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Kategorie: Rezensionen

Renate Mayntz: Über Governance. Institutionen und Prozesse politischer Regelung. Frankfurt am Main 2009. 171 S.

Governance ist zu einem Schlüsselbegriff gesellschaftspolitischer Debatten geworden und zusammen mit Schlagwörtern wie Prävention, Kreativität oder Nachhaltigkeit Teil des Vokabulars unserer Gegenwart. Für die Geographie ist Governance als „Gegenwartsbegriff" in zweifacher Weise relevant. Einerseits bezeichnet Governance eine bestimmte Weise, politische Regelung zu denken, die in den letzten Jahren breit rezipiert und für geographische Fragestellungen weiterentwickelt wurde.

Die Governancetheorie verspricht Übersicht zu verschaffen in einer Situation, in der traditionelle Politik- und Regierungskonzepte scheinbar nur noch Unübersichtlichkeiten wahrnehmen können. Andererseits ist Governance in der Humangeographie wie auch in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen gewissermaßen selbst zum „Regierungsprogramm" geworden. Es ist in vielen Bereichen kaum noch vorstellbar, Bachelor- und Masterstudiengänge zu entwickeln, Konferenzen zu organisieren, Forschungsvorhaben zu entwerfen, Förderung für Projekte zu beantragen etc., ohne Governance als zentrales Schlagwort ins Spiel zu bringen. Governance modifiziert den Sprachgebrauch und die Forschungsagenda, zirkuliert als unverzichtbares und dabei häufig auch recht unbestimmtes buzzword.

    Diese Unbestimmtheit ist nicht etwa in einem Mangel an theoretischer Ausdeutung begründet, sondern vielmehr in dem Pluralismus von Definitionen und Perspektiven, die sich hinter dem Governancebegriff verbergen. Sowohl angesichts der vielfältigen theoretisch-konzeptionellen Dimensionen als auch angesichts der vielen Forschungsanliegen, in denen Governance nun eine Schlüsselstellung einnimmt, bleibt die Frage akut, welche Perspektiven die Governancetheorie eigentlich genau eröffnet. Auch und gerade im Hinblick auf dezidiert nicht-normative Verwendungsweisen des Begriffs stellt sich die Frage, welches politische Wissen, welches Verständnis von Macht, welche Wertungen das Governancekonzept transportiert, welche Blindheiten es produziert und nicht zuletzt auch, welche Lösungs- und Verbesserungsvorschläge es in anwendungsorientierten Zusammenhängen nahelegt – kurz, welche Wirklichkeiten es schafft.

    Komplexe Antworten auf diese und ähnlich gelagerte Fragen entwickelt Renate Mayntz, die sich mit der theoretischen Konzeptualisierung von Steuerung schon lange vor der Emergenz des nunmehr allgegenwärtigen Governance-Paradigmas beschäftigt hat. Das vorliegende Buch versammelt neun Aufsätze der Autorin aus zwei Jahrzehnten Auseinandersetzung mit politischer Steuerung und Governance. Mayntz, eine der wichtigsten Theoretiker/-innen der Governanceforschung, stellt dem vorliegenden Band selbst die Anmerkung voraus, die begriffliche Dominanz von „Governance" in ihrer Arbeit sei vor allem auf den Umstand zurückzuführen, dass sie von anderen immer wieder „ausdrücklich aufgefordert wurde, über Governance zu sprechen oder zu schreiben" (S. 7, Hervorh. i.O.). Diese programmatisch formulierte Distanz von Mayntz zur Governancetheorie bestimmt als Grundhaltung alle Aufsätze. Sie ist die Voraussetzung für eine umfassende Reflexion der Reichweite, der Stärken und der blinden Flecken des governancetheoretischen Ansatzes. Die versammelten Aufsätze leisten dreierlei: Erstens bieten sie einen komplexen Nachvollzug der Entwicklung des governancetheoretischen Ansatzes in systematischer Abgrenzung zur älteren und verwandten Steuerungstheorie. Zum Zweiten werden einige zentrale perspektivische Verengungen und Unschärfen in den Annahmen der Governancetheorie herausgearbeitet. Und drittens legt die Autorin in mehreren Aufsätzen selbst Vorschläge vor, wie der governancetheoretische Ansatz in empirischen Analysen fruchtbar gemacht werden kann, wobei empirische Anwendungen und theoretische Überlegungen stets eng verknüpft werden. Die von Mayntz hierfür ausgewählten Politikfelder umfassen Tourismusindustrie, Telekommunikation und pharmazeutische Industrie, das Feld der Innovationspolitik und die Sicherheitspolitik, konkret die politischen Kontrollmöglichkeiten terroristischer Netzwerke.

