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Kategorie: Präsentationen

Gertrud Lehnert: Über Raltäume, Orte und Gefühle

Zur Interaktion von Menschen und Raum
Ständig reagieren wir auf Räume und Orte, oft ohne genau zu wissen, warum - manchmal gar, ohne es überhaupt zu bemerken. Warum fühlt man sich spontan wohl in der einen Wohnung, in der einen Landschaft, in der einen Stadt, und eine andere stößt ab? Haben Räume und Orte eine Aura, und wenn ja, warum? Wie partizipieren sie an Stimmungen und Gefühlen? Was geschieht in Räumen, und was tun sie selbst? Wie setzt sich Vergangenheit in ihnen fest, und in welchen Spuren lässt sie sich vernehmen? Wie können Räume Gefühle vermitteln - haben sie selbst welche?

 

Die Gefühle, die Menschen in Räumen haben bzw. die sie Räumen zuschreiben, sind keineswegs nur die von John Ruskin im 19. Jahrhundert "pathetic fallacy" genannte Projektionen der eigenen Gefühle auf die Umgebung. Raum "agiert" vielmehr eigenständig. Menschen interagieren mit Raum und Raum mit Menschen. (Raum ist hier zunächst in einem sehr weiten Sinne gemeint und umfasst Räume und Orte, Raumwahrnehmungen, Raumerfahrungen, Raumgestaltungen, Raumvorstellungen ...)

Geht man davon aus, dass Menschen räumliche Geschöpfe sind (Ströker, Schmitz), dass Raum ebenso wie Gefühl dynamisch ist und dass beider "Schnittstelle" im Körper - bzw. im Leib - liegt, ergibt sich die Hypothese, dass Raum und Gefühl unauflöslich verbunden sind, dass Räume Gefühle generieren und Gefühle auf die Konstitution von Raum Einfluß nehmen.

Aus dieser Grundidee entstand zuerst eine kulturwissenschaftliche Tagung zum Thema (1) und dann ein Buch: Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung (2).

Raum und Emotion
Sowohl Raum als auch Emotionen erleben seit längerem einen regelrechten Boom in der kulturwissenschaftlichen Forschung. Zusammengebracht wurden sie bislang nicht, wenn man von den Arbeiten des Phänomenologen Hermann Schmitz absieht, die zu den wichtigsten Grundlagen für die Arbeit mit diesem Thema gehören. Schmitz geht davon aus, dass Raum leiblich erlebt wird, weil Leib und Raum analog sind. Demnach konturieren sich Raum und Leiblichkeit wechselseitig; Weite und Enge, Nähe und Ferne sind leibliche Erfahrungen, und umgekehrt ist Raum strukturell leiblich, "d.h. seine Strukturen entsprechen den leiblichen oder ergeben sich gar aus diesen." (3) Menschliche Orientierung entstehe aus den ursprünglichen Erfahrungen und werde erlebt als Weiteraum, Richtungsraum und Ortsraum. Auch Gefühle, so Schmitz, seien "räumlich mit Weite und Richtung" (ebda., 279). An anderer Stelle erklärt er, Gefühle seien in den Raum ergossene Atmosphären (4). Das Messen des Raums ist demgegenüber eine kognitive, dem Leiblichen entfremdete Tätigkeit.

Es ist also, nimmt man das ernst, nicht nur eine Frage der per deifinitionem auf Wirkung bedachten Gestaltung von Orten und Dingen im Raum, wenn Menschen emotionale Antworten auf Räume geben. Freilich hat die Gestaltung - Architektur, Design, Landschaftsgestaltung etc. - einen immensen Einfluß darauf, aber dieser Prozess spielt sich auf jener Ebene ab, die für Schmitz bereits die dem Leiblichen entfremdete ist, nämlich die der des messbaren und gestaltbaren Ortsraums.

