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Kategorie: Rezensionen

Antônio Inácio Andrioli: Biosoja versus Gensoja. Eine Studie über Technik und Familienlandwirtschaft im nordwestlichen Grenzgebiet des Bundeslandes Rio Grande do Sul (Brasilien). Bern u.a. 2007. 348 S.

Bernhard Leubolt: Staat als Gemeinwesen. Das Partizipative Budget in Rio Grande do Sul und Porto Alegre. Wien 2006. 208 S.

Chico Whitaker: Das Weltsozialforum. Offener Raum für eine andere Welt. Hamburg 2007. 253 S.

Der brasilianische Bundesstaat Rio Grande do Sul wird mitunter als Wiege der globalisierungskritischen Bewegung bezeichnet. Das Modell eines "partizipativen Budgets" (PB) in dessen Hauptstadt Porto Alegre schuf ein politisches Klima, das später zur Etablierung des Weltsozialforums beitrug. Die vorliegenden Studien untersuchen den häufig beschworenen ›Geist von Porto Alegre‹.

Leubolt analysiert die Entstehung des PB und seine Ausweitung auf den Bundesstaat. Verf. ordnet ihn theoretisch ein, indem er sich an den Freiheits- und Öffentlichkeitskonzepten von Amartya Sen, John Friedmann und Jürgen Habermas abarbeitet. Er kritisiert deren Verengung auf einen "individuellen liberalen Freiheitsbegriff" (43) und stellt ihnen Gramscis Begriffe der Zivilgesellschaft und des integralen Staates sowie Poulantzas' Staatsverständnis gegenüber. Leitend ist die Fragestellung, inwieweit das PB zur Demokratisierung des Staats und zur "gesellschaftlichen Aneignung der Wirtschaftspolitik" (54) durch die Vertreter der subalternen Klassen beiträgt. Der konsistente Theorieteil weist nur wenige Ungereimtheiten auf, etwa wenn Verf. sich bei der Erläuterung seines Ansatzes auf Marx' Grundrisse bezieht und damit eine Methode referiert, die in dieser Form weder Marx in seinem Hauptwerk noch er selbst anwenden (14).
Verf. zeichnet detailreich die Funktionsweise und die Beteiligung am PB, aber auch das Zusammenwirken von Elementen direkter und repräsentativer Demokratie nach und verweist auf die Erfolge des Projekts: So konnte die Zahl der an das Kanalnetz angeschlossenen Haushalte von 46 % auf 85 % erhöht und die der Kinder an öffentlichen Schulen zwischen 1989 und 1999 mehr als verdoppelt werden (71f). Durch die gramscianische Herangehensweise kommt Verf. zu verschiedenen Einsichten, die in anderen Studien unterbelichtet bleiben: So gelingt es ihm, die internen Konfl ikte zwischen Angehörigen der Mittelschichten und Subalternen im Projekt des PB nachzuzeichnen.
Das Herzstück des Buchs bildet die zweite Fallstudie zu Rio Grande do Sul. Verf. weist auf die Unterschiede zu Porto Alegre hin, etwa die hohe Bevölkerungszahl des Bundesstaates von über 10 Mio. oder den niedrigeren Bildungsstand (98-102). In dem ebenfalls sorgfältig gearbeiteten Kapitel erläutert Verf. die im deutschsprachigen Raum weitgehend unbekannte Organisationsstruktur des PB sowie die Programme der Regierung Dutra. Dabei stellt Verf. die "Welle der Partizipation" (124) und den "republikanischen Lernprozess " (152) dar, die vom PB ausgingen, ohne die Widersprüche wie den Widerstand der traditionellen Machthaber gegen die basisdemokratischen Initiativen auszublenden. Abgerundet wird die facettenreiche Analyse durch eine theoretische Synthese, in der Verf. die "innovative Praxis des Zusammenspiels von Staat und Zivilgesellschaft" (169), aber auch die Grenzen lokaler demokratischer Experimente betont: "Um systemtransformierend handeln zu können, müssen auch auf höheren territorialen Ebenen Transformationen erfolgen" (163).
Es gelingt eine treffsichere Darstellung des PB, in der die Probleme der Vertreter der Subalternen bei der Umgestaltung der Staatsmacht deutlich werden. Kritisch sei angemerkt, dass Verf. sich zwar ausführlich mit den Problemen des Demokratisierungsprojekts auseinandersetzt, die Analyse der Regierungen Fogaça oder Rigotto, die der Arbeiterpartei im Amt folgten, aber recht knapp ausfällt: "Die Demokratisierung stockt nach 16 Jahren Erfolg, der Enthusiasmus [...] vor allem auch seitens der Regierung lässt nach" (94).