    Die Mehrdeutigkeit des Begriffs Governance wird in den einzelnen Aufsätzen nicht aufgelöst, als Gesamteindruck sogar eher noch verstärkt. So geht etwa die weiteste Definition von Governance als „das Gesamt aller nebeneinander bestehenden Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte" (S. 46) auf Renate Mayntz selbst zurück, gleichzeitig bezeichnet Governance in den vorliegenden empirischen Aufsätzen der Autorin durchaus auch die historische Ablösung staatlicher Steuerung durch kooperative Regelungsweisen (S. 115). Als Soziologin ist Mayntz aber ohnehin nicht so sehr an technokratischen Begriffsbestimmungen gelegen, sondern vielmehr an einer sozialtheoretisch informierten Weiterentwicklung der Governanceforschung. Der Eindruck, der sich beim Lesen einstellt, ist insofern ein zweifacher – vieles wird noch komplexer, dank der analytischen Präzision der Autorin aber auch klarer. Gerade die Rekonstruktion der Herausentwicklung der Governanceforschung als eigenständige „substanzielle Theorie" (S. 42) und die Abgrenzung zum steuerungstheoretischen Ansatz bringt Licht ins Dunkel vieler feiner Unterschiede. Mayntz zeichnet die distinkten Implikationen der Begriffe Steuerung und Governance nach, zeigt die unterschiedlichen Pointen soziologischer und politikwissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit politischer Regelung auf, unterscheidet zwischen Ansätzen, in denen Akteurshandeln im Mittelpunkt steht, von solchen, in denen Steuerung als systemische Funktion gedacht wird und solchen, in denen zunehmend auf Prozesse der gesellschaftlichen Selbstregelung im „kooperativen Staat" fokussiert und der Begriff der Steuerung zugunsten von Governance aufgegeben wird.

    Die in mehreren Aufsätzen entfaltete Rekonstruktion der theoretisch-konzeptionellen Grundannahmen des Governance-Paradigmas ist die Basis, auf der Mayntz die Governancetheorie schließlich auch kritisch in Augenschein nehmen kann. Die wohl grundlegendste Kritik der Autorin entzündet sich am spezifischen Politikverständnis, das der Governancetheorie zugrunde liegt. Wie Mayntz überzeugend herausarbeitet, steht die dominante Konzeptualisierung des Politischen als Problemlösungsprozess nicht etwa nur für ein selektives Erkenntnisinteresse der Governancetheorie an bestimmten Aspekten politischer Prozesse, sie ist die entscheidende theoretische Schwäche des Ansatzes. Natürlich, so Mayntz, sei „ein selektives Erkenntnisinteresse an Problemlösung und ihren Voraussetzungen durchaus erlaubt, solange nicht ex definitione unterstellt wird, dass es in der politischen Wirklichkeit immer um die Lösung kollektiver Probleme und nicht – auch oder primär – um Machtgewinn oder Machterhalt geht" (S. 49, Hervorh. i.O.). Der funktionalistische Fehlschluss der Governanceforschung gründet sich in ihrem Unvermögen, Machtausübung auch als Sicherung von Herrschaftsinteressen konzeptualisieren zu können. Mayntz nennt an dieser Stelle die marxistische Klassentheorie und machtsoziologische Ansätze in der Tradition von Weber als Möglichkeiten, politische Handlungslogiken auch ganz anders zu interpretieren.