Gestaltete Räume könnte man zur Spezifizierung gegenüber dem allgemeineren, abstrakteren Raum als Orte bezeichnen. Sie steuern die Aufmerksamkeit und provozieren bestimmte Antworten, davon leben immerhin ganze Industriezweige. Gestaltung ist mithin unzweifelhaft von entscheidender Bedeutung für die Interaktion von Mensch und Raum, was sich nicht zuletzt zeigt, wenn Raum zum Gegenstand künstlerischer, literarischer oder filmischer Darstellung wird, also letztlich zum Zeichenträger medialisiert und eingesetzt wird.

Freilich lösen auch Räume, die nicht gestaltet wurden, Naturräume also, Stimmungen und Gefühle aus. Man denke beispielsweise an die neuen, scheinbar spontanen Naturerfahrungen des 18. Jahrhunderts und die Entdeckung des Erhabenen bestimmter Naturerscheinungen, z.B. des Gebirges. Hier schien sich ein Numinoses zur Geltung zu bringen. Manche Orte werden als heilig verehrt, lange bevor es Sakralbauten gibt. Wie lässt sich das erklären? Mit ästhetischen Analysen kommt man zwar sehr weit in den Erklärungen, warum das so ist, aber manchmal nicht weit genug; es bleibt dann ein "je ne sais quoi", das sich dem Rationalen entzieht und das wir im Buch letztlich auch nicht klären konnten und vielleicht auch nicht wollten. Aber die gemeinsame Arbeit sollte uns und anderen Anstöße geben, diese Fragen weiter zu denken.

Zur Terminologie: Raum, Ort, Erlebnisraum
Ich schlage im Bezug auf Augé, Lefebvre (5) und auch Schmitz - bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Argumentationen - vor, als Ort die materiell oder durch Zuschreibungs-Prozesse umgrenzten, oft messbaren, "verwurzelnden" Orte im Raum zu bezeichnen, während Raum ein abstrakter Begriff ist, der sich konstituiert durch Körper, die platziert werden, Bewegung und schließlich Synthese (6). Orte sind einigermaßen stabil, aber sie können leicht durch den Gebrauch verändert werden, so dass durch Handlungen und Imaginationen ephemere neue Räume entstehen: So kann im Warenhaus durch entsprechende Dekoration ein orientalischer Salon entstehen (wie in Emile Zolas großem Warenhausroman "Au Bonheur des dames" 1882 beschrieben), oder im Theaterraum entsteht für die Dauer der Aufführung der Wald von Arden aus Shakespeares "As You Like It". Diese "Erlebnisräume" (7) bieten ihre eigenen Atmosphären an, denen die Zuschauenden begegnen. Atmosphären, so Gernot Böhme (8), entstehen in der Begegnung von Menschen und Dingen oder Orten; sie gehören keinem von beiden Seiten ganz an, sind aber auf beide angewiesen, um sich zu realisieren. Sie sind, anders als Benjamins Aura, nicht auf Kunst beschränkt, sondern beziehen auch moderne, industriell gefertigte Produkte ein, sie können also in vielen Kontexten zustande kommen.

Noch einmal: Emotion
Emotionen/Gefühle: in der Kulturwissenschaft werden die Begriffe oft synonym verwendet. Man kann aber auch mit dem Neurologen Antonio Damasio Emotion als körperliche Regung verstehen, die von den Gefühlen in die Sprache des Geistes übersetzt werden (9). Die Kooperation mit den Naturwissenschaften, speziell der Neurologie, ist für die Kulturwissenschaften fruchtbar, solange sie nicht der Gefahr erliegen, in einer quasi-positivistischen Wende z.B. Emotionen so stark in neurologischen Prozessen zu verankern (10), daß sich die kulturwissenschaftliche Emotionsforschung (11) in eine gegenläufige Bewegung zu aktuellen Konzepten der performativen Hervorbringung menschlicher Identitäten, Affekte und Verhaltensweisen setzt. Denn die Fähigkeit zu Gefühlen mag angeboren sein, dennoch müssen wir Gefühle erlernen. D.h., letztlich sind Gefühle kulturell determiniert: was wir fühlen, wie wir es fühlen und wie wir es ausdrücken. An Damasios Ausführungen ist mir in diesem Zusammenhang wichtig die körperliche Verankerung des Empfindens, die sich glänzend mit den phänomenologischen Theorien verbinden läßt.


