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Kategorie: Rezensionen

Henning Melber (Hg.): Transitions in Namibia. Which changes for whom? Uppsala 2007. 262 S.

Wer den Human Development Index (HDI) heranzieht, um sich nach dem Wohlergehen der Namibier zu erkundigen, wird zwar nicht gerade in Jubelschreie ausbrechen, er wird aber auch zu der Erkenntnis gelangen, dass es um Namibia im innerafrikanischen Vergleich so schlecht nicht bestellt ist. In der HDI-Rangliste aller Staaten liegt Namibia knapp hinter Botsuana zwar nur auf dem 125. Platz, aber deutlich vor einem Land wie Ghana, das in den letzten Jahren zu einer Art "afrikanischem Musterland" avanciert ist.

Grund zur Beunruhigung gibt hingegen der Gini-Koeffizient, der die Einkommensverteilung misst, denn kein Land hat einen höheren Gini-Koeffizienten als Namibia. Will heißen: In keinem anderen Land der Welt herrscht eine größere Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Kritiker des Gini-Koeffizienten mögen einwenden, dass Namibia in den letzten Jahren mit stattlichen Wachstumsraten um 4 % aufwarten konnte, was zu einem deutlichen Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens geführt habe. Dies darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass dieser Aufschwung an den meisten Namibiern vorbei gegangen ist. Die Regierung der South West Africa People's Organization (SWAPO) muss sich daran messen lassen, wie sie es seit Übernahme der Regierungsverantwortung 1990 geschafft hat, für Umverteilung zu sorgen und mehr Gerechtigkeit in der namibischen Gesellschaft zu schaffen, denn mit diesem Ziel war sie mit dem Ende der Apartheid angetreten, um den überfälligen gesellschaftlichen und politischen Transformationsprozess einzuleiten.
Der Herausgeber und die anderen Autoren des Werkes kommen zu dem Ergebnis, dass viele Ziele nur halbherzig verfolgt wurden und gesellschaftliche Konfliktlinien im heutigen Namibia an Schärfe gewonnen haben. Sie zeichnen anhand konkreter Beispiele die Widersprüche in der namibischen Gesellschaft nach und benennen politische, wirtschaftliche und soziale Defizite in einem Staat, der 18 Jahre nach der Unabhängigkeit noch nach Orientierung sucht. Transitions in Namibia ist gedacht als Fortsetzung des 2003 erschienenen Bandes Re-examining Liberation in Namibia, der sich vor allem mit der politischen Kultur nach der Unabhängigkeit auseinander setzte. Nun also wird der gesellschaftliche Wandel mit all seinen Herausforderungen thematisiert - Herausforderungen, denen die namibischen Eliten nach Meinung der Autoren (noch) nicht gewachsen sind.
So illustrieren Herbert Jauch, Volker Winterfeldt und Gregor Dobler an Beispielen aus der namibischen Arbeitswelt, wie es der namibischen Regierung nur schleppend gelingt, für einen sozialen Ausgleich in der Gesellschaft zu sorgen und wie hilflos sie auf Chancen und Risiken der Globalisierung reagiert. Volker Winterfeldt zeigt am Fall des malaysischen Textilherstellungsunternehmens Ramatex auf, wie es einem ausländischen Investor gelingen kann, die Verwundbarkeit der namibischen Regierung auszunutzen und selbst lange ausgehandelte Sonderkonditionen noch weiter zum eigenen Vorteil zu verändern, ohne dass die Regierung einer zunehmenden Ausbeutung der Arbeiter Einhalt gebieten kann. Denn auch wenn Ramatex ohnehin fast jegliche ethische Prinzipien außer Acht ließ, konnte das Unternehmen zusätzlich jederzeit damit drohen, das Land ganz zu verlassen und damit für einen nicht unerheblichen Beschäftigungsschwund zu sorgen. Wie real diese Drohung war, wurde nun im März dieses Jahres bekannt: Ramatex schloss seine Niederlassung in Namibia, ca. 3.000 Beschäftigte verloren ihren Arbeitsplatz und Ramatex wird sich in Zukunft ein anderes Betätigungsfeld suchen, auf dem noch größere Gewinne zu erzielen sind.
