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Kategorie: Rezensionen

Thierry Chervel u. Anja Seeliger (Hg.), Islam in Europa. Eine internationale Debatte. Frankfurt/M 2007. 227 S.

Ein Großteil der Debatten erweckt den Eindruck, als ginge ein neues Gespenst um in Europa. Es trägt einen Schleier und besucht freitags die Moschee. Zwar gibt es eine lange Tradition von autochthonen, muslimischen Gemeinschaften in Europa. Aber tatsächlich hat der Islam durch den rasanten Anstieg der Migration das Gesicht der europäischen Gesellschaften grundlegend verändert. Dies zeigt der Beitrag Bassam Tibis mit beeindruckenden Zahlen: 1950 lebten etwa 800.000 Muslime in Europa, heute sind es 20 Millionen (185). Diese Veränderung produziert notwendigerweise Konflikte und setzt gesellschaftliche Prozesse in Gang, über die man reflektieren muss.

Der Streit um die Veröffentlichung von Karikaturen über den Propheten Mohammed sowie der Mord am niederländischen Filmemacher Theo van Gogh bilden den konkreten Bezugsrahmen, an dem sich die Debatte über das Verhältnis zwischen Europa und Islam entzündete. Im Band wird darüber hinaus immer wieder auf die Person Ayaan Hirsi Ali Bezug genommen. Die Somalierin, die lange Zeit in den Niederlanden lebte und in der Filmproduktion von Theo van Gogh eine wichtige Rolle spielte, war früher selbst gläubige Muslima und wurde zu einer scharfen Islam-Kritikerin. Ausgangspunkt der Diskussion bildet eine Rezension des Oxford-Professors Timothy Garton Ash über Ian Burumas Werk Die Grenzen der Toleranz. Der Mord an Theo van Gogh, die im Oktober 2006 in der New York Review of Books veröffentlicht wurde. Dieser Text wurde vielfach, vor allem auf der Internetplattform Perlentaucher.de diskutiert. Der Suhrkamp Verlag vereinte diese Texte nun in einem Sammelband.
Im Wesentlichen stehen sich zwei Positionen gegenüber: Auf der einen Seite versammeln sich die Verteidiger eines Absolutheitsanspruchs europäischer Werte, die von ihren Gegnern eines Fundamentalismus der Aufklärung bezichtigt werden. Auf der anderen Seite wird das Konzept eines Multikulturalismus verfochten, der dem Vorwurf des Werterelativismus ausgesetzt ist. Als Wortführer der ersten Position fungiert der französische Essayist und Philosoph Pascal Bruckner. Zunächst nimmt er für die Islam-Kritiker den Nimbus des Widerstandes in Anspruch (57). Sie lehnten sich gegen die verordnete Meinung der Religionsgelehrten auf. Damit werden die tatsächlichen Kräfteverhältnisse umgedeutet: der Islam tritt als unterdrückende Macht auf, die Islamkritik als Dissidenz. Ausgehend von diesem Bedrohungsszenario setzt er mit der Verteidigung der Aufklärung ein. Sowohl die philosophische Linie von Heidegger über Gadamer bis hin zu Derrida als auch die Frankfurter Schule hätten die Aufklärung denunziert. Bruckner räumt zwar ein, der ungebrochene Fortschrittsglaube habe zum Fanatismus beigetragen. Dennoch versucht er, den Anspruch auf die Absolutheit der Menschenrechte auf der Grundlage einer Synthese von Romantik und Aufklärung zu rehabilitieren. Man sei sich der nationalen Besonderheiten bewusst, doch diese seien in Einklang mit der Universalität der Menschenrechte zu bringen (60). Von hier aus erfolgt der Angriff auf den Multikulturalismus: Dieser sei ein Relativismus und entspringe einer antiimperialistischen Ethnologie (ebd.). Er gewähre zwar Gemeinschaften gleiche Rechte, verwehre sie aber dem einzelnen Individuum. Diese Argumentation wird bis zur These gesteigert, dass der Multikulturalismus ein Rassismus der Antirassisten sei. Die Europäer und Nordamerikaner, insbesondere jene, die sich als Multikulturalisten wähnten, verweigerten dem Rest der Menschheit den Anspruch auf Menschenrechte und hielten ihn in den alten Traditionen gefangen (66f).
