Drucken
Kategorie: Rezensionen

Elke Hayashi-Mähner, Reinhold Ophüls-Kashima, Matthias Pfeifer und Natalie Rudolf (Hg.): Tokyo: Konstruktionen einer Metropole – sozial, politisch, kulturell, historisch. München 2008. 294 S.

Bei der OAG, der Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens, in deren Schriftenreihe der vorliegende Band erschienen ist, handelt es sich um eine bereits 1873, also nur wenige Jahre nach der Öffnung Japans in Tokyo von deutschen Kaufleuten, Gelehrten und Diplomaten gegründete wissenschaftliche Vereinigung, deren Zweck es ist, insbesondere Japan zu erforschen und Kenntnisse darüber zu verbreiten.

Der Band fasst Beiträge eines Symposiums zusammen, das 2005 in den Räumlichkeiten der OAG in Tokyo stattfand. Er gliedert sich im Wesentlichen in drei Teile: Die ersten fünf Aufsätze beschäftigen sich mit sozialen und politischen „Realien" im weitesten Sinne, wobei sich der Bogen von einer Darstellung des Verhältnisses zwischen gewählten Politikern und der Bürokratie in der Präfektur Tokyo über die Situation von Tagelöhnern bis zu einer Skizze der Landwirtschaft im inneren Stadtgebiet spannt. Der zweite Teil mit drei Abhandlungen hat in literarischen bzw. essayistischen Werken vermittelte Vorstellungen von Tokyo zum Thema, während den dritten Teil zwei Beiträge zu historischen Aspekten bilden. Was erstaunlicherweise fehlt, sind Abhandlungen zur ökonomischen Bedeutung der Hauptstadt eines Landes, das immerhin – und immer noch – die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Erde darstellt. Analysen zur erdrückenden wirtschaftlichen Dominanz Tokyos gegenüber anderen japanischen Städten, aber auch zur internationalen Rolle als eine der führenden Global Cities hätten unbedingt noch hinzugefügt werden müssen, um das Bild einigermaßen abzurunden. Dass dies nicht geschah, stellt ein erstes großes Defizit des vorliegenden Bandes dar.

Ein weiteres Manko ist eine gewisse „laisser faire"-Haltung auf Seiten der Herausgeber, deren editorische Tätigkeit sich anscheinend darauf begrenzt hat, die verschiedenen Aufsätze in die oben genannten drei Teile einzuordnen. Das „Vorwort der Herausgeber" beschränkt sich auf zwei Seiten, auf denen nicht nur nicht versucht wird, in die Thematik einzuführen oder Querbezüge zwischen den einzelnen Beiträgen herzustellen, sondern dafür u.a. explizit dargelegt ist, dass man darauf verzichtet habe, die verschiedenen Autoren auf eine einheitliche Tokyo-Terminologie festzulegen (S. 5). So werden denn auch die 23 Stadtbezirke (ku) Tokyos, die aufgrund ihres einer selbständigen Stadt fast gleichgestellten Status im Japanischen tokubetsu ku (unproblematisch mit „Sonder-Stadtbezirke" übersetzbar) genannt werden, in einigen Beiträgen davon abweichend auch mit der Wortmissbildung „ku-Stadt" belegt.

