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Kategorie: Rezensionen

Axel Honneth: Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie. Frankfurt/M 2007. 239 S.

Dies ist nicht der erste Versuch einer "Reaktualisierung" (8) der Kritischen Theorie, den Honneth unternimmt. Seinen Ausgangspunkt hat dieses Projekt in einer Untersuchung über die "Bildung und Behauptung sozialer Macht" (Kritik der Macht, 1985, 7). Im Anschluss wendete sich Verf. rechtsphilosophischen, sozialpsychologischen und vernunfttheoretischen Überlegungen zu. Die Ergebnisse fließen nun in eine Interpretation der Kritischen Theorie ein, die Aufschluss über ihre "intellektuelle Erbschaft" (28) geben soll.

Im Mittelpunkt steht jetzt der ebenfalls früher entwickelte Gedanke einer "sozialen Pathologie der Vernunft": die Vorstellung, "dass ein geschichtlicher Bildungsprozess durch die gesellschaftlichen Verhältnisse auf eine nur praktisch zu behebende Weise entstellt worden ist" (30). Die praktische Wiederherstellung von Rationalität wird von einer bestimmten Haltung des Individuums sowie seiner Befähigung zur Teilnahme am demokratischen Willensprozess erwartet.
"In nichts" sei die Frankfurter Schule der heutigen Generation fremder als in der "geschichtsphilosophischen Begründung ihrer Gesellschaftskritik" (28f). Die Möglichkeit, gesellschaftliche Verhältnisse am "Leitfaden der Vernunft" (28) zu betrachten, stellt für Verf. den Kern Kritischer Theorie dar, den er zu retten versucht. Das ausgehend von Kant entwickelte Bild "unhintergehbarer Schwellen politisch-moralischen Fortschritts" (26) verbindet er mit einem Begriff von Vernunft als "konflikthaftem, vielschichtigem Lernprozess " (43). Daraus folgt die normative Idee eines in einer Gesellschaft bereits erreichten "Vernunftpotenzials" (33) bzw. der Möglichkeit einer "kooperativen Selbstverwirklichung " (38) der Subjekte. Dem entgegen stehen Formen der Verdinglichung wie das "rein am Tauschwert orientierte Handeln" (82) als zentrales Element in Adornos "Physiognomie der kapitalistischen Lebensform" (70). Solche "sozialen Pathologien" führe die Kritische Theorie auf eine "bloß noch instrumentelle" (82), mithin selbst ›pathologisch‹ deformierte Vernunft zurück. Zu dieser immanenten, von der je etablierten Rationalität ausgehenden Kritik der Gesellschaft kommt als "metakritischer Gesichtspunkt" (68) die ›Genealogie‹ hinzu, die gültige Normen daraufhin prüft, "ob sie in der sozialen Praxis überhaupt noch ihren ursprünglichen Bedeutungsgehalt besitzen" (69). Aus einer solchen, vernunfttheoretisch hergeleiteten Gesellschaftskritik ergäben sich für die "Erben der Kritischen Theorie" (56) die Aufgaben. Erstens gelte es die Möglichkeit und die Wege zur "Wiedergewinnung einer unzerstörten Rationalität" (53) neu zu formulieren. Zweitens müsse die Kritische Theorie einen "unausrottbaren Kern an rationaler Ansprechbarkeit der Subjekte" (55) nachweisen, an den ihre aufklärerische Botschaft sich sinnvoll richten könne.
Verf. vermutet ein solches "emanzipatorisches Interesse" (55) in einem psychischen "Leiden der Subjekte am Zustand der Gesellschaft" (51). Doch diese auf die gesellschaftlichen Verhältnisse bezogene Diagnose wird, angelehnt an Freud, auf eine bloß "intersubjektive" Begründung reduziert: auf die "Angst" (164) des Kleinkinds, durch eigene Triebregungen das Verhältnis zur ersten Bezugsperson zu gefährden. Diesem frühkindlichen Trauma könne durch eine "Arbeit des Erinnerns" begegnet, eine intakte Persönlichkeit durch einen selbstreflexiven Prozess der "Aneignung" (178) des Verdrängten (wieder) hergestellt werden. Franz Neumann und Alexander Mitscherlich werden bemüht, um eine auf diese Weise gewonnene individuelle Autonomie als Voraussetzung zur Teilnahme am demokratischen Willensbildungsprozess (180, 197) zu behaupten. Zudem könne durch die Einübung ("Habitualisierung") demokratischer Umgangsformen und eine damit einhergehende "Veralltäglichung vernünftiger Prozeduren" (nicht-pathologische) Rationalität verallgemeinert und eine "demokratische Sittlichkeit" (214) erreicht werden. Beide Ansätze bergen die Gefahr, die Emanzipation durch rationale, "kooperative Selbstverwirklichung" bloß individualistisch zu fassen. Zwar wird immer wieder eine fundierte Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse eingefordert, konkrete Handlungsperspektiven werden aber nur für eine individuelle Verarbeitung und Auflösung gesellschaftlicher Konflikte angeboten. Dazu kommt, dass der Rahmen, auf den diese Perspektiven normativ bezogen werden, gegen den eigenen Anspruch nicht auf seine "Aktualität und Tragfähigkeit" (Klappentext) geprüft wird: Das auf Habermas zurückgehende Modell der kommunikativen Vernunft und der demokratischen Öffentlichkeit wird als aktueller Stand gesellschaftlicher Rationalität implizit und damit kritiklos übernommen.
Es ist diese theoretische Vorentscheidung, verstärkt durch Honneths ›anerkennungstheoretische‹ Perspektive, die der Kritischen Theorie den Stachel nimmt. Das an Marx geschulte Verfahren der Gesellschaftskritik wird tatsächlich "aktualisiert" - die Arbeit an einem herrschaftskritisch einsetzbaren Vernunftbegriff, die Genealogie als kritische Methode sowie einige subjekttheoretische Überlegungen sind für eine zeitgenössische Kritische Theorie wichtige Elemente. Die Perspektive einer "demokratischen Sittlichkeit" wird jedoch völlig abgekoppelt von dem Gegenstand, der in der ›alten‹ Kritischen Theorie noch im Mittelpunkt stand: von den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen. Verf. sieht die Gefahr, dass "das Band zwischen Philosophie und Gesellschaftsanalyse endgültig zu zerreißen" (7) droht. Er selbst hat ein weiteres Beispiel dafür geliefert.  
Armin Kuhn

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 107-108