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Kategorie: Rezensionen

Eberhard Rothfuss und Werner Gamerith (Hg.): Stadtwelten in den Americas. Passau 2007  (Passauer Schriften zur Geographie 23). 167 S.

"Stadtwelten in den Americas" ist ein Sammelband mit zwölf Beiträgen, von denen sich fünf mit ausgewählten Aspekten lateinamerikanischer Städte, fünf mit Aspekten US-amerikanischer Städte und einer mit der aktuellen lateinamerikanischen Präsenz im spanischen Madrid beschäftigt. Der erste kurze Beitrag des Sammelbandes von den beiden Herausgebern Eberhard Rothfuss und Werner Gamerith versucht schließlich, die einzelnen Texte zusammenzubinden und einzuordnen.

In dieser Einführung vermitteln Eberhard Rothfuss und Werner Gamerith dem Leser, dass es sich bei den Beiträgen einerseits um die schriftliche Fassung von Vorträgen zum 55. Deutschen Geographentag in Trier und andererseits um Vorträge zu einer Jahrestagung des Arbeitskreises Nordamerika handelt. Gleichzeitig versuchen die beiden Herausgeber an dieser Stelle, dem Sammelband mit der neuen Kulturgeographie eine weitere inhaltliche Klammer zu geben, die über den gemeinsamen räumlichen Bezug aller Beiträge hinausgeht. Ihnen ist aber durchaus bewusst, dass nur ein Teil der Beiträge auch tatsächlich dieser Forschungsrichtung zuzurechnen ist.
Zwei Beiträge des Sammelbandes haben zunächst den Anspruch, jeweils einen Überblick über den Stand der geographischen Stadtforschung zur lateinamerikanischen bzw. zur US-amerikanischen Stadtentwicklung zu geben. Veronika Deffner und Ernst Struck leisten dies für die lateinamerikanische Stadt bzw. Werner Gamerith für die US-amerikanische Stadt. Im Vergleich dieser beiden übergreifenden und lesenswerten Beiträge zeigen sich deutliche Unterschiede im Umgang mit den Ansätzen der neuen Kulturgeographie, auf die in der Einleitung so ausdrücklich verwiesen wird. So spielt dieser Forschungsansatz bei den jüngeren deutschsprachigen Arbeiten über lateinamerikanische Städte bisher keine Rolle, wie Deffner und Struck in ihrer systematischen Aufarbeitung und Strukturierung der deutschsprachigen geographischen Forschungserträge zeigen. Vielmehr ist es in den vergangenen Jahren für den Süden des amerikanischen Kontinents in einer eher akteurzentrierten Handlungsforschung vor allem um die beiden Aspekte der Fragmentierung und der Megastädte gegangen, wobei die beiden Autoren kritisch anmerken, dass dabei die Perspektive der marginalisierten Gruppen in den jüngeren Forschungsarbeiten zu kurz gekommen sei. Gleichzeitig haben sich diese Forschungsarbeiten aber deutlich von der früher für die Beschäftigung mit der lateinamerikanischen Stadt so dominanten Modellbildung gelöst und damit das Forschungsspektrum dankenswerterweise auch um angewandte Fragestellungen erweitert.
Eine akteurzentrierte Stadtforschung steht in dem zweiten Überblicksbeitrag zur US-amerikanischen Stadtforschung nicht ausdrücklich im Fokus des Interesses. Vielmehr geht es Werner Gamerith bewusst um einen eher kulturgeographischen Zugang. In einer ungewöhnlichen Gliederung ordnet er die vielfältigen Forschungserkenntnisse der US-amerikanischen, kulturgeographisch ausgerichteten Stadtgeographie der letzten 20 Jahre sieben großen ausgewählten amerikanischen Zentren zu und versucht auf diese Weise, die Fülle der Literatur zu systematisieren und wichtige Forschungsströmungen herauszudestillieren. New York steht bei ihm für Ansätze der historischen Stadtforschung, Chicago für die Weiterentwicklung der klassischen Segregationsforschung, Detroit für Forschungen zum Zusammenhang von Mobilität und Stadtentwicklung, Memphis für die eher raren Ansätze einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Stadtgeographie, San Francisco für sozialgeographische Ansätze einer welfare bzw. radical geography, Los Angeles für die Global City-Forschung und schließlich Las Vergas für Arbeiten, die sich mit der postindustriellen imaginierten Stadt auseinandersetzen. Am Ende könnte sich der Leser allerdings fragen, wie Werner Gamerith wohl die deutschsprachige Stadtgeographie auf diese Weise systematisieren würde.
