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Kategorie: Rezensionen

Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas.  Bielefeld 2007. 252 S.

Im Hintergrund aktueller Migrationspolitiken steht ein Europa, dessen Grenzen zunehmend mit den Grenzen der EU übereinstimmen. Spätestens seit den Vorbereitungen für die Erweiterungen der EU von 2004 und 2007 sind Fragen der geteilten Werte Thema zahlreicher Publikationen, während die mit der Einigung Europas einhergehenden Ausschlüsse in der Regel v.a. implizit verhandelt werden. Dabei ist neben der Diskussion um die Mitgliedschaft einzelner Staaten Migrationspolitik das Gebiet, auf dem die Grenzen der europäischen Gemeinschaft vornehmlich bestimmt und festgelegt werden.

Zur Analyse sowohl der Migrationspolitik der EU als auch der daran beteiligten NGOs und der Migrationsbewegungen selbst stützen sich die Beiträge des Bandes auf den Begriff der Gouvernementalität. Foucaults Konzept, das seit einiger Zeit auch in die sozialwissenschaftliche Theoriebildung Eingang gefunden hat, zielt auf eine differenzierende Analyse der Zusammenhänge von Macht und Herrschaft. Demzufolge ermöglichen Regierungstechnologien als Vermittlung zwischen Herrschaft einerseits und interpersonellen Machtbeziehungen sowie dem Subjekt andererseits die Durchsetzung von Herrschaft. Ein anderer Bezugspunkt ist der politikwissenschaftliche Governance-Ansatz, der ebenfalls die zunehmende Dezentralität und Mehrdimensionalität politischer Entscheidungsprozesse unter den Bedingungen der Globalisierung in den Mittelpunkt stellt. Das eröffnet Migrationstheorie und -forschung – und nicht zuletzt kritischer  Migrationspolitik – neue Perspektiven:  festgefahrene Gegensätze wie Aktivität/Passivität, Täter/Opfer, Macht/Ohnmacht, aber auch Staat/Nicht-Regierungsorganisation, geraten in Bewegung. Unter Betonung der »Autonomie der Migration« argumentieren etwa Manuela Bojadžijev und Serhat Karakayali, dass der »Regierung der Migration« Grenzen gesetzt sind, weil die »Subjektivität der Migranten nicht auf ihre Rolle als Arbeitskraft reduzierbar ist« (205). Die Metapher von der »Festung Europa« – auch in den kritischen Sozialwissenschaften ein gängiger Begriff – wird in Frage gestellt, indem die institutionelle Migrationspolitik der EU als lediglich eine Seite des Migrationsgeschehens herausgestellt wird, die durch die tatsächlichen Migrationsbewegungen ergänzt werden muss, welche die durch die EU-Institutionen aufgestellten Grenzen in Form ›illegaler‹ Migration regelmäßig unterlaufen. Nicht zuletzt wird durch diese Perspektive das Konzept der Bürgerschaft umgekehrt: es sind nicht die nationalstaatlich gewährten Rechte und die Integration von Migranten in diese institutionelle Ordnung, die Verf. einfordern, sondern die Anerkennung, dass viele »soziale Auseinandersetzungen, die von MigrantInnen initiiert wurden, [...] nicht davon [handeln], Bürger zu werden – sie insistieren darauf, bereits Bürger zu sein« (ebd.). Der Text zur »Autonomie der Migration« fällt aufgrund seiner programmatischen Form aus der Reihe. Das Konzept ist umstritten, da seinen Verfechtern die Romantisierung von Migrationsprozessen vorgeworfen wird. Angesichts der Tendenz, Migranten überwiegend als Objekte und Opfer von staatlicher Politik, gesellschaftlicher Benachteiligung und Ausgrenzung zu begreifen, ist das Beharren auf der Eigensinnigkeit und Eigenlogik von Migrationsbewegungen eine überzeugende Gegenposition.
Die Verwicklung kritischer Forschung mit nationalstaatlichen wie supranationalen Migrationsapparaten im EU-Kontext kritisieren Serhat Karakayali und Sabine Hess. Das Governance-Konzept werde im Sinne von »Governance of Migration« bes. von internationalen
Institutionen aufgegriffen, wodurch auch Akteure »außerhalb des klassischen parlamentarisch-politischen Bereichs« als »staatstragend« gelten könnten (49). Der Asylrechtsdiskurs, in dem Migration von NGOs und Menschenrechtsgruppen als Flucht problematisiert wird, wirkt zusammen mit der »Politik des Migrationsmanagements« von UNHCR, IOM und EU. Diese verfolge, anders als die »Abschottungsrhetorik«, das Ziel einer »Regulation der Migrations- und Mobilitätsströme im Sinne einer ›effizienteren Allokation der Arbeitskraft‹ als zentrales Instrument einer globalisierten kapitalistischen Wirtschaftspolitik« (51). Sowohl der »Flüchtlingsschutz-Diskurs« der NGOs als auch die »Politik des Migrationsmanagements« wirken dabei auf die verschärfte Kontrolle illegaler Migration hin – erster, indem Migranten zu »Objekten eines behaupteten  Schutzbedürfnisses« (52) gemacht würden, und zweiter, indem die ökonomische Nutzbarkeit als einzig legitimes Motiv von Migration bestimmt wird. Zwei Beiträge thematisieren die Transitzonen zwischen EU-Staaten und Nicht-EU-Staaten. Die ethnographischen Beschreibungen von Migrationsprozessen in Serbien (Bojadžijev) und der Türkei (Hess/Tsianos) zeigen, wie die Vorverlagerung der Migrationspolitik an die EU-Außengrenzen die Rolle dieser Staaten für globale Migrationsbewegungen verändert. Wie Grenzbildung darüber hinaus in den Imaginationen, etwa in Ausstellungen oder Filmen, betrieben wird, ist Inhalt weiterer Beiträge (Andrijaševic, Spillmann, von Osten, Kuster).


Zu Recht betonen Verf. die Dringlichkeit neuer Migrationstheorien und Untersuchungsmethoden, die das nationalstaatliche Containermodell der Migrationsforschung hinter sich lassen. Auch die Notwendigkeit einer gesellschaftstheoretischen Konzeption von Solidarität und des damit einhergehenden Imaginären ist unbestritten. Allerdings verhindern der überwiegend normative Begriff von Transnationalismus ebenso wie ein Verständnis von Kosmopolitismus, das die nationalstaatliche Verortung gesellschaftlichen Austauschs negiert, eine gesellschaftstheoretische Analyse. Der Nationalstaat und seine Institutionen bestimmen auch bei zunehmender internationaler Vergesellschaftung nach wie vor gesellschaftliche Prozesse. Ein gesellschaftsanalytischer Begriff von Transnationalismus muss notwendigerweise dieser Lokalität gerecht werden.
Ingrid Jungwirth

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, S. 836-837