Wie Herbert Jauch in seinem Beitrag über die namibische Gewerkschaftsbewegung beschreibt, trägt auch die Schwäche der Gewerkschaften dazu bei, dass sich die Durchsetzung von Arbeiterrechten und Arbeitermitbestimmung nach wie vor schwer verwirklichen lässt. Die Nähe des größten Gewerkschaftsdachverbands NUNW (National Union of Namibian Workers) zur SWAPO sei ebenso hinderlich wie der nicht vorhandene Einfluss der Gewerkschaften im informellen Sektor. Der von der NAFAU (Namibia Food and Allied Workers Union) im Oktober 2006 organisierte Streik gegen die Arbeitsbedingungen und die geringe Entlohnung bei Ramatex fand jedoch großen Zuspruch, so dass Herbert Jauch zu dem Ergebnis kommt, dass die Gewerkschaften im Kampf für mehr sozioökonomische Gerechtigkeit eine wichtige Rolle spielen können, dafür aber noch viele strukturelle Defizite überwunden werden müssen.
Die Folgen der Globalisierung und der in vielen Bereichen neoliberalen Wirtschaftspolitik der namibischen Regierung thematisiert auch Gregor Dobler. "Old ties in new shackles?" fragt er in seinem Beitrag über den Zustrom der Chinesen auf den namibischen Arbeitsmarkt, den er am Beispiel des nordnamibischen Grenzortes Oshikango deutlich macht. Im Mittelalter waren "shackles" (deutsch: Schäkel) Handfesseln, und wer den wachsenden chinesischen Einfl uss auf dem afrikanischen Kontinent in den letzten Jahren beobachtet, bei dem wird der Gedanke an Schäkel noch zusätzlich keine besonders angenehmen Gefühle hervorrufen. In Namibia kann zwar konstatiert werden, dass mit den Chinesen bisher noch keine großen Verträge über Rohstoffe abgeschlossen worden sind. Jedoch zeigt sich in Oshikango, dass die Omnipräsenz chinesischer Gewerbetreibender viel Unmut in der Bevölkerung erzeugt. In vielen Gegenden Namibias und Südafrikas sind vor allem einheimische Baufirmen der chinesischen Konkurrenz nicht gewachsen. Gregor Dobler stellt aber auch fest, dass die Position der Chinesen in Oshikango nicht so weit gefestigt ist, dass nicht auch bei ihnen eine Umorientierung in andere Bereiche stattfinden müsse, um weiter Geld zu verdienen. Ebenso sei auch ein gestiegenes Interesse der Chinesen an Entwicklungsprojekten in Afrika erkennbar. Um eine zukünftige Ausbeutung zu vermeiden, sei aber die namibische Regierung gefordert, die entsprechenden Grundlagen zu schaffen.
Besondere Beachtung findet in Transitions in Namibia auch das Thema der Gleichstellung der Frau. In Beiträgen über die Gleichberechtigung im Familienrecht und über die Konstruktion von Sexualität weisen Dianne Hubbard und Suzanne LaFont darauf hin, dass die sexuellen Rechte der Frau in weiten Teilen der Gesellschaft noch weitgehend unterdrückt werden. So habe es bis zum Jahr 2005 gedauert, bis die männlichen Mitglieder der Nationalversammlung anerkannten, dass es in der Ehe Vergewaltigungen gebe. Viele traditionelle Vorstellungen tragen außerdem dazu bei, dass selbst eine formelle Gleichheit der Frau in vielen Bereichen nicht dazu führt, dass sie sich in der Realität auch gleichberechtigt fühlen darf. Suzanne Le Font führt zudem an, dass Homosexualität in Namibia weiterhin ein absolutes Tabuthema darstellt. Dazu trugen vor allem auch die von Sam Nujoma immer wieder lancierten öffentlichen Hasstiraden gegen Schwule und Lesben bei.