Das Buch
Die Idee des Buches war, sich der Beziehung von Raum/Ort und Gefühl in disziplinär und thematisch völlig unterschiedlichen Perspektiven anzunähern. Es geht um Raumtheorie oder um konkrete Orte wie Las Vegas mit seiner Erlebnisarchitektur, um Großstadtstraßen, Warenhäuser oder Bibliotheken, aber ebenso um Raum und Orte in Film, Literatur und Computerspiel, generieren die nicht mehr so neuen Medien doch längst immer wieder neue Räume und Raumerfahrungen. Aus dieser Aufzählung ist ersichtlich, dass im Mittelpunkt eher konkrete Orte stehen, also gestalteter Raum, der wiederum in anderen Medien verhandelt wird. In ihrer Gesamtheit bilden die Aufsätze eine Annäherung an das überaus komplexe Thema, mit vielen Ansätzen zur Beschreibung, Analyse und Deutung. So haben wir zwar nicht die Erklärung gefunden für das, was Raum tut, aber viele Perspektiven, die hoffentlich anregen zu weiterer Reflexion - und das ist am Ende dem Thema angemessener als jede verbindliche Antwort, die das komplexe Phänomen doch nur reduzieren würde.

Anmerkungen
(1) Universität Potsdam, Juni 2009 (http://www.uni-potsdam.de/fileadmin/projects/avl/Prof.Dr.Lehnert/Raumtagungs-Progr._Folder-Juni_2009.pdf)
(2) Lehnert, Gertrud (Hg) 2011: Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Bielefeld. Transcript. (Inhaltsverzeichnis und Leseprobe: http://www.transcript-verlag.de/ts1404/ts1404_1.pdf)
(3) Schmitz, Hermann (1995): Choriologie (Der Raum). In: Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn: Bouvier Verlag (2. Aufl.) S.  275-320; hier: 278.
(4) Schmitz, Hermann (2000): "Die Verwaltung der Gefühle in Theorie, Macht und Phantasie". In: Claudia Benthien/Anne Fleig/Ingrid Kasten (Hg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Köln: Böhlau, S. 42-59, 42.
(5) Augé, Marc (1994): Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. A.d. Französ. v. Michael Bischoff. Frankfurt/M.: Fischer Verlag; Lefebvre, Henri (2006): Die Produktion des Raums (1974). In: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. Jörg Dünne und Stephan Günzel. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 330-342.
(6) Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
(7) Lehnert, Gertrud (2011): "Raum und Gefühl." In: Gertrud Lehnert (Hg.): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Bielefeld: transcript Verlag, 9-25; hier: 12.
(8) Zur Atmosphäre s. Böhme, Gernot (1995): Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt/M.: Suhrkamp; Böhme, Gernot (2001): Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München: Suhrkamp; Böhme, Gernot (2006): Architektur und Atmosphäre. München: Fink.
(9) Damasio, Antonio R.  (2005) [Orig.2003]: Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen. Aus dem Englischen von Hainer Kober, Berlin: List, 37.
(10) Vgl. etwa Damasio , Antonio R.: Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen, Berlin 2003; ders.; Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, Berlin 2004; Roth, Gerhard: Aus der Sicht des Gehirns, Frankfurt 2003.
(11) Für die beispielhaft genannt seien: Menninghaus, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999; Rötzer, Florian (Hg.): Große Gefühle (=Kunstforum International, Bd. 126, Ruppichteroth 1994; Benthien, Claudia , Fleig, Anne, Kasten, Ingrid (Hgg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Köln/Weimar 2000; Eming, Jutta: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12.-16. Jahrhunderts, Berlin/New York: De Gruyter 2006; Ottmar Ette, Gertrud Lehnert (Hgg.): Große Gefühle. Ein Kaleidoskop, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2007.

 

Prof. Dr. Gertrud Lehnert
Universität Potsdam
Institut für Künste und Medien
Professur Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
Am Neuen Palais 10
14469 Potsdam


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