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Kategorie: Rezensionen

Tobias ten Brink: Geopolitik. Geschichte und Gegenwart kapitalistischer Staatenkonkurrenz. Münster 2008. 250 S.

In der Zeit, als Marx und Engels schrieben, bezog sich der Begriff "Imperialismus" in der Regel auf politische Regime mit Figuren wie Napoleon und Louis Bonaparte an der Spitze. Selten diente der Begriff der Beschreibung sich entwickelnder internationaler wirtschaftlicher oder politischer Beziehungen auf der Ebene des Weltmarktes. Das geschah erst später. Der Weltmarktbegriff ist daher für die Untersuchung des Imperialismus der umfassendere, weshalb sich den Ansichten von Marx und Engels über den Imperialismus in erster Linie über ihre Bemerkungen hinsichtlich des Weltmarktes zu nähern ist.

Allerdings lieferten weder Marx noch Engels einen kohärenten theoretischen Ansatz zur Erklärung der widersprüchlichen Dynamik des Weltmarkts oder der allgemeinen Merkmale der Geopolitik. Verf. setzt diese beiden Anliegen hinsichtlich der horizontalen und vertikalen Dimensionen des Imperialismus in Beziehung. Es ist sein Verdienst aufzuzeigen, wie eine solche theoretische Herangehensweise entwickelt und mit den Begriffen der kapitalistischen Produktionsweise begründet werden kann. Dass dies eine wichtige Aufgabe ist, legt eine frühe Rede von Marx über den Freihandel nahe, in der er erklärte: "Alle diesbezüglichen Gesetze [...] treffen nur unter der Voraussetzung wirklich zu, dass der Handel von allen Fesseln befreit ist, dass die Konkurrenz völlig unbehindert ist, nicht nur in einem Lande, sondern auf dem ganzen Erdball. Diese Gesetze, die A. Smith, Say und Ricardo aufgedeckt haben [...], werden in demselben Maße zutreffender [...] und hören auf, bloße Abstraktionen zu sein, wie sich der Freihandel durchsetzt [...]. So kann man mit Recht sagen, dass die Ökonomen - Ricardo und andere - mehr über die Gesellschaft wissen, wie sie sein wird, als über die Gesellschaft, wie sie ist." (Rede des Herrn Dr. Marx über Schutzzoll, Freihandel und die Arbeiterklasse, in: MEW, Bd. 4, Berlin 1959, 307). Das suggeriert, dass sich mit zunehmender Integration des Weltmarkts die Widersprüche und Gesetze der Kapitalakkumulation umso wirkungsvoller durchsetzen.
Verf. bewahrt den wissenschaftlichen Imperialismusbegriff vor seinem Gebrauch als oberflächlicher Kampfbegriff. Er entwickelt einen geschichtlich informierten, form-analytischen Ansatz zur Untersuchung der aufeinander folgenden Phasen des Imperialismus. Dabei ist er stets bedacht, seine Analyse in den Rahmen eines breiteren Entwurfs des Charakters der kapitalistischen Produktionsweise, der widersprüchlichen Dialektik von Konflikt und Kooperation und der vertikalen bzw. horizontalen Dimensionen des Weltmarkts und zwischenstaatlicher bzw., erweitert, inter-gesellschaftlicher Beziehungen einzubetten. Dies findet seinen Niederschlag in einer Periodisierung von Weltordnungen, die über einseitige ökonomische bzw. politische Analysen hinaus reicht und das Zusammenspiel geoökonomischer und geopolitischer Faktoren im Rahmen der entstehenden globalen sozialen Formation (einschließlich bspw. der Systemkonkurrenz zwischen dem Westen und dem Sowjetblock) synthetisiert.
Verf. entwickelt seinen Ansatz durch die systematische Integration des Raum-Zeitlichen in seine Analyse, wobei er ein besonderes Augenmerk auf die Logik der Akkumulation und des territorialen Konflikts, auf die Erfordernisse der erweiterten Reproduktion des Kapitals und der Selbstreproduktion der Einzelstaaten wirft. Das gelingt ihm durch die sorgfältige Unterscheidung zwischen Ökonomie und Politik und der Analyse ihrer jeweiligen operationellen Autonomie und zugleich ihrer wechselseitigen materiellen Abhängigkeit in einer Weltordnung, die auf unterschiedliche Weise von der Logik der Kapitalakkumulation beherrscht wird.