Der verwendete Begriff „Konstruktion" im Titel des Bandes suggeriert einen postmodern-strukturalistischen Grundansatz, dem alle Beiträge verpflichtet sind, doch um Konstruktion im Sinne einer „Erfindung" oder auch Stereotypisierung der japanischen Hauptstadt bzw. einzelner ihrer Stadtteile geht es nur in den Abhandlungen von Matthias Pfeifer zu „Heimat Shitamachi – Bokuto kidan (Nagai Kafu) und Terajima-cho kidan (Takita Yu) als Orte der Erinnerung" und von Reinold Ophüls-Kashima über „Dialektik, Text, Dramaturgie: Paradigmenwechsel im Tokyo-Diskurs am Beispiel von Isoda Koichi und Yoshimi Shunya". Der interessierte Leser kann hier einiges zu den geistig-literarischen Ursprüngen heute gängiger Raumklischees erfahren, wie etwa: Yamanote (Südwesten der Innenstadt) = westlich-modern gegenüber Shitamachi (Nordosten der Innenstadt) = japanisch-zurückgeblieben; oder auch: Shinjuku (Nebenzentrum im Westen) = egalitär-progressiv (in den 1960er Jahren) gegenüber Shibuya (Nebenzentrum im Südwesten) = konsumgeprägt-seicht. Beide Aufsätze verfügen auch als einzige in der ganzen Sammlung über eine klar theoretisch fundierte Fragestellung: Ersterer geht von Pierre Noras Konzept der „lieux de mémoire" (Erinnerungsorte) aus, während letzterer auf Basis eines diskurstheoretischen Vorgehens der zunehmenden Relevanz des sogenannten „linguistic turn" in japanischen Werken zu Tokyo nachspürt.

Bei fast allen übrigen Beiträgen handelt es sich demgegenüber um weitgehend theoriefreie Beschreibungen einzelner Aspekte der japanischen Hauptstadt, die in ihrer Mehrzahl streng wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen, es vielleicht auch gar nicht wollen. Symptomatisch hier vor allem der Aufsatz von Noriko Kikuma über die „Landwirtschaft in den 23 ku Tokyos". Die Autorin, eine ausgebildete Philosophin und Historikerin, bietet hierin u.a. auf Basis der Aussagen ihrer in der Landwirtschaft tätigen Eltern eine recht heterogen gefügte Sammlung verschiedener Fakten zur verbliebenen Landwirtschaft im Tokyoter Innenstadtbereich. Terminologisch unsicher spricht sie von rund 2.000 „Bauernhöfen", die es in Tokyo noch geben soll, differenziert aber nicht weiter nach Vollerwerbs- und Nebenerwerbsbetrieben. Als Grund für die Persistenz der Landwirtschaft insbesondere in den äußeren Stadtbezirken gibt sie eine hohe Bodenfruchtbarkeit an (S. 120), während der weitaus naheliegendere Grund, nämlich eine gegenüber den inneren Stadtbezirken weniger starke Raumkonkurrenz durch andere Nutzungsformen, vollkommen unerwähnt bleibt.

Vergleichsweise lehrreich ist dagegen der Beitrag von Oliver Mayer über „Verkehr in Tokyo – Perspektiven für die Zukunft". Anders als die meisten anderen Darstellungen über dieses Thema in einer westlichen Sprache bleibt dieser Beitrag nicht stehen bei der Wiedergabe altbekannter Fakten wie dramatisch überfüllte U- und S-Bahnlinien während der morgendlichen rush hour und die gerade dabei zutage tretende Effizienz des ÖPNV, dem es tagtäglich gelingt, etwa 3,5 Millionen Berufs- und Ausbildungspendler aus dem suburbanen Raum in die Innenstadt zu bekommen. Vielmehr werden auch weniger geläufige Schattenseiten analysiert, wie ein immer noch fehlender Verkehrsverbund selbst für den Innenstadtbereich von Tokyo oder auch die einseitige Orientierung des ÖPNV am Berufspendlerverkehr zu Lasten anderer Reisezwecke und der Bedürfnisse älterer Menschen mit der Folge nichtangebundener Einkaufszentren, eines unterentwickelten Busliniennetzes und eines Rückstandes beim Ausbau barrierefreier Haltestellen. Ein insgesamt informativer Beitrag, wenn man sich auch eine etwas stärkere Berücksichtigung des Individualverkehrs gewünscht hätte.

Alles in allem jedoch bietet der vorliegende Band eine disparate Sammlung von Beiträgen, die nur zum Teil wissenschaftlichen Ansprüchen genügen und zudem zur Hälfte Bereiche behandeln, die für Geographen eher von randlichem Interesse sein dürften. Zur Anschaffung kann man ihn daher nicht empfehlen.

Ralph Lützeler

Quelle: Erdkunde, 64. Jahrgang, 2010, Heft 1, S. 73-75