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Kategorie: Rezensionen

Jens Wissel: Die Transnationalisierung von Herrschaftsverhältnissen. Zur Aktualität von Nicos Poulantzas` Staatstheorie. Baden-Baden 2007. 229 S.

Abhandlungen über die Zukunft des (National-)Staates füllen mittlerweile Bibliotheken. Hintergrund ist, dass die Staaten und das Staatensystem im Zuge der als Globalisierung bezeichneten neoliberalen Umstrukturierung des Kapitalismus erheblichen Transformationsprozessen unterliegen. An der einschlägigen Literatur fällt allerdings auf, dass das theoretische Instrumentarium zum Verständnis der Entwicklung bemerkenswerte Defizite aufweist. Wissel hat sich zum Ziel gesetzt, hier einen Schritt weiter zu kommen, ausgehend von einer kritischen Rezeption der staats- und klassentheoretischen Überlegungen von Nicos Poulantzas.

Die Fragestellung richtet sich darauf, inwieweit die Entstehung und Ausbreitung transnationaler politischer Strukturen die Position der Einzelstaaten relativiert hat und in diesem Zusammenhang von der Herausbildung von Elementen einer transnationalen Staatlichkeit ausgegangen werden muss, oder noch weiter gefasst, ob ›Staat‹ als theoretische Kategorie überhaupt noch taugt, um die existierenden Weltverhältnisse zu verstehen. Die der Untersuchung zugrunde liegenden zentralen Thesen sind erstens, dass es zu einer Herausbildung internationaler Klassenfraktionen gekommen ist, wodurch das Verhältnis zwischen ›Kapital‹ und ›Staat‹ entscheidend modifiziert worden ist; zweitens, dass relevante Funktionen der Einzelstaaten auf die sub- und supranationale Ebene verlagert worden sind und drittens, dass ein transnationalisiertes politisches Feld entstanden ist, das gegenüber den Einzelstaaten eine relative Selbständigkeit gewonnen hat und damit eine Neukonfiguration der kapitalistischen Machtblöcke entsteht.
Als Ergebnis einer kritischen Aufarbeitung der für die Untersuchung einschlägig relevanten Theoriestränge (von Regime-, Global-Governance-, staatstheoretisch orientierter Regulations- und Weltsystemtheorie bis zu neogramscianischen Theorien internationaler Beziehungen) wird festgehalten, dass es nicht in befriedigender Weise gelungen sei, die im Zuge des neoliberalen Transformationsprozesses erfolgten Verschiebungen im Verhältnis von "Innen" und "Außen" (in Bezug auf die Einzelstaaten) und die damit verbundene Rekonfiguration von Ökonomie und Politik begrifflich zu fassen. Wissel geht davon aus, dass Poulantzas' Intervention in die Internationalisierungsdebatte der siebziger Jahre - insbesondere seine Überlegungen zur Transformation der Klassenstrukturen im Zuge der Internationalisierung des Kapitals - die Möglichkeit bietet, bei der Lösung der aufgeworfenen Probleme weiter zu kommen. Das Verhältnis von Nationalstaat und Transnationalisierung dürfe nicht als äußerlicher Widerspruch gefasst werden, sondern sei in einer dialektischen Weise miteinander zu vermitteln. Als zentrale theoretische Innovation von Poulantzas wird die Entwicklung des Begriffs der "inneren Bourgeoisie" - im Gegensatz zur "nationalen" bzw. "Kompradorenbourgeoisie " - angesehen. Sie erlaube die Entwicklung eines Instrumentariums, mit dem es möglich wird, die Internationalisierung als einen Prozess der Interiorisierung zu begreifen. Globale Prozesse könnten damit beschrieben werden, ohne die Bedeutung interner Faktoren zu vernachlässigen. Die Einzelstaaten seien als aktive Akteure des Internationalisierungsprozesses aufzufassen und aus diesem folge keinesfalls zwangsläufig die Entstehung eines transnationalen Staates. Internationalisierung sei insbesondere als ein Prozess aufzufassen, der in den Staaten selbst abläuft und diese, wie das Staatensystem insgesamt, transformiert.
Wissel nimmt zwar den theoretischen Ansatz von Poulantzas als Ausgangspunkt, unterzieht ihn aber auch einer grundlegenden Kritik. Diese richtet sich vor allem auf einen gewissen Klassenreduktionismus, auf die mangelnde Berücksichtigung des Widerspruchs zwischen Klassen- und Marktvergesellschaftung sowie auf das Fehlen einer formanalytischen Begründung des Staates. Im Zentrum steht dabei die Auseinandersetzung mit dem Konzept der inneren Bourgeoisie. Die Frage ist, wie deren Entwicklung zu verstehen sei, ob und inwieweit sich diese noch auf den Nationalstaat beziehen lässt und was dies für die Konstitution des "Blocks an der Macht" und sein Verhältnis zu den einzelnen Staaten bedeutet. Wissel geht davon aus, dass die bei Poulantzas feststellbaren analytischen Schwächen nicht dem Konzept der inneren Bourgeoisie als solchem, sondern eher seiner inkonsequenten Verwendung zuzuschreiben sind, nicht zuletzt der Vernachlässigung der Frage nach der Existenz einer inneren Bourgeoisie in den USA selbst. Um dies zu leisten, bedürfe es einer genaueren Untersuchung der Transformation der Bourgeoisie im Zuge der Transnationalisierung der Produktion. Deren