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Kategorie: Rezensionen

Alessandro Pelizzari: Dynamiken der Prekarisierung. Atypische Erwerbsverhältnisse und milieuspezifische Unsicherheitsbewältigung. Konstanz 2009. 354 S.

›Don’t believe the hype‹ – diesem Motto folgend bezweifelte die Linke, als das Wort vom Prekariat die Runde machte, dass an den Rändern und in den Spalten der Arbeitsgesellschaft ein neues Klassen- und ›revolutionäres Subjekt‹ heranwüchse.

In der neuen Bescheidenheit offenbarten sich jedoch auch fundamentale Unklarheiten linker Gesellschaftskritik: Was ist eine soziale Klasse? Macht der Begriff (noch) einen Sinn? Und wenn ja: Wie betreibt man Klassenanalyse? Und wenn das Prekariat keine Klasse bildet, sondern nur eine ›Klassenfraktion‹, was bedeutet das? – Prekäre Verhältnisse auch im Theoretischen. Verf. beansprucht, den »klassentheoretischen blinden Flecken in der qualitativen Prekarisierungsforschung« (150) nachzugehen. In Anlehnung an Bourdieu rekonstruiert er den Arbeitsmarkt als sozialen Raum, in dem sich Klassenbeziehungen verfolgen lassen. So erhofft er sich Aufschluss darüber, »welche Rückwirkungen die Diffusion prekärer Arbeitsverhältnisse auf die individuellen und kollektiven Teilnahmevoraussetzungen am Arbeitsmarkt zeitigt« (159).
Diesem klassentheoretischen Interesse ist die profanere Fragestellung vorangestellt, »ob atypische Erwerbsverhältnisse [...] eine Brücke in stabilere Beschäftigung bieten, oder ob sie im Gegenteil längerfristig Ausschlusskarrieren in Gang setzen« (14). Gegenstand der Analyse ist der schweizer Arbeitsmarkt, auf dem, wie Verf. in einer Kritik und Korrektur der offi ziellen Statistiken zeigt, Beschäftigungszuwächse fast ausschließlich im Bereich prekärer Arbeit stattfanden.
Um die Frage nach dem Integrations- oder Exklusionspotenzial prekärer Erwerbsarbeit zu beantworten, verwendet Verf. einen Begriff der ›Flexibilität‹, der in den Dimensionen intern/extern, numerisch/funktional und good/bad das Prekaritätsrisiko von Arbeitsverhältnisse zu erfassen erlaubt, und damit »über die Grenzen des Normalarbeitsverhältnisses hinaus die Entwicklungen in der Arbeitsorganisation und der Arbeitsmarktpolitik in den Blick« nehmen und den unterschiedlichen Abstufungen der ›Verwundbarkeit‹ Rechnung« tragen kann (32). Die »Inklusionsthese« – prekäre Beschäftigung ermögliche den Arbeitsmarkteintritt bislang ausgeschlossener Gruppen – findet ihre Anhänger unter Neoliberalen ebenso wie unter Kritikern
und insb. Kritikerinnen der Arbeitsgesellschaft; die »Exklusionsthese« – prekäre Arbeit als Etappe auf dem Weg in die vollständige Desintegration – rechnet Verf. den Neodurkheimianern um Castel, Paugam, Kronauer u.a. zu. In wechselseitiger Korrektur bilden beide Thesen den Kernbestand einer »relationalen Prekarisierungstheorie« (40), die »›Inklusion‹ und ›Exklusion‹ nicht als Gegensatzpaar, sondern als dialektische Dynamik« ansieht, die »die teils widersprüchlichen Effekte verbindet, die mit der Ausweitung prekärer Erwerbsverhältnisse einhergehen« (47). – Auf dem unstrukturierten Arbeitsmarkt, dem Puffer-Arbeitsmarkt und den berufsfachlich und betriebsinternen Arbeitsmärkten seien je nach betrieblicher Flexibilisierungsstrategie und politischer Rahmensetzung (Arbeitsrecht, Bildungs- und Sozialpolitik) Integrations- und Desintegrationspotenziale objektiv ungleich verteilt. »Prekäre Erwerbsverhältnisse finden sich in sämtlichen Teilarbeitsmärkten, weisen unterschiedliche Möglichkeiten der Mobilität auf und erfüllen je nach Segment verschiedene Funktionen.« (77) Die Differenzierung prekärer Arbeitsmarktsegmente stellt die »erste Achse« des Merkmalsraums der Prekarisierung dar (114).