Eine wichtige Gegenposition zu Bruckners Beschwörung der Aufklärung ist Bassam Tibis Konzept des Euro-Islam, mit dem er zwischen dem Islam und den europäischen Werten eine Brücke zu schlagen versucht. Die kulturelle Reform, durch die der Islam für Europa tauglich gemacht werden könne, bedeute sowohl die Aufgabe der Konzepte des Salafismus wie den Verzicht auf eine Islamisierung Europas (189). Die europäische Moderne und die Aufklärung seien weder ethnisch noch religiös begründet worden und daher "inklusiv" (192). Mit der Inklusivität erbringe die europäische Wertegemeinschaft eine Leistung, die von der Migration nun erwidert werden müsse. Sie solle nun ihrerseits ihre Identität mit Europa in Einklang bringen. Dieses Konzept des Euro-Islam führt somit zur Forderung an die Muslime, ihre kulturelle Identität an die europäischen Werte anzupassen und eine neue Synthese zu schaffen. Zwei Universalismen stünden sich gegenüber: auf der einen Seite die Europäisierung des Islam, auf der anderen Seite die Islamisierung Europas. Der Euro-Islam, der nur auf Europa selbst beschränkt sein solle, führe aus diesem Labyrinth der Universalismen heraus.
Die Schwäche des vorliegenden Bandes liegt darin, dass die polaren Begriffe Multikulturalismus versus Werteabsolutismus kaum tiefer gehend analysiert werden. Die Debatte bleibt einer publizistischen und polemischen Ebene verhaftet. In welchem Verhältnis diese Positionen zum liberalen politischen System westlicher Prägung stehen, bleibt ungeklärt. Denn interessanterweise nehmen sowohl die Position des Werteabsolutismus als auch jene des Multikulturalismus die liberale Demokratie als Ausgangspunkt. Beide nehmen für sich in Anspruch, für die Herausforderungen dieses politischen Systems Lösungen zu fi nden. Wollen die einen den Liberalismus durch die Inkraftsetzung ihrer Werte stärken, so meinen die anderen, dass zum Schutz des politischen Systems die Werte sich den kulturellen Veränderungen anpassen müssten. Dabei orientiert sich die Diskussion zumeist an formal-juristischen Kategorien wie Demokratie, Menschenrechte, Meinungsfreiheit usw., ohne diese in einen breiteren, gesellschaftlichen Zusammenhang einzubetten. Mit diesem kategorialen Apparat ist das Verhältnis zwischen Islam und Europa freilich nicht adäquat zu erfassen. Zumeist bleiben die gesellschaftlichen Kräfte- und Unterdrückungsverhältnisse, wie etwa der Rassismus, unberücksichtigt.
Stattdessen werden im Laufe der Debatte die Positionen in größere Linien der Philosophiegeschichte und der Ideengeschichte politischer Theorie eingeordnet. Vom Standpunkt des Werteabsolutismus, der sich in der historischen Tradition der Aufklärung versteht, erscheint der Islam als Verhaftetsein in einer selbst verschuldeten Unmündigkeit, da er die Verwendung der Vernunft behindere. Auf die Einwände gegen eine solche naive Vernunftgläubigkeit wird in dieser Debatte kaum eingegangen. Unberücksichtigt bleibt, dass sich das Verhältnis von Rationalismus und Irrationalismus sowohl in der christlich-abendländischen Tradition als auch in der islamischen auf je unterschiedliche Weise stellt.
Ein weiteres Problem stellt das Verhältnis von Etatismus, Kommunitarismus und politischem Liberalismus dar. Paradoxerweise bezieht sich die Position des Werteabsolutismus vor allem auf die französische Tradition des Etatismus, die freilich als Kritik am politischen Liberalismus entstanden ist. Gleichzeitig wird dieser Liberalismus aber auf Biegen und Brechen verteidigt, und der hauptsächliche Vorwurf an den Multikulturalismus besteht darin, mit ihm gebrochen zu haben. Dieser verteidigt seine Position mit dem Argument, dass der Kommunitarismus mit dem Liberalismus sehr wohl vereinbar sei (z.B. Jesco Delorme, 147), verschweigt jedoch, dass er auch eine Gegenbewegung zum Liberalismus darstellt, da er auf dessen Krisenerscheinungen Antworten sucht. Dies ergibt ein verworrenes Bild der Debatte, das in dem Sammelband leider kaum entwirrt wird.
Sebastian Baryli

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 552-554