 Neben dem Überblicksbeitrag von Deffner und Struck beschäftigen sich die Autoren Souza, Rothfuss, Coy und Ammerl mit verschiedenen Phänomenen der lateinamerikanischen Stadt. Dem brasilianischen Soziologen Jessé Souza geht es um generelle Wertvorstellungen der brasilianischen Gesellschaft. Er konstatiert die mangelnde Bereitschaft, eine breite Unterschicht in den brasilianischen Alltag gesellschaftlich einzubeziehen und beobachtet "vorreflexiv erzeugte und vorreflexiv  von allen verstandene Regeln", die die gesetzlich formulierten Normen in seinem Land konterkarieren. Der Beitrag regt trotz der teilweise eigenwilligen soziologischen Argumentation zum Nachdenken an, weil er die gesellschaftliche Situation des Landes aus der Sicht eines brasilianischen Wissenschaftlers beschreibt. Ebenfalls um Brasilien geht es im Beitrag von Eberhard Rothfuss. Sehr detailliert wird hier der Sanierungsprozess in der historischen Altstadt von Salvador da Bahia beschrieben. Rothfuss will dem Leser vermitteln, dass die alleinigen Nutznießer dieser Sanierung die Touristen sind und versucht etwas vage, diese Beobachtung im Gentrifizierungsdiskurs sozialphilosophisch zu deuten. Klarer scheinen hier die Botschaften eines weiteren Beitrags zur brasilianischen Stadtentwicklung. Kenntnisreich stellt Martin Coy die schwierigen Probleme der Fragmentierung von São Paulo in den letzten Jahrzehnten dar und analysiert die aktuelle Politik der innerstädtischen Erneuerung an Hand verschiedener Konfliktlinien der beteiligten Akteure. Dabei gelingt es ihm, die lokale Stadtpolitik auch in nationalen Entwicklungslinien Brasiliens einzuordnen. In eine ganz andere Richtung geht schließlich der Beitrag von Thomas Ammerl, der die Wahrnehmung stadtökologischer Probleme durch die Bevölkerung Havannas thematisiert. Im letzten Beitrag von Thomas Janoschka wird Lateinamerika nicht ‚vor Ort' thematisiert. Vielmehr bilden hier die rund 400.000 lateinamerikanischen Migranten in Madrid Ansatzpunkt für einige Gedanken zur Identität und Transkulturalität.
Die vier Fallstudien zur US-amerikanischen Stadtentwicklung stammen von den Autoren Schöps, Brandl und Frantz, Bitter und Fröhlich und Keller. Die beiden ersten Beiträge von Andreas Schöps und dem Autorenteam Kai Brandl und Klaus Frantz führen in den Südwesten der USA und behandeln aktuelle Phänomene noch vergleichsweise junger Städte. Zum einen geht es um die Entwicklung und Bedeutung der Gated Communities in kleineren Gemeinden im südlichen Texas, zum anderen um sozialräumliche Polarisierungen in der rasant wachsenden Millionenstadt Phoenix. Dabei werden in diesem Beitrag nicht nur die Probleme der hispanischen Bevölkerung herausgearbeitet, sondern auch die ungewöhnliche Entwicklung der Stadt Phoenix in der Wüste Arizonas in prägnanter Weise vorgestellt. In diesen beiden Fallstudien werden jeweils spezifische Trends der US-amerikanischen Stadtentwicklung problematisiert, die im Südwesten der USA eine besondere Rolle spielen und die in dieser Form in Mitteleuropa derzeit kaum vorstellbar sind. Die beiden anderen Beiträge zur US-amerikanischen Stadt sind eher der neuen Kulturgeographie zuzuordnen. So gehen Florian Bitter und Hellmut Fröhlich Bildern zur Stadt New York nach, die durch Filme produziert werden. Es wird zum einen in der Beschäftigung mit den drei ausgewählten Spielfilmen ‚Manhattan', ‚Do the right thing' und ‚Email für dich' deutlich, wie unterschiedlich diese Stadt als Kulisse behandelt wird, und es wird zum anderen klar, wie solche filmischen Bilder die Vorstellungen über diese Stadt in unterschiedlicher Weise beeinflussen. New York ist hier allerdings sicherlich ein besonders lohnenswerter Untersuchungsraum, und eine Untersuchung dieser Art würde für Dallas oder Denver keine entsprechenden Ergebnisse liefern können. Außerdem beschäftigt sich Nadine Keller mit der Entwicklung des kleinen Ortes Walnut Grove in Minnesota, in dem die bekannte amerikanische Schriftstellerin Laura Ingell gelebt hat und der in ihren Büchern eine wichtige Rolle spielt. Der Autorin geht es darum zu verdeutlichen, wie dieses Phänomen dazu beigetragen hat, dass dieser Ort im Laufe der Jahre zu einem touristischen Ort wurde.
Insgesamt bietet der Sammelband eine bunte Palette von Beiträgen zur latein- und US-amerikanischen Stadtgeographie mit recht unterschiedlichen Ansätzen. Um zukünftig einen interdisziplinären Austausch zu fördern und die teilweise interessanten Ergebnisse eines solchen Sammelbandes auch einer breiteren Fachöffentlichkeit außerhalb der Geographie zugänglich zu machen, wäre es für das Fach eine Anregung, über alternative Publikationsmöglichkeiten zu den institutseigenen Schriftenreihen nachzudenken. Denn es wäre wünschenswert, dass die Ergebnisse eines solchen Sammelbandes einem möglichst breiten Kreis von Lesern zugänglich würden, die an der Entwicklung der amerikanischen Städte Interesse haben und denen die Passauer Schriftenreihe nicht bekannt ist.
Autor: Claus-C. Wiegandt

Quelle: Erdkunde, 62. Jahrgang, 2008, Heft 2, S. 180-181