mit Physischem (Raum) zu verknüpfen und dabei Produkte sozialer Praktiken in scheinbar natürliche ‚geographische Gegebenheiten' zu verwandeln" (Lippuner/Lossau 2004, S. 48). Der Raum wird als konstruiert entlarvt und dennoch allzu oft als Erklärungsgröße für soziale Ordnungen herangezogen. Wie so oft in kulturwissenschaftlichen Publikationen werden Referenzen zur raumkritischen Debatte aus der Geographie wie z. B. von E. W. Soja, D. Gregory, S. Pile oder D. Massey vernachlässigt. Lediglich David Harveys Beträge zur Verdichtung von Raum und Zeit in der Postmoderne finden Berücksichtigung.
Raum und Körper werden von den HerausgeberInnen verstanden als "durch vieldeutige Wahrnehmungen und komplexe Bedingungen konstituiert" (S. 10). Aussagen über den Raum oder den Körper seien daher nicht möglich, sondern müssen als Bedingungen und Ergebnis menschlichen Handelns untersucht werden. Die Mehrheit der Beiträge beschäftigt sich jedoch entweder mit der Entgrenzung von Räumen oder von Körpern. Die Wechselwirkung von Körper- und Raumkonstruktion wird nur von einzelnen AutorInnen thematisiert. Stefan Thomas diskutiert die neue Armut und soziale Ungleichheit der spätmodernen Gesellschaft und greift die Argumente einer Ökonomisierung des Sozialen und einer Individualisierung von Armutsrisiken auf. Mit dem Begriff "Embodiment" weist er nach, "dass der soziale Ausschluss von einem Subjektivierungsprozess getragen ist, über den soziale Benachteiligung internalisiert wird [und dass] durch diese soziale Praxis auf räumliche Ausgrenzungsstrategien verzichtet werden kann" (S. 38). Wer sich konzeptionell vertiefend mit den kulturellen Praktiken der Co-Konstitution von Körper, Raum und Welt auseinandersetzen will, wird durch raumtheoretisch fundiertere Publikation der Geographie (Strüver 2005) oder Wissenschaftsgeschichte (Höhler 2005) besser bedient.
 Am unschärfsten bleibt der Begriff "Welt". Er fungiert als omnipräsenter Kontext für Raum- und Körperkonstitutionen, deren zentrale Transformationsimpulse an Globalisierungsprozessen geknüpft sind. "Imperiale Kulturen sind also bestrebt, die von ihnen selbst erzeugten Entgrenzungen des Staatskörpers wie auch der individuellen Körperlichkeit zugunsten von künstlichen Abgrenzungen zu verdrängen" (S. 266). Die benannten Globalisierungsprozesse reichen von internationaler Migration über globalisierte Bildsprache bis zum globalen Trend der Privatisierung öffentlicher Räume. Zwei Fragen ziehen sich entsprechend durch den Sammelband: Welche Körper und Räume bringt die Globalisierung hervor? Welche veränderten Machtmechanismen sind mit der ökonomischen und politischen Globalisierung verbunden?
In der knappen Einleitung der HerausgeberInnen wird außerdem ein gesellschaftskritischer Anspruch der Publikation formuliert. Die Beiträge "vereint ein kritisch-fragender Zugang auf Prozesse der Verräumlichung und Verkörperung und eine Bewertung ihrer Effekte" (S. 10). Diesem gesellschaftskritischen Anspruch kommen am deutlichsten die Beiträge nach, die sich mit der Verwobenheit von Herrschaftssystemen auseinandersetzen. So arbeitet Manfred Sing in seinem Beitrag die sich überschneidenden Effekte von Rassismus und Sexismus heraus sowie deren Einschreibung in gesellschaftliche Institutionen.
Als Geographin wünscht man sich bei der Lektüre einen Diskussionsband, der sich stringent mit Raumkonzeptionen auseinandersetzt und muss sich mit einem Sammelband zufrieden geben, der auf eine Perspektiven- und Themenvielfalt setzt. Eine Einleitung, die das Feld konzeptionell absteckt, und ein Schlusskapitel, das den erkenntnistheoretischen Mehrwert der Einzelbeiträge zusammenführt, hätten dem Sammelband gut getan. So erfüllt er eher den Zweck der Ergebnissicherung von Einzelbeiträgen. Dennoch: Trotz der Breite der verwendeten Raumbegriffe stellt "Raum. Körper. Welt" eine stimulierende Lektüre dar. Es lohnt, sich auf das ganze Buch einzulassen und nicht nur einzelne Beiträge auszuwählen. Auf diese Weise lassen sich Einblicke in die Raumdebatte der deutschsprachigen cultural studies und Anregungen für die Anschlussfähigkeit der Raum-Körper-Welt-Debatte in der Geographie gewinnen.

Literatur
Höhler, S. und Schröder, I. (2005): Welt-Räume. Geschichte, Geographie und Globalisierung seit 1900. Frankfurt am Main.
Strüver, A. (2005): Macht Körper Wissen Raum? Ansätze zu einer Geographie der Differenzen. Wien.
Lippuner, R. und Lossau, J. (2004): In der Raumfalle. Eine Kritik des spatial turn in den Sozialwissenschaften. G. Mein und M. Rieger-Ladich (Hrsg.): Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien. Bielefeld. S. 47-63.
Autorin: Sybille Bauriedl

Quelle: Geographische Zeitschrift, 96. Jahrgang, 2008, Heft 1 u. 2, Seite 121-123