Whitaker umreißt die Organisationsprinzipien, Entwicklungslinien und Herausforderungen des Weltsozialforumsprozesses. Verf. zeichnet zunächst die Entstehungsgeschichte seit 2001 in Porto Alegre und die Stabilisierung des Prozesses durch weitere Foren nach. Den Hauptgrund für diese Entwicklung sieht er in der Schaffung eines offenen Raums, "der niemandem gehört, der weder Dogmatismen noch Führungskader kennt" (44). Horizontalität der Organisation, Nicht- Direktivität, Selbstorganisation, Pluralität und keine bindenden Beschlüsse führen dazu, dass es "keinerlei Art von Hierarchie" (53) gebe. Denn "Netzwerke sind nicht kontrollierbar, die Mitgliedschaft ist ständig in Bewegung" (135). Solche Behauptungen erscheinen vor dem Hintergrund hoch professionalisierter Akteure wie global agierender NGOs, die im WSF aktiv sind, mehr als fragwürdig und sind wohl primär der Abgrenzung von Parteien und staatlichen Akteuren geschuldet. Widersprüche im Organisationsprozess werden ausgespart, lieber wird auf "die fröhliche und lustvolle Atmosphäre" (78) verwiesen. Der Gebrauchswert des Buches beschränkt sich auf die 93 Seiten Anhang, der als "Drehbuch und Arbeitsmaterial für die Organisation von Sozialforen " (Klappentext) genommen werden will.
Andriolis Studie widmet sich mit dem Sojaanbau von Familienbetrieben im Nordwesten von Rio Grande do Sul einem anderen Feld der sozialen Auseinandersetzungen. Verf. nutzt als Interpretationsfolie die Arbeiten von Alexander Tschajanow, in Lenins Regierung Direktor des Instituts für Agrarökonomie und Agrarpolitik, und des polnischen Ökonomen Jerzy Tepicht. Im Mittelpunkt steht das Anliegen, die "Familienlandwirtschaft als eigenständiges Wirtschaftssystem" (65) in der kapitalistischen Produktionsweise zu fassen. So treten die Handlungsmöglichkeiten mittlerer Familienbetriebe hervor, die unter Proletarisierungsdruck durch wachsende Konkurrenz mit Agrargroßkonzernen stehen, gleichzeitig aber eine eigenständige Rolle als Zulieferbetriebe und bei der Nahrungsmittelproduktion spielen.
Verf. fasst die Produktionsmittel und somit auch die Agrartechnologie im Anschluss an Marcuse als gesellschaftlich umkämpft (73) und umreißt die umweltschädlichen Auswirkungen der Produktivkraftentwicklung. Überspitzt erscheint seine strikte Trennung zwischen "marxistischer" und "liberaler" Literatur zur Landwirtschaft (Kap. 1), in der Grenzgänger wie Arundhati Roy schwer einzuordnen sind. Auch fehlt an dieser Stelle eine Reflexion zu neueren Theorien zum Agrobusiness, die Verf. erst in einem Exkurs zu "Gensoja und Welthandel" nachreicht (177). An Aktualitätsbezug mangelt es der Studie jedoch nicht: Verf. zeichnet detailliert die Handlungsoptionen der familiären Landwirte im Umgang mit der Gentechnik und den Einfl uss der weltmarktorientierten Agrarkonzerne nach. Als sich Santa Rosa, die größte Stadt der Region, durch den Sojaboom und die staatliche Subventionspolitik in den 60er Jahren zur brasilianischen "Hauptstadt der Soja" (110) entwickelte, konnten hiervon vor allem Großgrundbesitzer mit ihren Soja-Monokulturen profitieren. Allerdings begannen auch Familienbetriebe, Soja anzubauen. Die Einführung der Gentechnologie stellte sie vor die Frage, ob sie diese für ihre Pflanzungen nutzen sollten.
Hierfür hat Verf. Anfang 2005 175 Bauern befragt. Danach lässt sich die Einführung der Gensoja in die brasilianische Familienlandwirtschaft als ein Projekt der Agrarkonzerne interpretieren, bei dem Unternehmen wie Monsanto die staatliche Forschung beeinflussen, gezielt Agrarflächen mit Gensoja kontaminieren, ein Netz von Agrarberatern aufbauen, große Werbekampagnen durchführen, die gesetzlichen Rahmenbedingungen verändern und schließlich die Bauern durch den Verkauf des Saatguts wirtschaftlich abhängig machen (243).
Als Hauptgründe für die Anpflanzung von Gensoja in Familienbetrieben identifiziert Verf. die Verringerung der Betriebskosten und den niedrigeren Arbeitsaufwand (211). Dabei sei jedoch in der Steigerung der Produktionskosten mittelfristig "eine wichtige Erklärung für die Verschuldung und Verarmung der Bauern" (246), wachsender Landflucht und Proletarisierung zu finden. Gleichzeitig sei die Chance, Biosoja als Alternative zu etablieren, trotz der Kritik an gentechnisch veränderten Nahrungsmitteln unter den "vorherrschenden Bedingungen sehr gering" und "die Bereitschaft der Kleinbauern", sie anzubauen, "noch unwahrscheinlicher" (247).
Die Studie überzeugt durch ihre Präzision und die gelungene Vermittlung von Theorie und Empirie. Zwar hätte die Darstellung des Materials teilweise gestrafft werden können, doch ist das Engagement des Verf. nicht nur bei der Auswertung und Interpretation der Daten, sondern auch schon bei ihrer Sammlung beeindruckend. So erfährt man im Vorwort von György Széll, dem Doktorvater des Verf.: "Er ist, um ein Treffen zu ermöglichen und als Doktorand angenommen zu werden, jeweils" 24 Stunden mit dem Bus von Rio de Janeiro "nach Santa Rosa gefahren. Welcher deutsche Student würde eine solche Mühe auf sich nehmen?" (5)
Stefan Schmalz

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 435-437