Auf der zweiten trägt Verf. die subjektive Wahrnehmung der Arbeitsmarktposition, sowie Bearbeitungs- und Anpassungsstrategien ein. Insofern der milieuspezifi sche Erwerbshabitus – im Referenzrahmen Bourdieus immer auch ein Klassenhabitus – durch veränderte Feldbedingungen unter Veränderungsdruck gerät, sei Prekarisierung als »Restrukturierung von sozialen Klassenverhältnissen« (129) zu verstehen: die (Selbst-)Klassifi zierungen der Akteure und ihre Strategien der Geltendmachung ihrer spezifi schen Ausstattung mit (ökonomischem, sozialem, kulturellem) Kapital geraten in Bewegung. Arbeitsmarktsegmente und milieuspezifische Erwerbsorientierungen spannen eine Mehrfeldertafel auf, in der Verf. Idealtypen der Prekarisierung festhält: »notwendige«, »transitorische« und »avantgardistische« Prekarität (168f). Im Zuge der Auswertung von 38 narrativen Interviews mit prekär Beschäftigten prüft und konkretisiert er diese Typologie. Die »Habitus-Hermeneutik« (166) führt zur Unterscheidung von sieben empirischen Ausprägungen prekärer Habitusformationen. Verf. gelangt zu dem Schluss, dass Strategien der Unsicherheitsbewältigung mit nur wenigen Ausnahmen »am Erwerbshabitus proletarischer oder arbeitnehmerischer Lohnarbeiter ausgerichtet [bleiben]. Nur diese Deutungsfolie ›fordistischer‹ Sicherheitsorientierung erlaubt es den Beschäftigten, unter Bedingungen wachsender Arbeitsbelastung, interner Konkurrenz und nicht zu kontrollierenden Risiken, ihre Kompetenzen stärker in eigener Verantwortung überhaupt einbringen und entwickeln zu können« (329). Obwohl als Form atypischer Beschäftigung durchaus erwähnt und auch im empirischen Sampel vertreten, scheint die wachsende Zahl von prekären Solo-Selbstständigen diesen Befund nicht anzufechten. Die Entprekarisierung, die Verf. vorschlägt, bleibt weitestgehend auf die Gestaltung und rechtliche Regulierung der Arbeitsverhältnisse beschränkt, wo nicht, kann sie sich kaum auf das Interviewmaterial beziehen. Gerade zur »Förderung der Selbstorganisation« und »Revitalisierung gewerkschaftlicher Strukturen«, die die »Abschottung gegenüber neuen Beschäftigtengruppen« überwindet (335), hätte Verf., inzwischen Regionalsekretär der Gewerkschaft Unia in Genf, mehr Einblicke geben sollen. Über weite Teile des Buches tut Verf., was man von Soziologen erwarten darf: er sichtet Forschungsstände, diskutiert Typologien und entwirft eigene, operationalisiert und  interpretiert. Das alles ist klar strukturiert und anschaulich dargestellt. Natürlich kann Prekarisierung in Bourdieus Begriffen vom Sozialraum, vom Habitus und von der Lebensstilpraxis klassenanalytisch erfasst werden; mit einem stärkeren Bezug zum marxschen Klassenbegriff und Orientierung auf Widerspruchsanalyse hätten aber auch die Gegenmachtpotenziale der unteren Klassen präziser thematisiert werden können als es mit dem Instrumentenkasten Bourdieus möglich ist. – Schwer erträglich sind die vielen Fehler in Orthographie und Schriftsatz. Gerade im zweiten Teil des Buches kommt fast keine Seite ohne fehlende oder falsch platzierte Satzzeichen und Buchstaben, fehldeklinierte oder gar herumirrende Wörter aus. Eine üble Folge der Prekarisierung, dass Verlage die Redaktion Praktikanten überlassen oder eilig Honorarverträge vergeben.
Peter Bescherer

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, S. 846-848