    Jenseits der so aufgespannten Pole – Ausübung politischer Macht als Problemlösung vs. Machterwerb und Machterhalt als Selbstzweck – könnten weitere machttheoretische Überlegungen die von Mayntz angestoßene Debatte bereichern. Insbesondere Foucaults Machtbegriff könnte an dieser Stelle die Entwicklung einer dritten Position ermöglichen, die zwischen Governancetheorie und herrschaftssoziologischen Ansätzen vermittelt. Im Anschluss an Foucault widmen sich die Gouvernementalitätsstudien ähnlich wie die Governanceforschung in den letzten Jahren ebenfalls dem Phänomen des Regierens in der Gegenwart. Weitreichende Analogien zwischen beiden Ansätzen, vor allem der Fokus auf Regieren jenseits hoheitlich-staatlicher Steuerung und der Befund einer zunehmenden Ununterscheidbarkeit von Steuerungssubjekten und -objekten, liegen auf der Hand. Ähnlich wie die Governanceforschung begreifen auch Gouvernementalitätsanalysen Regieren als Prozess der Problembearbeitung. Im Zentrum steht hier das Konzept der Problematisierung, das die Entstehung von Feldern politischer Regelung als Prozess des Benennens von Problemen, des Absteckens von Interventionsräumen und des Entwickelns von Interventionstechniken konzeptualisiert. Damit wird aber keinesfalls nahegelegt, Regieren bedeute nur die Lösung von Problemen. Die entscheidende Akzentverschiebung lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass Probleme im Prozess der Problematisierung überhaupt erst als zu bearbeitende Gegenstände hervorgebracht werden, aber im Verlauf der Geschichte strategisch unterschiedlich besetzt werden können. Aus dieser Perspektive kann dann auch in den Blick genommen werden, dass gerade das Scheitern von Versuchen der Problemlösung bestimmten Akteuren strategische Gewinne verschafft. Die Gouvernementalitätsstudien zeigen, wie sich Regierungspraktiken paradoxerweise auch in ihrem Scheitern verstetigen und sogar ausweiten können. Diese anti-funktionalistische bzw. strategische Perspektive kann die Umkämpftheit von Regierungsweisen sichtbar machen und so auch der Kritik derjenigen Rechnung tragen, die „nicht um diesen Preis regiert werden" wollen. Die Gouvernementalitätsstudien stehen damit klarerweise auch in der Tradition einer herrschafts- und machtkritischen Sozialforschung. Die weitere Definitionsarbeit am Machtbegriff wäre eine Möglichkeit, die Governanceforschung von ihrer impliziten „Koppelung an ein – wie auch immer gedachtes – Gemeinwohl" (S. 11) zu lösen. Möglicherweise wäre dies (optional)der reizvollste Ausgangspunkt für eine theoretische Debatte zwischen Governance- und Gouvernementalitätstheorie und sicher vielversprechender, als den governancetheoretischen Ansatz einfach mit so genannten „diskursiven Aspekten" zu ergänzen – eine Ergänzung, die
er auch gar nicht nötig hat. Dies zeigt eine Reihe von Arbeiten, die auf geteilte Deutungsschemata, Ideen und Narrative als Voraussetzungen für politische Regelung fokussierten (auch Mayntz selbst geht in einem der vorliegenden Aufsätze den unterschiedlichen Dimensionen der Idee des „Gemeinwohls" und ihrer Inbeschlagnahme in Governanceprozessen nach, S. 65-78).

    Aus der kritischen Reflexion der Governancetheorie ergibt sich eine Reihe von Herausforderungen. Folgen wir Mayntz, dann muss die heute verbreitete Analyse nicht-hierarchischer Formen des Regierens entweder explizit als selektive Untersuchung eines Teilbereichs politischer Regelung kenntlich gemacht werden, oder es müssen Untersuchungsdesigns entwickelt werden, die das Zusammenspiel dieser Formen von Regelung mit hoheitlich-hierarchischen Formen des Regierens erfassen können. Dabei gilt es wiederum, ein Machtverständnis zu verfolgen, dass ebenfalls entweder selektiv bleibt und lediglich auf Prozesse der Problemlösung fokussiert, diese aber explizit als Teilaspekt politischer Regelung ausweist, oder es muss ein Machtbegriff entwickelt werden, der Macht als soziale Beziehung in allen Formen von Regelungsprozessen sichtbar machen kann. Nur eine Governancetheorie, der dies gelänge, wäre in den Augen von Renate Mayntz eine wirklich adäquate theoretische Antwort auf die Unübersichtlichkeit der Gegenwart – „a governance theory of a very different kind from the one we started out with" (S. 24).
Nadine Marquardt

Geographische Zeitschrift, 98. Jg. 2010 · Heft 4 · Seite 241-243

 

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