wichtigste Kennzeichen werden unter Rückgriff auf einschlägige empirische Untersuchungen herausgearbeitet. Ergebnis ist, dass eine Klassenfraktion entstanden sei, die weder im herkömmlichen Sinne als ›national‹ zu bezeichnen sei, noch einfach als ›international‹ in dem Sinne, dass sie außerhalb der national fragmentierten Räume existieren würde. Dennoch könne sie als sich selbst konstituierende und politisch handelnde begriffen werden. Im Unterschied zu den in den neogramscianischen Ansätzen gebrauchten Begriffen wie "transnationale Managerklasse" bezeichne der Begriff der "transnationalisierten inneren Bourgeoisie" den Umstand, dass der Nationalstaat trotz der Transnationalisierungsprozesse bedeutender Bezugspunkt bleibe. Von der Transnationalisierung der Ökonomie und der Klassenverhältnisse auf eine Transnationalisierung der Politik zu schließen, wäre daher kurzschlüssig.
Die entscheidende Frage bleibe, ob man von einem transnationalen Block an der Macht im Sinne von Poulantzas sprechen könne. Angesichts des Fehlens eines ›Weltstaats‹ sei dies im strikten Sinne nicht möglich. Dem gegenüber stehe allerdings, dass sich die Kräfteverhältnisse in den existierenden transnationalen Regelungsnetzwerken nicht mehr allein durch den Verweis auf die beteiligten Nationalstaaten erklären lassen. Ansätze zur Konstitution eines transnationalen Machtblock entwickelten sich - unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die nationalen Machtblöcke in sich selbst transnationalisiert sind - durch diese und durch die Einzelstaaten hindurch. Dessen Struktur bleibe aber ständigen Veränderungen unterworfen und sei prinzipiell labil. Dies präge auch das Verhältnis zu den subalternen Klassen, bei denen sich ebenfalls zunehmend transnationale Netzwerke herausbildeten. Daher könne die Struktur des transnationalen Machtbocks erst unter Berücksichtigung seiner Verknüpfung mit den Nationalstaaten, den dort konstituierten Machblöcken und den fragmentierten Beziehungen zu den subalternen Klassen verstanden werden.
Anschließend beschäftigt sich Wissel mit der aus dieser Entwicklung resultierenden Rekonfiguration der Räume. Er knüpft dabei an Poulantzas` Überlegungen zur kapitalistischen Raummatrix an und versucht, dessen abstrakte Kategorien unter Rückgriff auf die regulationstheoretische Begrifflichkeit und unter Bezugnahme auf Harvey und Jessop zu konkretisieren. Ergebnis ist, dass unter den Bedingungen der Transnationalisierung die Widersprüche der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise nicht mehr angemessen innerhalb des fordistischen "spatial-temporal fi x" prozessierbar gemacht werden konnten. In Bezug auf den Akkumulations- und Regulationsprozess sowie auf die Arbeitsorganisation seien neue Formen des Raums entstanden, was wiederum die Stellung und Funktionsweise des Staates berührt. Im Ergebnis wird festgehalten, die aktuellen Transnationalisierungsprozesse müssten als eine umkämpfte Reterritorialisierung auf der Suche nach einem neuen "spatio-temporal fi x" begriffen werden. Insofern könne auch das scheinbare Paradox aufgelöst werden, das bei Poulantzas und anderen Autoren festzustellen ist, die davon ausgehen, dass der Nationalstaat zwar wichtig bleibe, aber zugleich aus dem Zentrum der Regulation rücke. - Damit sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, sich mit der Frage des Imperialismus zu befassen. Wissel beleuchtet kritisch insbesondere die Ansätze von Poulantzas und Panitch/Gindin und ihre These von der Existenz eines US-Imperialismus. Ihnen wird entgegen gehalten, dass das neue "netzwerkartige Imperium" kein nationales, sondern ein transnationales sei. Die Nationalstaaten verschwänden zwar nicht, aber zugleich könne die Struktur des Weltsystems nicht mehr unter Bezugnahme auf einzelne Staaten entschlüsselt werden.
Die Untersuchung schließt mit dem Versuch, die gewonnenen Erkenntnisse am Beispiel der Welthandelsorganisation (WTO) zu konkretisieren. Wissel geht davon aus, dass hier am ehesten von der Entwicklung eines staatsähnlichen Gebildes auf transnationaler Ebene zu sprechen sei. Es sei eine relative Verselbständigung dieser Organisation gegenüber den einzelnen Staaten trotz ihres im Prinzip intergouvernementalen Konstitutionsmodus zu verzeichnen, wodurch sich neue Korridore für den Einfluss privater Organisationen, insbesondere transnationaler Unternehmungen herausgebildet hätten. Die WTO habe zwar eine "relative Autonomie" gegenüber den Einzelstaaten gewonnen, weise aber dennoch keinesfalls die institutionelle Dichte und Festigkeit auf, wie sie für funktionierende Staatsapparate charakteristisch ist. - Die kritische Auseinandersetzung mit Poulantzas hat zweifellos dazu beigetragen, dessen Begrifflichkeit zu präzisieren und bei ihm noch feststellbare theoretische Inkonsistenzen zu beseitigen.  
Joachim Hirsch

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 150-152