Den ersten Teil des Buches kennzeichnen ein präzises und differenziertes Verständnis der Theorien des Imperialismus, eine gut begründete Periodisierung ihrer Entwicklung und eine nuancierte Kritik. Diese wird im zweiten Teil in einer synthetisierenden Darstellung der Dynamik der kapitalistischen Akkumulation im imperialistischen Zeitalter auf Grundlage seiner von Marx inspirierten formanalytischen Betrachtung der Kapitalkreisläufe und der Bildung des Weltmarkts bei gleichzeitiger Pluralität der kapitalistischen Einzelstaaten entwickelt. Dabei ist das zentrale Argument, dass der Kapitalismus raum-zeitlich betrachtet ein global fragmentiertes System ist, was wiederum einschneidende Auswirkungen auf die Inter- und Transnationalisierung staatlicher Strukturen, der Politik und der ›policies‹ auf dem Weltmarkt mit weiteren Implikationen für das globale politische System, die internationale Politik und internationale Institutionen hat. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass Verf. jede ›Ableiterei‹ vermeidet, indem er seine Herangehensweise sowohl formanalytisch begründet, d.h. aufzeigt, wie die Form die Funktion problematisiert, als auch indem er neben den geoökonomischen Momenten der Akkumulation im Weltmaßstab deren geopolitische Momente betont und auf die ungleichmäßige Entwicklung von Weltordnungen verweist. Ein Schlüsselelement bildet seine Analyse der Produktion von Raum, räumlichen Matrizes und seine Darstellung der Logik der Territorialisierung, De-Territorialisierung und Re-Territorialisierung. Seine Ablehnung einfacher Ableitungen bedeutet, dass Verf. den Beziehungen zwischen Struktur und Handeln ein hohes Gewicht beimisst. Nach einem kurzen theoretischen Exkurs über die allgemeine Streitfrage des Verhältnisses von Struktur und Handeln erhält der Leser eine wohlbegründete und aufschlussreiche Analyse internationaler Ordnungen und Institutionen. Die Argumentation wird mit einer Reihe von Einsichten marxistischer Theoretiker der Nachkriegszeit wie Brenner, Harvey, Lefèbvre, Poulantzas, Rosenberg und Teschke verknüpft, und es wird Bezug genommen auf das (von Poulantzas inspirierte und in verschiedenen Zusammenhängen weiter entwickelte) Argument, dass die internationale Ordnung eine materielle Verdichtung eines sich verschiebenden Kräfteverhältnisses zweiter Ordnung darstellt. Dies führt zu einer klaren Darstellung der verschiedenen raum-zeitlichen Konfigurationen in der Entwicklung des Imperialismus - dem klassischen Imperialismus, dem Supermächte-Imperialismus und der ›neuen Weltordnung‹ - in Verbindung mit den Modalitäten und Rhythmen der Kapitalakkumulation, den Formen und Ausmaßen der Internationalisierung des Kapitals, den Ausprägungen des Wettbewerbs, dem Umfang und der Gestaltung der Transnationalisierung von Klassenverhältnissen, der wechselhaften Artikulation des Ökonomischen und des Politischen sowie den Übergängen zwischen hegemonialen und nicht-hegemonialen Phasen.
Der dritte Teil unterscheidet zwischen weichen (relativ friedlichen) und harten (mit größeren Zwangsmaßnahmen einhergehenden) Formen der Geopolitik, um dann auf Grundlage des relativen Gewichts beider Formen zueinander die zuvor geleistete Untersuchung historischer Phasen noch einmal auszuwerten. Auf diesem Fundament identifiziert Verf. eine für die gegenwärtige Epoche charakteristische Form des Imperialismus: den markt-liberalen Etatismus. Dies ist eine neuartige Mischung harter und weicher Geopolitik, die als Variation einer vertrauten Formel angesehen werden kann: freier Markt und starker Staat. Er untersucht daran anschließend dessen Bedeutung für den amerikanischen Imperialismus, die konfltktträchtige transatlantische Partnerschaft und die Herauskristallisierung einer neuen Konfliktlinie zwischen den USA und China.
Auch wenn diese Arbeit auf mehrere theoretische Traditionen zurückgreift, ist sie alles andere als eklektisch. Verf. vertritt eine Eigenposition, die er mit Sorgfalt entwickelt und anwendet. Es gibt eine Reihe kleinerer Auslegungsfragen, an denen er und ich sicherlich fruchtbare Diskussionen anknüpfen könnten. Diese sind jedoch unbedeutend verglichen mit der Erklärungskraft seiner Untersuchung und Argumentation. Sein Buch stellt einen bedeutenden Beitrag zur kritischen Reinterpretation des Phänomens des Imperialismus und seinen gegenwärtigen Entwicklungen sowie neuerer Formen staatlicher Interventionen dar.
Bob Jessop

Quelle: Das Argument, 50. Jahrgang, 2008, S. 611-613