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Kategorie: Rezensionen

Olaf Schnur: Demographischer Impact in städtischen Wohnquartieren. Entwicklungsszenarien und Handlungsoptionen. Wiesbaden 2010 (VS research: Quartiersforschung). 517 S.

Man könnte meinen, dass der wissenschaftliche Diskurs um den demographischen Wandel seine besten Zeiten bereits hinter sich hat, schaut man sich die Fülle der Publikationen zum Thema einerseits sowie die leider oft halbherzige und oberflächliche Thematisierung selbst in den kleinsten und periphersten Kommunen andererseits an. Jede Landgemeinde, jede Wohnungsbaugenossenschaft hat die Problematik scheinbar erfasst und stellt fleißig Seniorenpläne auf oder baut barrierefrei.


Dass die so oft betretenen und beliebig wirkenden Lösungspfade nicht einmal die halbe Miete der zukünftigen Stadt- und Quartiersentwicklung sind, versucht uns Olaf Schnur in seiner hier vorgelegten Habilitationsschrift zu verdeutlichen. In seinem Buch betrachtet der Autor die Thematik dort, wo sie am deutlichsten wahrnehmbar ist: auf der so unberechenbaren, weil als zu diffus und im städtischen Kontext zu abhängig empfundenen Quartiersebene.
Dabei setzt Schnur tief an, gibt eine gleichwohl kompakte wie anschauliche Einführung in demographische, regulationstheoretische und Governance-Grundlagen und zeichnet detailliert den komplexen und aufwendigen Forschungsansatz nach.
Ausgehend von einem ganzen Bündel an Fragen zum zukünftigen Verlauf und den Auswirkungen des demographischen Wandels in verschiedenen Quartiersarten hat Olaf Schnur eine Vielzahl von Quartieren empirisch untersucht und anschließend 24 Quartiere in den Städten Berlin, Leipzig, Essen und Brandenburg/Havel für seine Auswertungen ausgewählt. Mit Hilfe einer Triangulation qualitativer und quantitativer empirischer (sozial-)geographischer Methoden und flankiert durch eine zweistufige Delphi-Befragung hat Schnur Quartierstypologien abgeleitet. Auf der Basis der spezifischen Charakteristiken der Quartierstypologien und der aktuellen Situation in den Untersuchungsgebieten wurden Entwicklungslinien herausgearbeitet, die unter Einbezug möglicher zukünftiger Trends zu jeweils einem Set an Szenarien verdichtet wurden. Die Entwicklung der Szenarien beschreibt Schnur als quasi-kreativen Prozess und vereint hier die möglichen demographischen Entwicklungen mit den Strategien der im Quartier handelnden Akteure, welche als "Modes of Governance" den roten Faden des Kernteils seines Buches bilden.
Schnur lässt die potentiellen zukünftigen Herausforderungen jedoch nicht im Raum stehen sondern ergänzt die Arbeit mit einer Toolbox, mit deren Hilfe sich die akteursspezifischen Handlungsfelder strukturieren und bearbeiten lassen.
Damit verlässt er die Ebene von Deskription bzw. Interpretation und plädiert für eine stärkere Verknüpfung von Akteuren und eine zielgerichtete Quartiersentwicklung, die über die Partikularinteressen vor allem der wirtschaftlich handelnden Akteure hinausgehen, jedoch ohne den Realitätsbezug zu verlieren. Positiv sind der stärkere Einbezug der Wohnungswirtschaft und die Hinweise zur Notwendigkeit des Einbezugs von Einzeleigentümern zu bewerten, deren Aktivierung in der Vergangenheit oft problematisch war. Die Antwort auf die Frage nach der "Awareness" und der Umsetzungsbereitschaft der in den urbanen Regimen handelnden Akteure für die von Schnur durchaus engagiert geforderten Konzepte vorausschauender Quartiersentwicklungskonzepte wird sich, in Zeiten, in denen der Fokus vor allem auf schnellen und effizienten Bestandsmaßnahmen liegt, erst mittelfristig geben lassen.
Wo andere zukunftsexploratorische Ansätze oft willkürlich wirken und in die Beliebigkeit abdriften, legt der Autor ein schlüssiges und transparentes Konzept vor, in dem er sowohl die Perspektiven der verschiedenen im Quartier relevanten Akteure einnimmt als auch alt gediente Ansätze und Methoden regelmäßig kritisch reflektiert.
Trotz des insgesamt komplexen Sachverhaltes schafft der Autor es, eine anschauliche und interessante Sprache zu finden und seine Aussagen mit Fotos und Beispielen zu unterlegen und schlägt damit die Brücke zwischen wissenschaftlichem Anspruch und Anwendungsbezug, welcher das Buch gleichermaßen für Wissenschaftler, Politiker und die Verwaltung interessant macht. Gerade für lokal agierende Akteure kann dieses Buch eine wertvolle und anwendungsbezogene Arbeitshilfe sein, um die eigene Arbeit wissenschaftlich einzuordnen. Zusätzliche Materialien sind im Anhang und online verfügbar.

 

Oliver Niermann


Zitierweise:
Oliver Niermann: Rezension zu: Olaf Schnur: Demographischer Impact in städtischen Wohnquartieren. Entwicklungsszenarien und Handlungsoptionen. Wiesbaden 2010 (VS research: Quartiersforschung) In: raumnachrichten.de
http://www.raumnachrichten.de/ressourcen/buecher/1161-demographie



Kontakt:
Oliver Niermann
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