Äußerst schwer wiegt der nach wie vor schwache Status der Frau gerade beim Umgang mit HIV/Aids. Lucy Edwards zeigt auf, dass viele Frauen aufgrund ihrer ökonomischen Not gezwungen sind, sich zu prostituieren oder sich auf Beziehungen zu Männern einzulassen, die sie als "sugar daddies" bezeichnet. Oft geht es schlicht um Sex zum Überleben. Die zunehmende Urbanisierung vor dem Hintergrund einer traditionellen sozio-kulturellen Konstruktion von Sexualität verschärft diese Problematik.
Während am Beispiel des namibischen Arbeitsmarktes und der Gender- Problematik strukturelle Defizite erkennbar werden, für die die namibische Regierung bislang Lösungen schuldig blieb, lässt sich auch argumentieren, dass eine Stärkung der namibischen Zivilgesellschaft einen gesellschaftlichen Wandel herbeiführen kann. Ein Beispiel für das Entstehen einer zivilgesellschaftlichen Organisation beschreibt Mattia Fumanti. Er berichtet vom "Shinyewile Youth Club" in Rundu, der einen generationenübergreifenden Dialog mit der derzeitigen Machtelite anstrebt und dabei zu den alten SWAPO-Funktionären eine kritische Distanz behält. Der Youth Club wurde von einer jungen, erfolgreichen Schicht von Staatsbediensteten und Kleinunternehmern gegründet und versteht sich auch als Reaktion auf neu entstehende Konfliktlinien zwischen den Generationen. Bisheriger Höhepunkt des Clubs war die Organisation eines Geschichtssymposiums 2001, das die namibische Geschichte von der vorkolonialen Zeit bis zur Unabhängigkeit thematisierte.
Einzuwenden bleibt, dass auch eine solche neu geschaffene Institution den Marginalisierten nur schwer die Möglichkeit bietet, ihren Problemen Gehör zu verschaffen und an den strukturellen Problemen des Landes wenig ändert. So ist es wichtig, dass auch namibische Wissenschaftler zu Wort kommen. Während Bennett Kangumu Kangumu zusammen mit Wolfgang Zeller die Entwicklungen im Caprivi-Streifen unter die Lupe nimmt, widmet sich Phanuel Kaapama der Landreform in Namibia und fragt: "What happened to liberation struggle rhetoric?" Er stellt fest, dass das Prinzip des "willing seller, willing buyer" bisher nicht zu einer gerechten Umverteilung des Landes geführt habe, diese aber zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens unerlässlich sei. Bei der bisher durchgeführten Umverteilung von Land sorgten zudem Korruption und Unzulänglichkeiten in der Verwaltung dafür, dass meist nur eine kleine Schicht, in der Regel urbanisierte schwarze Eliten, davon profitierten.
Which changes for whom also, und welche Hoffnung können die meist wenig optimistischen Beiträge für Namibias Zukunft geben? Wie der Titel sagt, geht es in Henning Melbers Werk um Übergänge, um Wechsel. Diese werden auf dem Arbeitsmarkt deutlich, aber auch beim nach wie vor schleppend voranschreitenden Dezentralisierungsprozess oder beim Versuch der Reintegration ehemaliger Kombattanten. Derlei Übergänge sind stets mit Gefahren, aber auch mit neuen Chancen verbunden. So gebührt dem vorliegenden Band ohne Zweifel das Verdienst, kritische Entwicklungen klar angesprochen zu haben. Manchmal wünscht man sich allerdings eine größere Klarheit über mögliche Alternativen zum bisher eingeschlagenen Weg. Oft gewinnt man den Eindruck, dass viele Probleme aufgrund der mangelnden Konsequenz der Regierung entstehen. Diese sollte 18 Jahre nach der Unabhängigkeit auch keineswegs mehr mit Samthandschuhen angefasst werden. Doch wie sollte konkret mit den Veränderungen in der globalisierten Welt umgegangen werden? Wie lässt sich die Zivilgesellschaft stärken, wie AIDS wirkungsvoller bekämpfen und vor allem wie kann man verhindern, dass die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird? Nach Re-examining liberation in Namibia und Transitions in Namibia könnte ein weiterer Band versuchen, Antworten auf diese Fragen zu finden.
Johann Müller

Quelle: Peripherie, 29. Jahrgang, 2009, Heft 113, S. 130-133