Dominic Johnson: Afrika vor dem großen Sprung. Berlin. 103 S.
Das Werk ist eine Einladung zum Umdenken; es versteht sich als eine Anleitung zum Andersbewerten der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Ereignisse der letzten 10 bis 15 Jahre im subsaharischen Afrika. Dem Leser steht es dabei frei - wie bei Einladungen allgemein üblich - dieser Einladung zu folgen oder selbst Alternativeinschätzungen zu entwickeln. Materialien dazu liefert das nur 103 Seiten umfassende Taschenbuch in regionaler und zeitlicher Fülle. Sie werden neu beleuchtet und dort, wo es nötig ist, in ihrer historischen Entwicklung vorgestellt. Das Afrika-Buch ist zwar kein wissenschaftliches Werk und will dies auch nicht sein, liefert jedoch reichhaltig Fakten aus einer tiefverwurzelten Afrikakenntnis, die von Dominic Johnson journalistisch gut aufbereitet und daher flüssig lesbar präsentiert werden.
Des bewährten Mittels der Provokation bedient sich der Autor als erfahrener taz-Journalist unaufdringlich, dafür aber umso radikaler. Gerade dadurch gewinnt das Werk an offener Glaubwürdigkeit. Bewertungen werden möglichst vermieden, denn diese soll der Lesende selbst vornehmen - etwa, wenn in den Staatszerfall von Somalia oder der Demokratischen Republik Kongo tatsächlich positive Entwicklungen hinein interpretiert werden, nur weil dann dort angeblich quasi-koloniale Strukturen (z.B. Staatsgrenzen) oder postkoloniales Blockdenken (z.B. Ideologieüberstülpung) wegfallen. Wenn durch solche zu Positivmustern verklärte Fehlentwicklungen dann auch noch die Machenschaften des ruandischen Raubregimes im Ostkongo gut geheißen werden, nur weil auch sie kolonial entstandene Grenzziehungen ignorieren, ist das sicherlich revolutionär, dadurch aber nicht per se positiv; wenn dann sogar in der Milizenherrschaft und Piraterie am Horn von Afrika ein Ausdruck "afrikanischen Unternehmergeistes" (S. 93) gesehen wird, dann klingt dieser Hinweis auf einen angeblichen afrikanischen Hoffnungsschimmer angesichts der sich gegenwärtig in Somalia abzeichnenden Hungerkatastrophe geradezu zynisch.
Johnsons Gedankenkonstrukt folgend, müsste man heute das Ausrauben von Hungerflüchtlingen durch bewaffnete Milizen in Süd-Somalia und damit verbundene neue Formen des Menschenhandels als "Aktivitäten der Kapitalakkumulation durch Jungunternehmer" einstufen und das unverantwortlich lange Zögern der Weltgemeinschaft in der Prävention der sich am Horn von Afrika schon seit langem abzeichnenden Nahrungsmittelkrise umdeuten als eine eigentlich beglückwünschenswerte Chance zur unkolonialen Selbsthilfe, die dieser Dauerkrisenraum dadurch erhielte.
Dem Tenor des Afrika-Büchleins folgend müssen solche Experimente sein auf dem Weg zu einer neuen "wirklichen" Unabhängigkeit. Manche Experimente gehen schief, aber insgesamt beflügeln sie ein angeblich existierendes neues afrikanisches Selbstbewusstsein. Dieses findet der Autor richtig in der Republik Südafrika. Da gehört es begründet auch hin. Aber um in den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolgen des Postapartheits-Staates, der sich gegenwärtig anschickt, zu einer weit über den engeren SADC-Bereich hinaus wirkenden Hegemonialmacht zu werden, ein allgemein gültiges Morgenrot für den Rest des subsaharischen Afrika zu erblicken, bedarf es schon einer gehörigen Portion von Zwecknaivität. Diese sei dem Autor zunächst nicht unterstellt. Was aber ist dann die Antriebskraft hinter der Hoffnungsbotschaft des Afrika-Buches?
Darin wird auch bei anderen Themen seriös-provokant angenehm still zum Umdenken im Sinne eines Umbewertens eingeladen: Wenn etwa das derzeitige westafrikanische Musterland, Ghana, als Drogenwirtschaftsbereich deklariert wird, oder Bürgerkrieg und Staatszerfall in der Elfenbeinküste verharmlost werden und die Durchsetzung der Sharia-Rechtsprechung in einigen Emiraten Nord-Nigerias bewusst als "Wiedereinführung" tituliert (weil dort schon von der kolonialen britischen Machtergreifung etabliert) und damit als präkoloniales Kulturerbe verklärt und folglich gut geheißen wird.
Dabei misst Johnson - wahrscheinlich ganz bewusst - auch an anderer Stelle mit zweierlei Maß. Während die Staatsversagen in Somalia und im Kongo gefeiert werden, befürchtet er, dass durch die Entstehung des neuen Staates "Süd-Sudan" nun eine Zersplitterung und weitergehende "Jugoslawisierung" des Rest-Sudan einsetzen könnte. Was also mag der Zweck solcher "ungewöhnlichen" Umdenk-Vorschläge sein?
Vielfach hat man den Eindruck, als habe sich der Autor einfach einer Instrumentalisierung des Optimismus bedient und sich dabei alle politischen Hotspots Afrikas vorgenommen, sich angesehen, wie diese von anderen durchaus allgemeingültig bewertet werden und dazu dann bewusst jeweils Gegenthesen aufgestellt - nicht um damit alternative Denkanstöße zu liefern, sondern um - nach der alten Journalisten-Weisheit "behaupte das Gegenteil von Allgemeingültigem und Du wirst beachtet" - Leserquote zu machen. Denn wer will schon, wie seit Jahrzehnten, immer wieder neue Katastrophen-Meldungen aus Afrika lesen, die Krieg, Staatszerfall und menschliches Elend zum Thema haben? Solche Rundumschläge sind derzeit wieder einmal im Trend, wie etwa die gerade von Hans Christoph Buch erschienene "Apokalypse Afrika oder Schiffbruch mit Zuschauern" (Eichborn Verlag). Man will endlich Positives hören, von neuen Perspektiven erfahren, Hoffnungsvolles erkennen und - greift nach "Afrika vor dem großen Sprung", nur um danach enttäuscht festzustellen, dass es doch nur ein kleiner Hüpfer in noch dazu ungewisse Richtung war.
Andreas Dittmann
Zitierweise:
Andreas Dittmann 2011: Rezension von Dominic Johnson: Afrika vor dem großen Sprung. Berlin. In: http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/1400-afrika
Weitere Besprechungen des Buches von Dominic Johnson:
Deutschlandradio Kultur
FAZ
SZ
TAZ-Blog von Dominic Johnson:
http://blogs.taz.de/kongo-echo/